»Deswegen sollten wir uns nicht streiten, da wir beide gegen dasselbe kämpfen«

Oder: Der gemeinsame Nenner von Antinationalen und Antideutschen in puncto Deutschland.

Über die Frage, inwiefern es sich bei der aktuellen Diskussion um die Normalität Deutschlands um eine Bekenntnisdebatte handelt, in der sich in wesentlichen Punkten die Argumente der Kontrahenten nicht unterscheiden

Die deutschen Linksradikalen sowie die anderen Deutschen haben momentan ein gemeinsames Thema: Wie normal ist Deutschland?

Anlässlich der diesjährigen Feierlichkeiten am 3. Oktober kommentierte der Deutschlandfunk, der Freudentaumel halte sich in Grenzen, aber dennoch feiere man den Erfolg einer deutsch-deutschen Normalität, wie sie noch vor 21 Jahren nicht auszudenken gewesen wäre. Die deutsche Einheit sei selbstverständlich geworden. Diesmal richtete Bremen die offiziellen Feierlichkeiten aus. Der Protest dagegen begann mit einer Podiumsdiskussion am 1. Oktober, organisiert von TOP Berlin und der Basisgruppe Antifaschismus Bremen: »Das antinationale Wochenende in Bremen beginnt mit einem Diskussionsabend zur Gretchenfrage: ›Wie normal ist Deutschland?‹ Mit Thomas Ebermann (konkret), Ted Gaier, ›…ums Ganze!‹ und weiteren illustren Gästen…«Zit. n. http://top-berlin.net/?p=213#more-213. . Illuster war das Ganze weniger. Es handelte es sich schon eher um eine Gretchenfrage, demnach also um keine Frage, sondern um das Einfordern eines Bekenntnisses, wie Gretchen von Heinrich Faust: »Nun sag: wie hast du's mit der Religion?«

Bekenntnisdebatten haben meistens den Effekt, dass man den Eindruck bekommt, man wird blöder und nicht klüger. Dass sich trotzdem viele momentan fieberhaft mit der Frage beschäftigen, muss einen Grund haben. Zu vermuten ist, dass diese Beschäftigung eine befriedigende Wirkung für alle Beteiligten hat. Es muss, so meine Annahme, eine Gemeinsamkeit geben, die die TeilnehmerInnen an der Debatte zusammenhält.

Zu beobachten ist, dass die Lieblingsfrage einiger Antideutscher und Antinationaler eine harmonisierende Wirkung auf die einst verfeindeten Lager zu haben scheint. So ruft beispielsweise die Bremer Gruppe associazone delle talpe beide Seiten zu theoretischen Korrekturen auf, lobt aber, die DiskutantInnen hätten endlich das Bedürfnis nach Abgrenzung verloren und man sei gespannt auf den weiteren Verlauf der Debatte. Auch der Schwerpunkt der vorliegenden Phase 2 greift die Frage auf, wie deutsch Deutschland denn nun eigentlich sei, und fordert, angesichts seiner »Normalisierung« seien neue theoretische Analysen und ein Überdenken angeblich veralteter »Argumentationsmuster« notwendig.

Auf Indymedia wird zudem hervorgehoben, neu sei an der Verhandlung alter Fragen in dieser Debatte, dass diese solidarisch geführt werde. Im Forum linkslang wird sich ebenfalls zu Wort gemeldet: »Was haltet ihr von dem konflikt zwischen Antideutschen und AntiImps? Ich kann zwar keinen nationalismus tolerieren. Doch ist Israel meiner meinung nach das letzte symbol gegen den rassistischen faschismus! Deswegen sollten wir uns nicht streiten, da wir beide gegen dasselbe kämpfen. Was meint ihr?« Zit. n. http://forum.links-lang.de/viewforum.php?f=2. Auf der Demonstration gegen die Einheitsfeiern am 3. Oktober in Bremen wehte im Übrigen keine einzige Israelfahne.

