Die neue Stärke der „Vertriebenen“ in der öffentlichen Debatte der Bundesrepublik ist lediglich das Spiegelbild neuer deutscher Vorstöße nach Osteuropa. Das mediale Gezeter um Benes und Bierut dient auf der einen Seite der Neuschreibung und Revidierung der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges auf rein moralischer Ebene. Auf der anderen Seite geht es jedoch ebenso um die Rückerstattung ehemals deutschen Eigentums sowie um die rechtlichen Bedingungen deutscher Ansiedlung in Osteuropa.
„Wenn Verbände versuchen, aus dieser Geschichte [der Vertreibung] moralische oder materielle Gegenforderungen abzuleiten, dann hat man die Lehren aus der Geschichte nicht gesehen. Dann muss man aufpassen, wo diese Entwicklung hintreibt.“
Salomon Korn, Präsidiumsmitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland
Neue deutsche Welle
„Von den Balkankriegen 1912/13 über die Ermordung und Vertreibung der ost-anatolischen Armenier; von der verbrecherischen, so genannten „Umvolkungspolitik“ Hitlers über die Vertreibung von Polen, Ukrainern, Finnen, Ungarn, Weißrussen, und schließlich von 12 Millionen Deutschen nach Kriegsende, was uns bis heute unmittelbar berührt; bis hin zu den Flüchtlingsströmen auf dem indischen Subkontinent, aus Palästina, oder, in jüngerer Vergangenheit, aus Ruanda, Burundi, dem Kongo oder dem Kosovo zieht sich in einem sehr weiten Bogen eine Blutspur des Unrechts, Menschen aus ihrer Heimat zu jagen. [...] Vertreibung, das hat die zivilisierte Völkergemeinschaft inzwischen mehrfach betont, lässt sich niemals rechtfertigen. Vertreibung, daran kann es keinen Zweifel geben, ist stets ein Unrecht.“
Mit diesen Worten leitete der amtierende Bundeskanzler Gerhard Schröder in einer Rede zum „Tag der Heimat“ des Bundes der Vertriebenen am 3. September 2000 einen politischen Paradigmenwechsel ein. Die bundesdeutsche Sozialdemokratie stand für Jahrzehnte in dem berechtigten Ruf, die Vertriebenenverbände der Bundesrepublik zu ignorieren und deren Forderungen kategorisch abzulehnen. Besonders in den 70er Jahren kam es im Zuge der „Entspannungspolitik“ der Regierung Brandt zu aggressiven politischen Kontroversen zwischen den Vertriebenenverbänden und der SPD. In der Tat standen die konservativen Kreise von CDU/CSU den Vertriebenenverbänden immer näher als die Sozialdemokratie. Für CDU/CSU waren die „Heimatvertriebenen“ immer die klassischen StichwortgeberInnen und die gleichzeitige moralische Legitimation revisionistischer Politik. Sie waren als „deutsche Opfer des Zweiten Weltkriegs“ das moralische Faustpfand einer ansonsten moralisch diskreditierten Nation. Damit sie diese Funktion erfüllen konnten, wurden sie von jeder CDU/CSU-Regierung mit prächtigen Geldzuwendungen gestützt und das Überleben der „Heimatvertriebenen“ als politischer Faktor rechtlich abgesichert: Heimatvertrieben sind in der Bundesrepublik all jene, die selbst aus ehemaligen deutschen Gebieten ausgesiedelt wurden sowie deren Kinder, Enkel, Urenkel etc. Als Vertriebene gelten aus diesem Grund in der Bundesrepublik heute insgesamt 12,5 Millionen Menschen.
