Der NSU und das antifaschistische Schweigen

Die linke Auseinandersetzung mit den NSU-Morden ein Jahr nach ihrem Bekanntwerden

Als sich vor etwa einem Jahr der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) mit einem lauten Knall selbst enttarnte, waren Antifa-Strukturen angesichts einer Nazi-Gruppe, die 13 Jahre lang unerkannt in der ganzen BRD genauso gezielt wie unberechenbar gemordet hatte, ähnlich überrumpelt wie die restlichen hilflosen Zuschauer_innen. Die Details der Ermittlungen, das »Versagen« der zuständigen Behörden und die wöchentlichen Skandale in den zuständigen Untersuchungsausschüssen sind seit einem Jahr in einigen erfreulich konsequent berichtenden Medien (publikative.org, NSU-watch, Süddeutsche Zeitung, taz u.a.) nachzulesen und sollen hier nicht Thema sein. An dieser Stelle beschäftigen viel mehr die eigenen Strukturen, denn hatte nicht auch die Antifa versagt, indem sie die Morde falsch interpretiert und den polizeilichen Verlautbarungen leichtfertig Glauben geschenkt hatte? Wurde auch von ihr die Gefahr bewaffneter Nazi-Gruppen nicht ernst genug genommen? Und vor allem, wo ist »die Antifa« nach dem Bekanntwerden der NSU-Morde geblieben?

Gelegenheiten, auf die Mordserie und ihren rassistischen Hintergrund aufmerksam zu werden, hatte es für die Antifa durchaus gegeben. Beispielsweise als im Mai 2006 über 3000 Menschen, vor allem deutsch-türkische Familien sowie Angehörige und Freund_innen von Halit Yozgat unter dem Motto »Kein 10. Opfer – Stoppt die Mörder« durch Kassel zogen oder rund zwei Monate später ein Schweigemarsch durch Dortmund stattfand. Ulli Jentsch, Rassismus tötet. Hundert Tage Aufregung über den NSU, monitor Nr. 54, Februar 2012. Die Demonstrant_innen hatten ohne Kenntnis der Nazibande die brutale Botschaft des NSU verstanden: dass der Angriff nämlich ihnen als Kollektiv galt. Das damit zusammenhängende Gefühl von Unsicherheit und Schutzlosigkeit war groß und schon damals wurde auf das fehlende öffentliche Interesse für die Morde hingewiesen sowie die mangelnde Solidarität durch die Mehrheitsgesellschaft angeprangert: »Auch die Deutschen sollen sich verantwortlich fühlen. Warum reagiert man auf solche Taten nicht wie auf Terroranschläge, fragen sich die Hinterbliebenen. Und warum wurden nach den ersten sieben Toten nur 3000 Euro für Hinweise geboten? Ist das Leben von Türken so billig?« Kai Müller, Neun Tote in sechs Jahren – Polizei ist ratlos, Der Tagesspiegel vom 1.10.2006.

Nicht mit bewaffneten Nazi-Gruppen gerechnet?

Mit dem Wissen von heute erscheinen die Ergebnisse der damaligen Antifa-Recherche in einem anderen Licht. So manche, die Ende der neunziger Jahre aktiv war, hat sie alle in den Händen gehabt, die Papiere, die den Kampf im Untergrund bewarben. Damals wurden die Konzepte von »leaderless resistance« und »lone wolf« von militanten Nazi-Strukturen verbreitet und der Mythos der »deutschen Freischärler«, Himmlers Werwolfeinheiten, in diversen Publikationen aufbereitet. Regelmäßig wurden bei Hausdurchsuchungen scharfe Waffen gefunden, deutsche Combat18-Gruppen verübten Anschläge und Kay Diesner Diesner erschoss auf der Flucht vor der Polizei einen Beamten, nachdem er in Berlin den Buchhändler Klaus Baltruschat, der in seinem Laden vornehmlich politische Literatur vertrieb, schwer verletzt hatte. 

Der Thüringische Heimatschutz war seit Mitte der neunziger Jahre als militante Anti-Antifa-Kameradschaft bekannt und das Untertauchen von Uwe Bönhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschä­pe bestens dokumentiert. Hätte man sich damals schon ausmalen müssen, dass verhinderte Bombenleger_innen, die sich der Verhaftung entziehen und untertauchen, damit nicht aus der Welt sind? Dass solche Folgerungen nicht stattfanden, mag an der neuen Form der Gewalt gelegen haben, wie im Antifaschistischen Info Blatt nachvollziehbar festgestellt wird: »Die Taten selbst wurden nicht als rechte Tötungsdelikte erkannt, entsprachen sie doch nicht dem bekannten Schema der vergangenen zwanzig Jahre. Das Alarmsystem schrillt auf bei Anschlägen, die denen von Rostock, Hoyerswerda, Mölln oder Solingen ähneln. Es funktioniert auch bei rechten Straßenschlägern wie im Fall von Kamal Kilade in Leipzig, doch es versagte bei den organisierten, stillen Hinrichtungen des NSU. Das Erschießen als geplante Tötung ohne das sonst typische propagandistische Bekenntnis passte nicht in die bekannten Muster.« Antifaschistische Linke Berlin: Nur zehn Tote mehr?, AIB #94.