Am 6. November fand in Bremen der von der Antinationalen Gruppe BremenZit. n. http://www.nadir.org/nadir/initiativ/ang/. organisierte Kongress »Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie scheiße ist Deutschland?« statt. Der Titel war unter anderem ein Resultat von Überlegungen zu der »Ist Deutschland normal«-Debatte. Unter der fieberhaften Beschäftigung mit der Frage, ob und wie normal Deutschland sei, und der damit verbundenen Konsequenz, wie antideutsch man angesichts der »Normalisierung« nun sein möchte, entstand der Eindruck, dass die alte Frage »Was deutsch ist« (Jochen Bruhn) offensichtlich kaum von Interesse ist. Daher setzte der Titel statt »normal« »scheiße«. Es gab Skepsis in der Gruppe gegenüber der Notwendigkeit, dass »neue Analysen« erforderlich sein sollten. Eher erschien es sinnvoll, bereits vorliegende antideutsche Kritik aus den letzten 20 Jahren an Deutschland zu rekapitulieren, um überhaupt ausmachen zu können, ob es sinnvoll ist, von einem »Veralten« dieser Kritik zu sprechen ist. Daher die »Skala«, die auf Wolfgang Pohrts Michel-Skala anspielt – ein soziologisches Instrument, mit dem er Anfang der neunziger Jahre das faschistische Potential der Deutschen erhoben hatte. Diese Überlegungen waren auch Ausgangspunkt und Gegenstand meines auf dem Kongress gehaltenen Vortrags »Von der Gretchenfrage zurück zur Michel-Skala«. Ich habe dargestellt, dass die derzeit unterschiedlichen antideutschen und antinationalen Bekenntnisse zu der Gretchenfrage auf einer gleichen Auffassung der Qualität der nationalsozialistischen Verbrechen und der deutschen Ideologie beruhen. Diese Auffassung versteht die Shoah als Ausrutscher kapitalistischer Fortschrittsgeschichte und die nationalsozialistische Ideologie als bloß noch psychologisch – und das meint in diesem Zusammenhang im Grunde nichts – zu erklärende Marotte von Durchgeknallten. Damit leisten sowohl antinationale als auch antideutsche Debattenbeiträge keinerlei Beitrag zu einer Kritik am gegenwärtigen deutschen Nationalismus. Sie reproduzieren hingegen eine Vorstellung über das Verhältnis von NS und Postnazismus, die mit einem beliebten Motiv deutscher Vergangenheitsbewältigung kompatibel ist. Das im Folgenden Dargestellte ist ein AuszugDer Vortrag wird in voller Länge im Extrablatt – Aus Gründen gegen fast Alles, Nr. 8 erscheinen, siehe auch: http://www.extrablatt-online.net. , der sich darauf beschränkt, hauptsächlich anhand von Texten der Kontrahenten TOP Berlin und Inex zu zeigen, inwiefern die Differenz der Positionen auf der genannten Gemeinsamkeit beruht.

Rational motivierter Sonderweg oder einfach eine weitere kapitalistische Nation?

Steigen wir also zunächst an der Oberfläche der auf den ersten Blick erscheinenden Unterschiede antideutscher und antinationaler Positionen ein. Die associazone delle talpe stellt im Rahmen ihrer ausführlichen Analyse die Positionen der Kontrahenten folgendermaßen dar: »Antideutsche sehen diese Normalität als Versteckspiel und Verdrängungsleistung, die gerade die Aktualität des Völkischen beweise. Die ›neuen Antinationalen‹ hingegen, selbst KritikerInnen völkischen Denkens, diagnostizieren einen echten Wandel des Nationalbewusstseins, da sich Deutschland zu einem stinknormalen weltmarktkonkurrierenden Nationalstaat transformiere und hauptsächlich antikapitalistisch bewertet werden müsse. Antideutsche Kritik, so ihr Urteil, habe heute den Stellenwert von Skandalisierung und Sozialarbeit am Nationalgedenken.« Zit. n. http://associazione.files.wordpress.com/2008/06/antideutsch-antinational-hegemonal.pdf. Die Autonome Antifa [f] aus Frankfurt und der AK Antifa Köln, beide Angehörige des antinationalen bundesweiten umsGanze!-Bündnisses schreiben: »Über die moralische Empörung gegenüber den vergangenen nationalen Untaten fährt die Dynamik kapitalistischer Entwicklung samt ihrer nationalistischen Deutungen jedenfalls hinweg wie ein Bus. […] genau genommen gab es bloß ›nationale Sonderwege‹ in der Entwicklung des Weltmarktes. Auch der deutsche Sonderweg war nur eine – wenn auch bemerkenswert menschenverachtende – Variante der Verarbeitung der Konfliktlagen der kapitalistischen Weltmarktkonkurrenz.« Zit. n. http://www.einheit-und-freiheit.de/texts/view/26. Für ihren Text bekamen sie von der Frankfurter Gruppe sinistra zurecht den Vorwurf des GeschichtsrevisionismusZit. n. http://sinistra.copyriot.com/?p=547. und die neocommunistInnen kritisierten, die Autonome Antifa [f] verstehe einfach nicht, dass Auschwitz aus dem kapitalistischen Normalvollzug herausfalle und daher sehr wohl von einem deutschen Sonderweg zu sprechen sei. Zit. n. http://neocommunistinnen.blogsport.de/2009/09/27/flugblatt-zum-versagen-von-umsgnze-in-praxis-und-theorie. 