Obwohl die Vertriebenenverbände enorme Mitgliederzahlen aufzuweisen haben (allein die Sudetendeutsche Landsmannschaft, eine von insgesamt 21 Landsmannschaften, besitzt 250.000 Mitglieder), besaßen sie in der Öffentlichkeit, gemessen an ihrer Größe, keine sonderlich große Bedeutung. Geändert hat sich dies erst mit dem Regierungsantritt von Rot-Grün im Jahr 1998. Nun begannen auch SozialdemokratInnen die „Heimatvertriebenen“ als für ihre Politik nützlich zu entdecken. Als Wendepunkt kann man durchaus Gerhard Schröders eingangs erwähnte Rede zum Tag der Heimat im Jahr 2000 bezeichnen. Es war die erste Rede eines sozialdemokratischen Bundeskanzlers auf jener Veranstaltung des Bundes der Vertriebenen. Den eigentlichen Anfang machte jedoch bereits Otto Schily im Jahre 1999 mit seiner Rede im Berliner Dom zum „Tag der deutschen Heimatvertriebenen“, in welcher er die Aussiedlungen der Deutschen als „Vertreibungsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnete. Zudem bedauerte er, dass „die politische Linke[...] in der Vergangenheit [...] zeitweise über die Vertreibungsverbrechen, über das millionenfache Leid, das den Vertriebenen zugefügt wurde, hinweggesehen“ hat. Dank dieser Worte würdigt ihn Erika Steinbach, Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, als eigentlichen „Türöffner für dieses Umdenken“.
Obwohl gerade zwei Jahre seit der Rede Schröders vergangen sind, hat sich das öffentliche Bild grundlegend gewandelt. Was 2000 noch als sozialdemokratischer Tabubruch galt, ist heutzutage bereits gesellschaftliche Normalität. Das „Leid der deutschen Vertriebenen“ ist im Jahr 2002 in aller Munde und beherrscht die öffentliche Debatte. Ende letzten Jahres liefen im ZDF eine fünfteilige und in der ARD eine dreiteilige Serie zu den deutschen „Vertriebenen“, der Spiegel veröffentlichte seit dem März 2002 eine wochenlange Serie unter dem Titel „Die Flucht“ und schließlich gab auch Günter Grass mit seinem neusten Roman „Im Krebsgang“ den „Vertriebenen“ seine literarische Unterstützung. Während Gerhard Schröder noch im Jahre 2000 den Mitgliedern des Bundes der Vertriebenen zu verstehen gab, dass die Bundesregierung ein Zentrum gegen Vertreibung nicht unterstützen würde, sieht jetzt ein Antrag der rot-grünen Regierungskoalition vom 16. Mai 2002 im Bundestag die Errichtung eines solchen Zentrums bereits vor. Über die Notwendigkeit jenes Zentrums besteht im Bundestag mittlerweile nahezu ein Konsens.
In Anbetracht dieses massiven innenpolitischen Schubs fand Erika Steinbach auf der diesjährigen Bundesversammlung des Bundes der Vertriebenen am 29. Juni kaum noch Platz für die sonst üblichen scharfen Worte der Kritik und erging sich stattdessen in einer Lobrede auf die neuen bundesdeutschen Verhältnisse: „Bemerkenswertes können wir heute feststellen. Jeder ernst zu nehmende Politiker in Deutschland bezeichnet die Vertreibung inzwischen als unentschuldbar. Die politische Linke, die mehrere Jahrzehnte lang über das Schicksal von Millionen Menschen herzlos hinweggestiegen ist, hat sich in Teilen besonnen. Augenfälligster Beleg dafür ist die Wandlung von Günter Grass. Auch die Medien haben sich des Themas Vertreibung in breitem Umfang angenommen. Nicht nur der Vertreibung der Kosovo-Albaner oder Tschetschenen, sondern tatsächlich auch der Vertreibung der Deutschen.“
Unter rot-grüner Federführung ist im Jahre 2002 die bis dahin in der gesellschaftlichen Marginalität vegetierende Bewegung der „Heimatvertriebenen“ zu einem der wichtigsten Faktoren bundesdeutscher Politik geworden.
Ein „Fall Benes“?
Neben der Thematisierung „deutschen Leidens“ in der Öffentlichkeit trat im letzten halben Jahr vor allem die Diskussion um die sogenannten „Benes-Dekrete“ in den Vordergrund der Auseinandersetzung um Vertreibung und „Vertriebene“. Diese Dekrete wurden in den Jahren 1940-1945 von der tschechischen Exilregierung in London erarbeitet und schließlich durch deren Präsidenten Edvard Benes im Jahre 1946 erlassen. Diese umfangreichen Dekrete regelten die rechtlichen Grundlagen der neu entstehenden tschechoslowakischen Republik. Zudem verfügten sie die Ausweisung der sich der Kollaboration mit den Nazis schuldig gemachten ca. 2,5 Millionen „Volksdeutschen“ sowie deren Enteignung.