Die deutschen Nazis haben die Botschaft des NSU auf jeden Fall auch verstanden und dessen mörderische Aktivitäten schon vor Jahren mit Liedern und Danksagungen untermalt. U.a. Patrick Gensing, „Denn neun sind nicht genug…“, Publikative.org vom 16.11.2011, und apabiz, „Vielen Dank an den NSU“ – Was wusste der „Weisse Wolf“?, NSU-Watchblog vom 02.03.2012

Doch im Nachhinein das eigene Versagen festzustellen ist in diesem Fall aus zweierlei Hinsicht müßig. Zum Einen, weil sich altes Wissen zwar unter anderen Vorzeichen betrachten lässt, es jedoch für anderes Handeln zu spät ist. Zum Anderen, weil der Verweis auf das eigene Versagen eine Ausrede ist, die deshalb auch mantrenhaft auf die ermittelnden Behörden angewandt wird, weil sie eine eigentlich gute Einrichtung unterstellt, die nur in diesem Fall fehlerhaft gehandelt hat.

Die Stille im Land

Wirklich schmerzhaft bewusst wurde die weitgehende Abwesenheit von Antifa-Strukturen aber in der Zeit ab November 2011. Der zivilgesellschaftliche Aufschrei, der angesichts der rassistischen Mordserie und der damit zusammenhängenden Enthüllungen zu erwarten war, blieb aus und erschöpfte sich in offiziellen Ansprachen und den üblichen deutschen Ankündigungen, ab jetzt aber wirklich ein bisschen strenger mit den hauseigenen Nazis zu sein. Ansonsten herrschte »Stille im Land«. Zur »Stille im Land« siehe: http://buendnis-gegen-das-schweigen.de/. Und auch von denen, die sich doch auf die Fahnen geschrieben haben, den Frieden in diesem Land zu stören, wurde diese Stille kaum durchbrochen. Schon nach einigen Wochen schienen die Morde des NSU und vor allem die Ermordeten für die meisten Antifa-Gruppen kein Thema mehr zu sein. Bis auf einige linke Journalist_innen, Politiker_innen und Recherche-Strukturen, die in Blogs und Untersuchungsausschüssen bis heute Kontinuität beweisen, hat sich die Antifa offensichtlich weitgehend von ihrem ureigensten Terrain zurückgezogen. 

Sicher lösen die Taten des NSU Hilflosigkeit aus. Die Morde sind schon Jahre her, Böhnhardt und Mundlos sind tot, Zschäpe ist in Haft. Das klassische interventionistische Parolenrepertoire von »verhindern, blockieren, abschaffen, aufs Maul« läuft hier ins Leere und so entblößen sich Schwächen und Grenzen antifaschistischer Strukturen. Denn was hätte der vielbeschworene Antifa-Selbstschutz verhindert? Was können existierende linke Strukturen gegen bewaffnete Nazis ausrichten, die offenbar zu allem entschlossen sind, auch sich lieber umzubringen, als der Polizei in die Hände zu fallen?

Spätestens seit den neunziger Jahren ist der zwanghaft kämpferische Habitus linksradikaler Gruppen nicht nur eine schlechte propagandistische Tradition, sondern auch die durchschaubare Kompensation der eigenen Ohnmacht. Dieser Habitus hat oft etwas karikaturenhaftes, wenn mal wieder der »Kapitalismus abgewrackt«, »Deutschland ausgeschaltet« oder »Nazis weggebasst« werden sollen. Das Verleugnen und Verdrängen der eigenen Ohnmacht taugt vielleicht zum Schutz vor Verzweiflung, macht aber auch dumm und stumpft ab.

Auch in diesem Fall stellte sich die Antifa weniger ihrer eigenen Ohnmacht, als dass die Morde des NSU umgehend politisch instrumentalisiert wurden. Sicher ist die Rolle des Verfassungsschutzes in der Causa NSU von besonderer Widerwärtigkeit. Doch mutet es ungewöhnlich an, dass »VS abschaffen« angesichts zehn von Nazis ermordeter Menschen zur populärsten Parole antifaschistischer Gruppen wurde, als hätte der VS selbst gemordet. Es mussten also die Toten herhalten für eine linke Abrechnung mit den aktuellen Lieblingsfeinden: den staatlichen Repressionsorganen, der Extremismustheorie und dem Antikommunismus.