TOP Berlin argumentieren weniger grobschlächtig, dafür verquaster und im Grunde ähnlich wie ihre GenossInnen von der Antifa [f]. Weil Deutschland ein kapitalistischer Staat ist, sei er normal, weil aber die Geschichte Deutschlands, wie die jedes anderen Staates, konkret sich darstelle und entwickele, sei Deutschland nicht normal. Zit. n. http://phase2.nadir.org/rechts.php?artikel=735&print=ja. Wenn alle normal und nicht normal sind, ist das Nicht-Normalsein normal – also ist Deutschland normal, müsste man eigentlich logisch schlussfolgern. Tut aber niemand: TOP finden, wie in fast allen Dingen, das ist halt einerseits-andererseits. Zit. n. http://top-berlin.net/. Ihre Haltung, nicht eindeutig sagen zu wollen, Deutschland ist nicht normal, kritisieren ihre FreundInnen und GegnerInnen Inex. Sie wollen an Deutschland nicht nur den kapitalistischen Normalzustand kritisieren. Zwar, so gestehen sie zu, erschwere »die Normalisierung deutscher Machtpolitik Kritik«Inex, Nie wieder Revolution für Deutschland – Zur linken Kritik an den Wendefeierlichkeiten, 2009, 34. , dennoch dürfe man nicht, so richten sie sich gegen die Antinationalen, »der Suggestion […] erliegen, Deutschland sei eine ganz normale aufgeklärte Nation«Ebd., 3. . Man ist also scheinbar ganz und gar nicht einer Meinung.

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass sich die jeweiligen Begründungen für die unterschiedlichen Bekenntnisse erstaunlich ähnlich sind. Das Attest einer Bekenntnisdebatte ist damit gerechtfertigt, wenn konträre Schlussfolgerungen aus den gleichen oder zumindest ähnlichen und kompatiblen Argumenten folgen und demnach keine sind.

Erstens wird von niemandem explizit behauptet, dass Deutschland selbst in dem Sinne normal sei, es gäbe eine »reine Struktur« ohne die Geschichte, in der sich die kapitalistische Ordnung darstelle und durchsetze. Allerhöchstens wird behauptet, der Nationalismus sei gegenwärtig normal, was irgendwie kapitalistisch meint. So betonen TOP: »Die konkrete Ausformung der gesellschaftlichen Reproduktion ist immer bestimmt durch die jeweilige Geschichte des jeweiligen Staats. In Deutschland ist ein ganz entscheidender Teil der Geschichte der NS.« Zit. n. http://phase2.nadir.org/rechts.php?artikel=735&print=ja. Nur sei mit dieser Geschichte keine Kritik am deutschen Nationalismus gegenwärtig zu begründen. Nichts Anderes finden auch Inex, mehr noch: nicht die jüngste Geschichte und nicht die aktuelle Außenpolitik seien Dinge, die eine Kritik am deutschen Nationalismus bestimmen: »Weder ist das heutige Deutschland mit dem Verweis auf den Nationalsozialismus noch mit den Pogromen von Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen oder der Walser-Rede 1998 oder den Wirtschaftsbeziehungen zum Iran zu erklären.« Zit. n. http://jungle-world.com/artikel/2009/44/39686.html. Inex lehnen eine Kritik an Deutschland »im Sinne des Standortnationalismus« nicht ab, halten dies aber für eine »Reduktion«.Ebd. TOP, so ihre Kritik, sähen nur Erscheinungen des allgemeinen Prinzips und würden nicht die Eigenständigkeit der Ideologien von ihrer funktionalen Bedeutung für den Kapitalismus sehen. Doch die Entgegensetzung von »relativ eigenständigen« versus »funktionalen« Ideologien rennt bei TOP offene Türen ein. Die Vorstellung von einer ökonomischen Basis, die den ideologischen Überbau bestimmt, sei schon immer falsch gewesen, belehren sie. Ideologien könnten nicht kausal abgeleitet werden, dienten nicht zwangsläufig der Reproduktion des Kapitalverhältnisses, ihre »Eigenständigkeit« führe im Gegenteil immer wieder zum Scheitern. Zit. n. http://phase2.nadir.org/rechts.php?artikel=735&print=ja.  