Dass es dabei mitnichten die Falschen getroffen hat, zeigt ein Blick auf die Zeit vor und während des Krieges. In der letzten freien Wahl des Jahres 1938 stimmten 91% der Sudetendeutschen für die Henlein-Faschisten. Und auch während des Krieges gab es im gesamten Deutschen Reich nirgendwo so viele NSDAP-Mitglieder wie im „Reichsgau Sudetenland“. Die Sudetendeutschen arbeiteten so auf die gezielte Zerstörung der Tschechoslowakischen Republik hin und beteiligten sich aktiv an deren Zerschlagung sowie an dem Vernichtungsfeldzug des nationalsozialistischen Deutschlands, dem u.a. ca. eine Million Tschechinnen und Tschechen zum Opfer fielen.
Angesichts dieser Tatsachen ist es nur zu verständlich, wenn Milos Zeman, letzter tschechischer Ministerpräsident, die Sudetendeutschen als die „fünfte Kolonne Hitlers“ bezeichnete, welche danach trachtete „die Tschechoslowakei als einzige Insel der Demokratie in Mitteleuropa zu zerstören“. Auf ein derartiges Verbrechen, so betont Zeman, stand dazumal die Todesstrafe. Mit der Ausweisung aus der Tschechoslowakei seien die Sudetendeutschen demnach glimpflich davongekommen. Zudem hätte man den Deutschen „einen Wunsch erfüllt. [...] Sie wollten ‚Heim ins Reich’ – und dahin gingen sie auch.“
Die Ausweisung der ca. 2,5 Millionen Sudetendeutschen (Deutsche AntifaschistInnen waren im Übrigen davon ausgenommen) war jedoch keinesfalls das Werk eines einzelnen Präsidenten, wie die Bezeichnung „Benes-Dekrete“ hierzulande nahe legt. Die Dekrete, welche die Aussiedlung festlegen, sind wesentlich unter der Federführung der Alliierten entstanden. Diese sahen in der Ausweisung von Deutschen aus den Staaten Osteuropas eine bedeutende Möglichkeit künftige Konflikte und Kriege zu vermeiden. Genau aus diesem Grund sind nicht nur die „Benes-Dekrete“ von alliierter Seite mitverfasst worden, sondern ist auch im Potsdamer Abkommen der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges im Kapitel XII „die geregelte Überführung der deutschen Bevölkerung“ aus Polen der Tschechoslowakei und Ungarn nach Deutschland festgelegt. Angesichts dessen dürfte es eigentlich keinen Aufschrei wert sein, wenn Vladimir Spidla, seit Mitte Juli Nachfolger Milos Zemans als tschechischer Ministerpräsident, in der Süddeutschen Zeitung vom 18. Mai 2002 den „Abschub der deutschen Bevölkerung“ als „einer der Quellen des künftigen Friedens“ bezeichnete.
Neue deutsche Härte
War es aber doch, denn in Deutschland ist man mittlerweile der Auffassung, dass die Dekrete abgeschafft werden müssen. Begleitet von einer medialen Offensive bildet sich auf politischer Ebene eine unheilvolle Koalition zur Revidierung der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges. Für die Sudetendeutsche Landsmannschaft ist die Sachlage eigentlich klar: Die Dekrete müssen aufgehoben, das Eigentum zurückerstattet, tschechische „Kriegsverbrecher“ bestraft werden und die Tschechische Republik hat sich bei den „Opfern der Vertreibung“ zu entschuldigen.