»Wut und Trauer« haben sich scheinbar nicht eingestellt. Die Toten waren eben keine »von uns« wie Carlo Giuliani oder Alexandros Grigoropoulos, deren Ermordung bis heute Spontandemos und Mahnwachen nach sich ziehen, obwohl ich unterstelle, dass die wenigsten der dort Beteiligten die beiden besser kannten. Giuliano wurde 2001 in Genua, Grigoropoulos 2008 in Athen von Polizisten erschossen. Auch wenn der Vergleich unangenehm anmutet, möchte ich zum Nachdenken darüber anregen, was wohl losgewesen wäre, wenn im November 2011 die gezielte Ermordung von neun Antifas aufgedeckt worden wäre? Oder um es mit dem Beteiligten an der Demo in Kassel zu sagen: »Ist das Leben von Türken so billig?«

Dabei sind einige der Repräsentant_innen der Gewalt bekannt und bis auf Rolf Wohlleben sind alle Unterstützer_innen von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe wieder auf freiem Fuß. Obwohl sie mitverantwortlich sind für die Ermordung von Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kiliç, Yunus Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik, Michele Kiesewetter und Halit Yozgat. Der polizeiliche Druck auf die NSU-Helfer_innen hat nachgelassen und Verurteilungen sind auf Grund von Verjährungsfristen fraglich – von Antifaschistischem Aktion war bisher nichts zu spüren.

Es wäre zu einfach, eine alles erklärende Ursache für die antifaschistische Sprachlosigkeit zu identifizieren. Sicher wird vielen guten Initiativen aus dem letzten Jahr Unrecht getan, die sich nicht im Kollektiv der schweigenden Linksradikalen wiederfinden wollen. Doch das Schweigen ist zu groß, um es zu ignorieren, zu eklatant, um es sich nicht zum Vorwurf zu machen.

»Das Schweigen ist ein Schock«, sagt Ercan Y. und meint weiter: »Als allererstes erwarte ich, dass Antifaschist_innen auf die Familien der Ermordeten und Verletzten zugehen und sie fragen, welche Unterstützung sie brauchen und was sie sich wünschen. Eine antifaschistische Linke sollte sich daran erinnern, dass sie eine Verantwortung für die gesellschaftlichen Zustände hat und auch entsprechend verantwortlich handeln muss. Ich vermisse die Sensibilität, die Antifaschist_innen in den 1980er und 1990ern gezeigt haben, als wir gemeinsam gehandelt und nicht darauf gewartet haben, dass andere die Initiative ergreifen.« Apabiz, »Das Schweigen ist ein Schock«, NSU Watchblog vom 02.04.2012.

Was verhindert ein solches Handeln, das sich auch an den Betroffenen orientiert? Wie ist es möglich, dass einzig der Staat den Rahmen vorgibt, in dem Konsequenzen aus den Morden und der Verstrickung der Sicherheitsbehörden verhandelt werden, während die antifaschistische Linke sich weitgehend passiv verhält? Ist es die habitualisierte antifaschistische Offensivität, die hier an der Realität scheitert? Ist es der Zynismus einer von Empathie befreiten Ideologiekritik, die so oft beschworene und sicher auch reale, allgemeine Schwäche der radikalen Linken oder – und diese These will ich hier näher verfolgen – eine strukturelle Bewusstlosigkeit gegenüber dem Ausmaß rassistischer Gewalt, deren Bekämpfung weiße Antifaschist_innen sich zwar auf die Fahnen schrei­ben, die sie jedoch meist nicht selbst erleben?

Es gibt neben antifaschistischer Sprachlosigkeit und herrschaftspolitischem Sicherheitsdiskurs (NPD-Verbot, Aufstockung der Sicherheitsbehörden, Nazi-Datei usw.) noch einen weiteren Strang der Auseinandersetzung mit dem Geschehen rund um den NSU. Antirassistische Aktivist_innen, Journalist_innen, Künstler_innen, Wissenschaftler_innen Imran Ayata, Kien Nghi Ha, Mely Kiyak, Kutlu Yurtseven, Café Morgenland, das Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung u.v.m. aus unterschiedlichen Kontexten melden sich seit einem Jahr mit Beiträgen zum NSU zu Wort. Viele hatten sich schon lautstark in die sogenannte Integrationsdebatte eingemischt, die der Veröffentlichung von Thilo Sarrazins Machwerk »Deutschland schafft sich ab« folgte. 