Die Geister scheiden sich also wesentlich an der Frage: Ist der deutsche Nationalismus gegenwärtig rational motiviert, das eigene ökonomische Interesse auf dem Weltmarkt durchzusetzen, also »ganz normales Verhalten« im Kapitalismus wie die antinationalen Gruppen des umsGanze!-Bündnisses meinen? Oder ist der deutsche Nationalismus ein »Furor«Zit. n. http://jungle-world.com/artikel/2009/44/39686.html. , der nicht mit ökonomischer Vernunft vereinbar ist, wie die antideutschen TeilnehmerInnen der Bekenntnisdebatte befinden? Einig ist man sich darin, dass deutsche Ideologie beziehungsweise postnazistische Kontinuität eine »regressive Bremse« des kapitalistischen Fortschritts darstelle und dass dem ein »ganz normaler Nationalismus« gegenüberstehe, der funktional auf die Standortlogik bezogen sei. Der NS, so ist man sich einig, war Exzess, Ausnahme, Gegenmodell gemessen am Normalvollzug des Kapitalismus. So beginnt die Staatsbroschüre des umsGanze!-Bündnis mit den Worten, die »sichtbaren Leichenhaufen der kapitalistischen Welt« seien nur »Exzesse ihrer alltäglichen Irrationalität«Zit. n. http://umsganze.de/pages/staatstext-bestellen-lesen.php. und Inex halten fest: »Der Nationalsozialismus war daher auch keine bestimmte Form des Nationalismus, sondern dessen Gegenmodell oder doch zumindest dessen Ausnahme.« Inex, Nie wieder, 36.  

Szenenwechsel: Deutsche im Theater, Inszenierung eines Stücks von Elfriede Jelinek

Am 13. Oktober 2010 verließen 70 Prozent der ZuschauerInnen bereits vor Schluss der Inszenierung »Rechnitz (Der Würgeengel)« von Elfriede Jelinek schimpfend den Saal des Düsseldorfer Theaters Central, die Regieassistentin wurde angespuckt.

Das Stück, so war in der Frankfurter Rundschau zu lesen, verhandelte den Kannibalen von Rotenburg auf der Folie der Massaker an jüdischen Gefangenen 1945. Als eine Schauspielerin die Überlegung, wie sich Leichenberge technisch am Geschicktesten unter der Erde verstauen ließen, mit der Bemerkung verband, hierbei handele es sich um die gleiche Technik wie das Planen einer Tourismusanlage, knallte das wie ein Peitschenhieb, so die Frankfurter Rundschau. Frankfurter Rundschau vom 12. Oktober 2010. Weder die Vorstellung einer Tourismusanlage für sich genommen, noch die Erinnerung an die Leichenberge an sich waren vermutlich der Anstoß, sondern ihre Verbindung: Die Verknüpfung von Freizeitgestaltung und Shoah, heute und gestern, von ganz normalem postnazistischem Alltag und nationalsozialistischen Verbrechen mit dem Verweis auf die gleiche Technik. In scheinbar gänzlich unterschiedlichen Sachen steckt gleiches: Technik, Planung, Rationalität. Der Satz bedeutete: Es gibt einen Unterschied im Ergebnis – Tote oder Tourismusanlage, nicht aber einen in der Anwendung rationaler Mittel.