Die Bedeutung der Vertriebenenverbände ist jedoch wie bereits erwähnt nicht unbedingt eine zentrale, viel entscheidender ist, dass neben diesen, die jahrzehntelange Schutzmacht der Vertriebenenverbände, die CSU, durch ihren Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber neues politisches Gewicht erhält. Während mit der Kohl/Kinkel-Regierung bis 1998 eine Revidierung der „Benes-Dekrete“ nicht zu machen war (s.u.), ist für Stoiber klar, dass die „Benes-Dekrete“ abgeschafft werden müssen. Erstmals schaffte es der offizielle „Schirmherr der Sudetendeutschen Landsmannschaft“ Edmund Stoiber das Thema „Benes-Dekrete“ in das Wahlprogramm der CSU zu hieven. Als allgemeines Kampfmittel hierfür gilt heute der geplante EU-Betritt Tschechiens im Jahre 2004. Stoiber & Co. wollen nun die Aufhebung der Dekrete zu einer Voraussetzung dieses EU-Beitritts machen. Im Zuge der Beitrittsverhandlungen soll also Tschechien von deutscher Seite zu einer Aufhebung der Dekrete mit all seinen Konsequenzen gezwungen werden. Um dies zu erreichen werden die Dekrete als Relikte einer düsteren Zeit diffamiert, die mit dem modernen europäischen Wertekanon nicht vereinbar wären. Auf dem Sudetendeutschen Tag am 18. Mai betonte daher Stoiber: „Wer im Jahr 2002 in Europa Vertreibung und Entrechtung verteidigt, die über 57 Jahre zurückliegen, der muss sich von allen Europäern fragen lassen, wie europatauglich er ist.“. Auch die Landesregierungen der Anrainer Bayern und Baden-Württemberg schlagen mittlerweile in die gleiche Kerbe. Der Ministerpräsident Baden-Württembergs, Erwin Teufel (CDU), erwartet „ein Wort der Versöhnung und einen Akt der Distanzierung“ von Tschechien. Der bayerische Staatsminister Erwin Huber (CSU) ergänzt: „Die EU ist eine Wertegemeinschaft. Elemente der Vergangenheit, die Vertreibungen und Verbrechen gegen die Menschenrechte rechtfertigen, haben in dieser Wertegemeinschaft keinen Platz.“ Während also auf der Rechten massive Geschütze aufgefahren werden, verhält sich die rot-grüne Bundesregierung weitestgehend passiv. Ihr scheint die aggressive Rhetorik der RevisionistInnen nicht zu liegen, ohne jedoch deren Anliegen diskreditieren zu wollen. So haben es deren VertreterInnen längst aufgegeben, gegen die antitschechische Mobilmachung in der deutschen Gesellschaft anzugehen, sondern lassen die ProtagonistInnen einer solchen vielmehr in einer beredeten Schweigsamkeit agieren. Gleichwohl werden von einzelnen AkteurInnen die Anliegen der „Vertriebenen“ zunehmend unterstützt. Dass die Aussiedlung der Deutschen aus dem Osten ein „Verbrechen“ gewesen sei, ein „nicht zu rechtfertigendes Unrecht“, hat die Führungsriege der Bundesregierung, Gerhard Schröder, Joseph Fischer und Otto Schily, einhellig betont. Dass daraus die Annullierung der „Benes-Dekrete“ folgen müsse, hat nun Otto Schily als erstes Mitglied der Bundesregierung auf dem Sudetendeutschen Tag am 18. Mai 2002 gefordert. Er vertrete die Ansicht, dass „sich die tschechische Seite aber auch entschließen [sollte], die Benes-Dekrete aufzuheben und auf diese Weise einen Schlussstreich zu ziehen und Klarheit zu schaffen.“
Damit ist ein bundesdeutscher Grundkonsens gebrochen worden, der in der deutsch-tschechischen Erklärung des Jahres 1997 verankert wurde, welche dazumal zwischen Helmut Kohl und Vaclav Klaus ausgehandelt worden ist. Dort heißt es, dass „die tschechische Seite bedauert, daß durch die nach dem Kriegsende erfolgte Vertreibung sowie zwangsweise Aussiedlung der Sudetendeutschen aus der damaligen Tschechoslowakei, die Enteignung und Ausbürgerung unschuldigen Menschen viel Leid und Unrecht zugefügt wurde.“ Beide stellten fest, dass „jede Seite ihrer Rechtsordnung verpflichtet bleibt und respektiert, daß die andere Seite eine andere Rechtsauffassung hat“ und damit „das begangene Unrecht der Vergangenheit angehört.“ Während von tschechischer Seit mit Sicherheit keine Revidierung der Erklärung vorgenommen wurde, kann man dies von deutscher Seite jedoch nicht mehr behaupten. Das also mehr als gespannte Verhältnis hat schließlich Schröder versucht, noch einmal zu verschärfen, indem er seinen für März diesen Jahres in Prag geplanten Besuch absagte, solange Zeman seine Äußerungen über die Sudetendeutschen als „fünfte Kolonne Hitlers“ nicht zurücknehme.