Diese Beiträge haben ganz klar Rassismus als das zentrale Verhältnis ausgemacht, das sich in den Mordtaten, in den polizeilichen Ermittlungen und auch in dem zivilgesellschaftlichen und linken Desinteresse widerspiegelt: »Für viele People of Color sind die NSU-Morde […] ein weiterer Beweis für ihre eigene Ausgrenzungserfahrungen in der deutschen Gesellschaft. So gesehen werden die NSU-Morde vermutlich wenig verändern, sondern stellen nur einen neuen Tiefpunkt in der rassistischen Dauerkrise dar«. Kien Nghi Ha: Ein Tiefpunkt in der rassistischen Dauerkrise, http://www.migazin.de/2011/12/22/ein-tiefpunkt-in-der-rassistischen-dauerkrise/.

Rassismus, der quer durch die Gesellschaft geht – auch durch ihren linken Teil

Dabei geht es nicht um Gleichsetzung der rassistischen Anschauungen von Nazis, Sicherheitsbehörden und linken Aktivist_innen. Rassismus meint hier keine Einstellung, sondern »eine gesellschaftliche Realität strukturierende Größe«, Paul Mecheril, Die Normalität des Rassismus, in: IDA NRW, Dokumentation des Fachgesprächs »Normalität und Alltäglichkeit Rassismus«, http://www.ida-nrw.de/cms/upload/PDF_tagungsberichte/Tagungsdoku_Alltagsrassismus.pdf, 11.. eine Zuschreibungspraxis, die über Ein- und Ausschlüsse, über Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit entscheidet. Die Verlaufslinien rassistischer Ordnungen sind historisch und regional unterschiedlich. In Deutschland wurzeln sie im Rassedenken der deutschen Aufklärung, dem deutschen Kolonialismus und der totalen Rassifizierung der Gesellschaft durch den Nationalsozialismus. Die heute wirksame Zuschreibungspraxis ist eng gebunden an ein ethnisierendes Konzept von nationaler Zugehörigkeit in Form eines Staatsbürgerschaftsrechts, das seine Ursprünge im Kaiserreich hat und erst im Jahr 2000 juristisch verändert wurde. 

Rassistische Zuschreibungspraxen sind nicht zwangsläufig gewaltförmig, sondern ganz alltäglich. Der sogenannte Migrationshintergrund zum Beispiel schreibt über Generationen ein Anderssein fest, das im politischen Diskurs häufig an bestimmte Vorannahmen über angebliche Wertvorstellungen oder kulturelle Praxen gekoppelt ist. Die ausgrenzende Vokabel des »Ausländers« wird damit zwar sprachlich entschärft, ihr Effekt aber nicht aufgehoben. Der Migrationshintergrund definiert über die Abgrenzung auch immer wieder die Einschlüsse, das »Wir« der Deutschen ohne Migrationshintergrund. Ebd.

Diese Kategorien machen vor linken Zusammenhängen nicht halt. Bis heute wird auch in Antifa-Publikationen gerne von Migrant_innen geredet, auch wenn die gemeinten Menschen nie migriert sind, sondern höchstens ihre Eltern oder Großeltern.

Rassismus bestimmt als eine von vielen Zuschreibungspraxen, was als normal gilt und was als abweichend. Dass der gängige Normalitätsentwurf seit Kant und bis heute der weiße, heterosexuelle, gesunde und mit Bildung ausgestattete Mann ist, dürfte auch in Antifa-Gruppen ein alter Hut sein. Wie es aber das Erleben und die Erfahrungen beeinflusst, sich auch im Spiegel der Anderen ganz uneingeschränkt als Mensch erleben zu dürfen oder aber als nicht zugehörig, andersartig, fragwürdig betrachten zu müssen – das ist ein Unterschied ums Ganze. Diesen Unterschied wahrzunehmen und bewusst zu machen, ohne die damit verbundenen Abgrenzungen zu reproduzieren, ist eine Reflexionsarbeit, die immer wieder eingefordert werden muss.