Die Vorstellung ruft Aggression hervor, da dargestellt wird, dass der Vorgang der Planung der Tourismusanlage nicht wesentlich verschieden von dem zur Erreichung des Ziels sei: Tod den Juden! Daran ist abzulesen, dass die gegenteilige Vorstellung befriedigend ist, die nationalsozialistischen Verbrechen haben nichts mit Kalkül und Verstand zu tun, der noch heute von jedem verwendet wird, sondern sie sind Exzess, nicht-alltäglich, nicht-normal, irrational. Die Aggression des Publikums verweist hiermit auf ein konstitutives Moment postnazistischer Vergangenheitsbewältigung. Dieser zielt darauf, die heutige Nation als ›genesen‹ von der Vergangenheit zu definieren und ihr damit Normalsein zu attestieren. Das bedeutet, die Gegenwart in Gegensatz zu einer als pathologisch aufgefassten Vergangenheit zu setzen. Geschichte verleiht der Gegenwart Sinn und ist ein altbekanntes Muster.

Die gegenwärtige »Wie normal ist Deutschland«-Debatte unterliegt der Vorstellung, rationales Verhalten sei per se ein Kriterium um zu entscheiden, ob völkischer Wahn vorliegt oder nicht – und zwar ganz unabhängig davon, welche Position gegenüber der Gretchenfrage eingenommen wird.

Die Fortsetzung der Rationalität im Wahn

An den gegenwärtigen Nationalismus wird die Frage gerichtet, ob es sich hier um die Irrationalität des deutschen Vernichtungswahns oder um kalkulierendes rationales Verhalten handelt, mit dem versucht wird, sich in der Konkurrenz nach vorne zu bringen.

Diese Entgegensetzung stellt eine Gemeinsamkeit von antinationalen und antideutschen Positionen in der Normalitätsdebatte dar. In solidarischer Zusammenarbeit wird ausgeblendet, was auch in Düsseldorf Anstoß erregte: Die nationalsozialistischen Verbrechen waren zwar eine wahnhafte Regression, stellten einen Zivilisationsbruch dar, aber der Regress realisierte sich gerade mit planmäßiger technischer und organisatorischer Rationalität und bediente sich Mitteln des Fortschritts. Darin, nicht in der irrationalen Wahnhaftigkeit, liegt der Grund, warum sich dem Denken, der ratio, der Gegenstand letzten Endes entzieht. Kritik, die eine solche ist, kann nicht »erklären«, warum es zur Shoah kam, wohl aber – im Unterschied zu Fachidiotensimpelei von eifrigen Studierenden, die in Soziologielehrveranstaltungen zum Verhältnis von Struktur und Handlung zu gut aufgepasst haben – formulieren, warum das so ist. Das Denken, wie Pohrt schreibt, scheitert nicht an den deutschen Verbrechen, weil hier ein Zuviel, sondern umgekehrt ein Mangel an objektiver Unvernunft vorliegt: »Jener Rest unmittelbar nicht aufhebbarer Abhängigkeit vom Naturzwang, der in allen vorfaschistischen Gesellschaftsformationen die unbegreiflichen Untaten gleichzeitig als mythisches Verhängnis und als sinnvoll und notwendig erscheinen ließ. […] Gerade darin, daß der deutsche Faschismus grundlos verbrochen wurde, daß er nicht unter der Herrschaft eines der Vernunft allein unzugänglichen Zwanges entstand, beißt sich die Theorie die Zähne aus.« Wolfgang Pohrt, Nationalsozialismus und KZ-System, in: ders., Ausverkauf – Von der Endlösung zu ihrer Alternative, Berlin 1981, 66–70.  

Die nationalsozialistischen Verbrechen bedienten sich Mitteln des Fortschritts, ohne von diesem motiviert zu sein, sie waren Produkt der von Menschen gemachten Geschichte, ohne in dieser Sinn zu machen. Die Rationalität fand eine Fortsetzung im Wahn. »Es ist die planmäßige technische und organisatorische Rationalität dessen, was jeglicher Vernunft spottet und prinzipiell unbegreiflich ist, wodurch sich der Faschismus von allen vorangegangenen, auch grausamen und terroristischen Gesellschaftsformationen unterscheidet […]. Die barbarische und wahnhafte Regression bezieht genau aus dem Fortschritt der Produktivkraft – Inbegriff von Zivilisation – ihre apokalytische Macht.« Ebd., 68.  