Die ursprünglich bilaterale Diskussion weitet sich indessen immer mehr aus. Neben Deutschland fordern nun auch Österreich und Ungarn die Aufhebung der Dekrete. Die österreichische Außenministerin Benita Ferrero-Waldner verkündete: „Das Problem der Benes-Dekrete muss noch vor dem EU-Beitritt Tschechiens gelöst werden.“ In dieser Ansicht wird sie vom österreichischen Bundeskanzler Wolfgang Schüssel unterstützt. Und auch der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban vertritt die Ansicht, dass die Dekrete noch vor dem EU-Beitritt Tschechiens für nichtig erklärt werden müssen. Für diese Unterstützung stellte Edmund Stoiber Ungarn eine vorzeitige Aufnahme in die EU in Aussicht.
Die Unterzeichner-Staaten des Potsdamer Abkommens hingegen lehnen die Aufhebung der Dekrete ab. Der russische Präsident Putin sprach sich gegen die Versuche aus, „den Ausgang des Zweiten Weltkriegs zu revidieren und die in diesem Zusammenhang erlassenen Gesetze in Frage zu stellen.“ Die Ansicht, dass der Ausgang des Zweiten Weltkriegs nicht revidierbar ist und das Potsdamer Abkommen und damit auch die „Benes-Dekrete“ nicht antastbar seien wird von Tony Blair ebenso wie vom amerikanischen Außenministerium vertreten. Die deutsche Tageszeitung Die Welt fühlte sich daraufhin als erneutes Opfer einer tschechischen Intrige und alliierter Aggression. „Die Siegermächte [...] sagten artig das, was die tschechische Führung von ihnen hören wollte. Weigern konnten sie sich auch schlecht, hatte doch Prag schon gejammert, es fühle sich von den Großmächten allein gelassen wie die Tschechoslowakei vor dem Münchner Abkommen 1938.“
Wenn auch hier noch vom Erfolg verschont, schaffte es Deutschland immerhin, das Thema „Benes-Dekrete“ auf die EU-Ebene zu ziehen. Der Bundesvorsitzende der Sudentendeutschen Landsmannschaft Bernd Posselt sitzt seit 1994 für die CSU im Europäischen Parlament und versucht dort, die Interessen der „Vertriebenen“ zu artikulieren. Bereits im Mai 2001 erreichte er, dass mit dem Beitritt der Tschechischen Republik zur EU sofort das Niederlassungsrecht zu gelten habe, mit dem es für Deutsche einfach wird, sich in den alten deutschen Gebieten neu anzusiedeln. Auf Drängen Deutschlands und Österreichs wurde die bilaterale Kontroverse um die „Benes-Dekrete“ im Mai 2002 zur europäischen Sache erklärt. Die EU-Kommission zum Beitritt Tschechiens sollte nun die Vereinbarkeit der „Benes-Dekrete“ mit dem europäischen Recht prüfen.
Als skandalös ist die Entscheidung zu betrachten, Bernd Posselt im Februar 2002 zum Vizepräsidenten des EU-Ausschusses „Europäisches Parlament – Tschechisches Parlament“, welcher die Beitrittsverhandlungen Tschechiens betreut, zu berufen. Posselt ist nicht nur Mitglied der deutsch-völkischen Paneuropa-Union, sondern hat bereits im Jahre 1994 in seinem Buch „Sturmzeichen“ die Forderung entwickelt, das „Sudetenland“ unter deutsche und tschechische Kontrolle bzw. vollständig unter EU-Kontrolle zu stellen. Ganz im Sinne der völkischen Parzellierung Europas soll das „Sudetenland“ aus dem tschechischen Staat gelöst werden. Für Posselt ist die Unvereinbarkeit der „Benes-Dekrete“ mit EU-Recht eine Selbstverständlichkeit, ja die Dekrete besäßen gar eine „rassistische Wurzel“. Und so fügt er an: „Solcher Ungeist darf nicht in die Europäische Union eingeschleppt werden.“
Unser Hitler – Euer Hitler
Der neue offensive Umgang mit den „Benes-Dekreten“ und damit mit der deutschen Geschichte wird propagandistisch flankiert durch die bundesdeutsche Medienlandschaft. Im Zentrum der publizistischen Welle steht der Versuch, nach Jahrzehnten der Zurückhaltung endlich eine deutsche Opfergeschichte schreiben zu können. Das Jahr 1945 wird dabei als Ausgangspunkt der neuen Zeit gesetzt, an deren Anfang also die „Verbrechen der Polen, Serben, Slowenen, Tschechen etc.“ an den Deutschen standen. Mit markigen Worten wird dabei nicht geschont und die „Vertreibungsverbrechen“ auch mal eben auf die gleiche Stufe mit dem Vernichtungskrieg des nationalsozialistischen Deutschlands gestellt. Die Süddeutsche Zeitung konstatierte Ende 2001 infolge der Diskussionen in Polen um die Vertreibung der Deutschen hämisch den „Abschied vom polnischen Mythos, in der Geschichte immer nur unschuldiges Opfer, nie aber Täter gewesen zu sein.“ Und auch der Spiegel machte in seiner Serie „Die Flucht“ bitteren Ernst mit der Neuinterpretation der Geschichte. In einer unglaublichen Dreistigkeit wird der Krieg Nazideutschlands zum Krieg Hitlers gegen Juden und Deutsche gleichermaßen verklärt: „Jahrhundertlang bildeten Deutsche und Juden die wohl bedeutendsten Minderheiten in Osteuropa. Doch Hitler ließ erst die Juden ermorden; der von ihm angezettelte Krieg führte dann auch die deutsche Welt ins Chaos.“ Als nächstes wird die „Vertreibung der Deutschen“, ungeachtet des deutschen Vernichtungskriegs, als größte Katastrophe seit dem 30-jährigen Krieg erklärt: „Was über die Deutschen im Osten hereingebrochen war, hatte es tatsächlich seit dem Frieden von Münster und Osnabrück 1648 in Mitteleuropa nicht mehr gegeben.“ Und schlussendlich hätte sich „im vierten Jahr des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion [gezeigt], dass aus einem Volk der Täter ein Volk der Opfer wurde.“
Die Aussage, dass die Tschechen am Ende auch keinen Deut besser seien als die Nazis, ist die logische Konsequenz solcher Thesen, vorgetragen einmal mehr vom Vorsitzenden des Verfassungs- und Rechtsausschusses des Sächsischen Landtags Volker Schimpf (CDU), welcher im Landtag die „Benes-Dekrete“ mit den Nürnberger Gesetzen verglich und forderte, dass der „Ungeist der Hitler und Stalin, Benes und Bierut das zusammenwachsende Europa nicht vergiften“ dürfe.
Dass der Angriff auf die „Benes-Dekrete“ gleichzeitig ein Angriff auf das Potsdamer Abkommen und damit ein Angriff auf die Nachkriegsordnung darstellt, ist in Deutschland durchaus bekannt. Es ist hierzulande jedoch kein Problem, denn „im Unterschied zu Polen und der Tschechoslowakei hat Deutschland die Potsdamer Beschlüsse niemals als bindende Rechtsgrundlage für die Nachkriegsordnung akzeptiert.“ (Berliner Zeitung, 12.03.99). Es geht also in der derzeitigen Debatte ganz wesentlich um die Tatsache, die Rechtsgrundlage der Nachkriegsordnung zugunsten deutscher Interessen zu revidieren. Die Wochenzeitung Freitag kommentiert dieses Ansinnen treffend: „Die Beschlüsse von Potsdam wie alle anderen Gesetze des Alliierten Kontrollrates traten in Kraft mit allen Rechtsfolgen unabhängig davon, was Deutsche über sie meinten. Das nach einem halben Jahrhundert revidieren zu wollen – welche nicht nur rechtliche, sondern auch historisch katastrophale Illusion.“
Heimkehr
Da es sich bei den „Benes-Dekreten“ um die basale Rechtsgrundlage des tschechischen Staates handelt, kann einer Aufhebung aus tschechischer Sicht unter keinen Umständen zugestimmt werden. Nicht aufgrund einer tschechischen „Volksgemeinschaft“ (FAZ), die beschworen werden müsse, sondern aufgrund dieser Selbstverständlichkeit, dass die „Benes-Dekrete“ nicht aufgehoben werden können, existiert in der tschechischen Bevölkerung und der Politik ein übergreifender Konsens zur Bewahrung ebenjener. Am 24. April schließlich verabschiedete das tschechische Parlament eine Erklärung, nach der die Unantastbarkeit der Dekrete festgelegt wurde.