Was aus der Debatte herausfällt, ist die Reflexion darauf, dass das Unbegreifliche darin liegt, dass mittels Rationalität, Verfahren, Kalkül, Logik, Organisation und Technik der Vernichtungswahn in die Tat umgesetzt wurde, ohne dafür einen einsehbaren Grund zu geben. Die funktionalistische Denkart hingegen rationalisiert die Gegenwart und mythologisiert »die deutsche Vergangenheit«.

Das umsGanze!-Bündnis vertritt die Ansicht, Nationalismus sei das Instrument zur Herstellung einer Einheit von Staat, Kapital und Bevölkerung, mit der versucht werde die grundsätzlich vom Kapitalismus produzierten Krisen zu bewältigen. Im »Extremfall« führte das zum Nationalsozialismus. Der gegenwärtige Nationalismus habe funktionalen Charakter und daraus wird geschlossen, im Vordergrund stünden »nicht die Exzesse dieser Gesellschaftsordnung, sondern ihre selbstverständlichen Voraussetzungen, aus denen jene Exzesse immer wieder entstehen und die darum nicht weniger skandalös sind. Gegenstand ist die bürgerlich-demokratische Vergesellschaftung als solche«http://umsganze.de/pages/staatstext-bestellen-lesen.php, 18 .

Inex hingegen befinden, der Nationalismus habe zwar eine Funktion des Nationalstaates für die kapitalistische Standortkonkurrenz, aber darin erschöpfe er sich nicht. Er sei vielmehr dysfunktional, woraus für sie folgt: »Der Wille zur Gemeinschaft und die Abgrenzung gegen andere sind wohl eher psychologisch zu erklären als mit dem Kapitalismus.« http://jungle-world.com/artikel/2009/44/39686.html  Denn: »die Gesamtgesellschaft auf ein leitendes Prinzip zurückzuführen, verkennt ihre Dynamiken und macht blind für Entwicklungen, die sich nicht oder nur schwer aus diesem leitenden Zusammenhang erklären lassen.« Ebd. Es geht in diesem Fall um unerklärliche Intentionen der Einzelnen, die eher psychologisch zu erklären seien denn auf einen gesellschaftlichen Funktionszusammenhang. Nichts anderes aber sagen TOP.

Die geteilte Behauptung, Ideologie am Maßstab ihrer normal-kapitalistischen Funktionalität erkennen zu wollen, rückt den antisemitischen Vernichtungswahn und seine ideologischen Nachfolger in den Rang eines archaischen Erbes. Dieses sei »relativ eigenständig«, daher nicht funktional und nur als »abweichendes Verhalten«, als Marotte zu markieren, über das aber ansonsten keiner Aussage getroffen werden kann. Ein rätselhafter Rest der Vergangenheit, der, da dysfunktional, nicht in Bezug gesetzt werden kann zu den gegenwärtigen deutschen Verhältnissen. Der Nationalsozialismus wird so, durchaus konform zur deutschen Vergangenheitsbewältigung, als pathologisches Relikt aus der Vergangenheit wahrgenommen, das als regressives Moment im historischen Fortgang von der Geschichte geheilt werden könnte. Dieser Fortschrittsglaube wird damit auf gesellschaftliche Verhältnisse angewendet, deren Dynamik ermöglichte, dass die Deutschen – grundlos – die Shoah verübten. Zumindest aus Sicht der KritikerInnen werden die Deutschen nicht vernünftiger, weil die Verhältnisse nach wie vor bestehen. »Der Umstand, daß man die Vernunft in der Geschichte stets unterstellen muß, wenn man sich mit Gesellschaftstheorie beschäftigt, führt leicht dazu, daß man die unterstellte Vernunft mit der Realität verwechselt.« Pohrt, Nationalsozialismus, 70.  

SONJA WITTE 

Die Autorin kommt aus Bremen und ist u.a. in der Gruppe kittkritik, bei den les madeleines und in der Redaktion der Zeitschrift Extrablatt – Aus Gründen gegen fast Alles aktiv.