Aus dem nationalen Konsens, so wird hierzulande gern vermerkt, trete einzig eine kritische tschechische Presse hervor, welche die Ereignisse der Vertreibung versuche, unideologisch aufzuarbeiten. Man kann es auch anders ausdrücken: Nahezu die gesamte Medienlandschaft der Tschechischen Republik gehört deutschen Konzernen. Und deutsche Interessen werden zusehends im Ausland artikuliert und schließlich auch durchgesetzt.
Kritische tschechische PublizistInnen, welche nicht auf der Gehaltsliste deutscher Medienkonzerne stehen, sehen jedoch derzeit keine „nationale Hysterie“ (Arnulf Baring) in Tschechien sondern vielmehr die drohende Destabilisierung ganz Osteuropas. Diese Destabilisierung ist eines der hehren Ziele deutscher Außenpolitik, welche sich hinter der populistischen Rhetorik um die „Benes-Dekrete“ verbirgt. Im Sinne deutscher Volkstumspolitik soll der Osten Europa parzelliert werden, um sich auf die Regionen einen unmittelbaren Einfluss zu sichern. Entscheidend hierfür ist die wirtschaftliche Ansiedlung sowie die Stärkung des deutschen Volkstums im Ausland.
Während hierzulande die wesentliche Frage nach der Rückerstattung des Eigentums der Sudetendeutschen in der Tschechischen Republik hinter die Frage nach moralischer Schuld und Verantwortung zurücktritt, wird in Tschechien dieses eigentliche Ansinnen der Debatte viel klarer und deutlicher formuliert. Drängt man in Deutschland vordergründig immer wieder auf ein formales Schuldbekenntnis der tschechischen Seite, ist von dieser zu vernehmen, dass es kein Schuldbekenntnis geben wird und auch keine Entschädigungen oder Rückerstattungen. Beispielhaft hierfür steht die Aussage des Tschechischen Staatspräsidenten Vaclav Havel, der nicht glaubt, „dass es überhaupt denkbar ist, irgendwelche Eigentumsforderungen oder Restitutionen zu erwägen.“
Dass es der deutschen Seite aber genau darum geht, zeigt die Debatte der letzten Wochen und Monate. Für die PopulistInnen der Vertriebenenverbände sowie der CSU ist die Lage seit Jahren klar: Das Sudetenland muss regermanisiert, das Eigentum der Sudetendeutschen also rückerstattet werden. Es gehört zu den satzungsgemäß verankerten Zielen der Sudetendeutschen Landsmannschaft, „die Rückgabe des konfisziertren Vermögens auf der Basis einer gerechten Entschädigung zu vertreten.“ Auf dem diesjährigen Sudetendeutschen Tag forderte ebenso der Präsident des bayerischen Landtags, Johann Böhm, jetzt mit der Rückgabe zu beginnen. „Da liegen noch viele Flächen, die einst Deutschen gehörten und die jetzt immer noch im Eigentum des tschechischen Staates sind.“
Indessen sind derartige Forderungen derzeit schwer durchzusetzen. Die tschechische Seite weigert sich kategorisch, die Dekrete zu annullieren und wird hierin von Seite der ehemaligen Alliierten des Zweiten Weltkriegs unterstützt. So scheint es auch der Bundesregierung nicht opportun, die Forderung nach der Rückerstattung ehemals deutschen Eigentums in Tschechien zu erheben. Vielmehr versucht sie, der tschechischen Seite ein Schuldbekenntnis abzuringen, das formal nicht mit Rückerstattungen oder Entschädigungen gekoppelt ist. Otto Schily betonte in seiner Rede zum Sudetendeutschen Tag am 18.05.02, dass die tschechische Seite zwar die Dekrete aufheben solle, jedoch von deutscher Seite „zugleich erklärt werden [muss], dass die Aufhebung der Benes-Dekrete nicht zu irgendwelchen Entschädigungs- oder Rückübereignungs-Forderungen führen kann.“ Und auch Gerhard Schröder hatte in seiner Rede zum Tag der Heimat 2000 bereits festgestellt, dass „beide Regierungen (die deutsche und die tschechische) Vermögensfragen in diesem Zusammenhang nicht aufwerfen werden.“
In der Tat hat es die Regierung der Bundesrepublik immer tunlichst vermieden, Vermögensfragen aufzuwerfen. Während z.B. im „Deutsch-Polnischen Freundschaftsvertrag“ von 1992 die Grenze zwischen Deutschland und Polen endgültig festgelegt wurde, blieb die Frage nach der möglichen Rückerstattung deutschen Eigentums in Polen offen. Und auch in der „Deutsch-Tschechischen Erklärung“ des Jahres 1997 heißt es dazu wie erwähnt zweideutig, dass „jede Seite ihrer Rechtsordnung verpflichtet bleibt und respektiert, daß die andere Seite eine andere Rechtsauffassung hat.“ Eine Absage an deutsche Rückerstattungsforderung ist dies mitnichten. Ganz im Gegenteil wird versucht, die Frage bewusst offen zuhalten. Gefordert wird lediglich eine formale Feststellung, dass die Vertreibungen Unrecht waren und dann stände der Tschechischen Republik der Beitritt zur EU offen.
Aber ist Tschechien erst einmal ordentliches Mitglied der Europäischen Union, wäre auf Grundlage eines solchen Schuld-Eingeständnisses eine Flut von Einzelklagen möglich. Die Argumentation ist also so naiv und einfach: ‚Gebt doch einfach zu, dass die Vertreibungen unrecht waren.’ Die Folgen wären jedoch fatal: Eine Welle von Rückerstattungs- und Entschädigungsklagen, welche auf der einen Seite die Rechtsverhältnisse der Tschechischen Republik über den Haufen werfen und auf der anderen Seite das „Sudetenland“ wieder in deutsche Hand übertragen würde.
Otto Schily bemerkte in seiner bereits zitierten Rede zum Sudetendeutschen Tag, dass „wo immer noch Rechtsfragen sonstiger Art zu lösen sind, [...] sie sich besser in einem geeinten Europa lösen lassen“ werden. Dies ist die versteckte Drohung, nach dem EU-Beitritt Tschechiens im „Reichsland Sudetengau“ aufzuräumen. Und auch Schröder wurde in seiner programmatischen Rede zum Tag der Heimat deutlich: „Damit wird sich den Kindern und Enkeln der Vertriebenen auch die Möglichkeit eröffnen, sich im Rahmen der europäischen Freizügigkeit an den Orten ihrer Eltern und Großeltern niederzulassen und dort, wenn sie es wollen, am gesellschaftlichen und politischen Leben teilzuhaben.“
Angesichts solcher offenen Drohungen ist es nur allzu verständlich, dass von tschechischer Seite, zwar „bedauert“ wird, dass „unschuldigen Menschen“ nach dem Zweiten Weltkrieg „viel Leid und Unrecht zugefügt wurde“ (Deutsch-Tschechische Erklärung), es aber nie soweit kommt, festzustellen, dass die Aussiedlung an sich Unrecht waren.
Was in der Frage der „Benes-Dekrete“ als propagandistischer Paradefeldzug offen auf der Hand liegt, ist jedoch nicht als Einzelfall deutscher Außenpolitik zu interpretieren, sondern als Aushängeschild ebenjener aggressiven Politik. Seien es die Interventionen auf dem Balkan bis zum Jugoslawien-Krieg 1999 oder die Einmischung in das ungarische Rechtssystem oder die Germanisierung Polens (die Stärkung deutscher Minderheiten) oder die Versuche, aus Kaliningrad wieder Königsberg zu machen. Kaliningrad also raus aus dem russischen Staatenbund heim nach Deutsch-Europa zu holen. Wo immer man heute nach Osteuropa schaut, betreibt Deutschland eine aggressive Außenpolitik, welche auf die völkische Parzellierung und somit auf eine deutsche Dominanz in Europa zielt.
Siehe hierfür auch: „Achse des Bösen“ – Artikelserie in konkret
In der nächsten Ausgabe von Phase 2: „Wir kaufen uns einen Kontinent. Vom Balkan bis Kaliningrad: Deutsche Vorstöße nach Osteuropa“
Aron Schweiger
Bündnis gegen Rechts Leipzig