In der antirassistischen (Bildungs-)Arbeit spielt die Reflexion rassistischer Sortierung und damit verbundener Privilegien und Haltungen inzwischen eine wichtige Rolle. Dabei geht es sowohl um institutionelle Diskriminierungen, aber eben auch um Folgen für die alltäglichen Interaktionen, unter anderem im politischen Aktivismus. Ein solcher struktur- und selbstreflexiver Ansatz hebt sich von Modellen ab, die Rassismus vor allem als feste Ideologie identifizieren. Wo nur ganz bestimmte Einstellungen oder Äußerungen als rassistisch oder Personen als Rassist_innen gebrandmarkt werden, fehlt die Wahrnehmung für die wirkmächtigen Positionierungen, die rassistische Ordnungen vornehmen. Rassismus wird in einer so verkürzten Betrachtung als Ausgrenz­ungs­mecha­nismus wahrgenommen, von dem ausschließlich rassistisch Diskriminierte betroffen sind. Doch wir »alle machen Erfahrungen in diesem System, entwickeln psychosoziale Dispositionen, abhängig von unserer Position im System rassistischer Unterscheidungen. […] Und diese Zugehörigkeitserfahrungen […] haben nicht allein etwas mit Teilhabemöglichkeiten zu tun, sondern sind Erfahrungen, die sich in den Körper einschreiben […] und dadurch zu einem Habitus werden«. Ebd.

Der (Erfahrungs-)Horizont ist weiß

Von der Positionierung im rassistischen System ist auch abhängig, welche Geschichten erzählt werden und welche Erfahrungen unsichtbar bleiben. Ein aktuelles Beispiel ist die antifaschistische Aufarbeitung der rassistischen Pogrome der neunziger Jahre. Es ist sicher erfreulich, dass die neuerliche Thematisierung von gesellschaftlichem Rassismus in der Auseinandersetzung mit dieser Zeit eine zentrale Rolle spielt. Und doch ist in der linksradikalen Geschichtsschreibung ein deutliches Übergewicht von Erzählungen zu verzeichnen, die eine weiße und damit eine privilegierte Perspektive einnehmen. Es sind Erzählungen von politischer Organisation, von militanten Auseinandersetzungen mit Nazis, von den zerbrechenden revolutionären Hoffnungen der achtziger Jahre – der Blick auf die rassistische Gewalt dieser Tage bleibt zwangsläufig beschränkt und äußerlich. Die unzähligen anderen Perspektiven auf diese Zeit werden so trotz bester Intentionen unsichtbar gemacht, auch indem deren Akteur_innen auf einen entmündigenden Status von Opfern reduziert werden, denen sich linker Antifaschismus paternalistisch zuwendet. Das gilt zum Beispiel für die »Zeitzeug_innenberichte« aus Rostock-Lichtenhagen Z.B. AIB, »Es waren nicht die bleiernen Jahre«, AIB #95 scharf kritisiert. 

Es zeugt von eben jener Bewusstlosigkeit, diese Erfahrungen in einen Topf zu werfen und linke Aufbrüche in einer Zeit abzufeiern, in der fast täglich Häuser und Flüchtlingsunterkünfte brannten und rassistische Gewalt für viele eine ständige Begleiterin war. http://www.avanti-projekt.de/news/linke-politik-anfang-der-90er-ostdeutschland. Was in der Veranstaltungsankündigung als »Zeit voller Widersprüche« beschrieben wird, markiert vielmehr ein Verhältnis, in dem weiße Antifaschist_innen seit jeher leben und das zwangsläufig ihre Wahrnehmung prägt, nämlich nicht selbst Zielscheibe rassistischer Gewalt zu sein. Privilegiert zu sein, bedeutet eben auch, sich raushalten zu können. Sicher waren und sind auch weiße Linke Angriffen durch Nazis und andere Deutsche ausgesetzt – in manchen Gegenden ist dies vielleicht sogar alltäglich. Ihre Rolle in der Auseinandersetzung bleibt jedoch eine andere. Sie ist Ergebnis der eigenen Haltung und nicht von außen aufgezwungen und sie lässt sich ein Stück weit durch Konspirativität, Kleiderwahl und manchmal auch Rückzug vermeiden.

Kurz nach dem Pogrom in Hoyerswerda 1991 gab es Auseinandersetzungen über das Spannungsfeld zwischen Aktivist_innen, die dem Anspruch nach Rassismus bekämpfen und denen, die ihm zusätzlich noch tagtäglich ausgesetzt sind. Café Morgenland formulierte damals eine scharfe Absage an die »linksdeutschen« Autonomen: »Es geht erst einmal primär um ein Wissen über die Bedingungen, unter denen Flüchtlinge und Migrantinnen hier leben müssen. Die wenigsten von euch wissen, wie es auf der Ausländerbehörde aussieht. Nachvollziehen, was es heißt, dort um Aufenthalt zu betteln, könnt ihr nicht. Nachvollziehen was es heißt, den Mund aufzumachen, und alle wissen spätestens jetzt, dass du keinE DeutscheR bist, könnt ihr nicht. Ihr könnt auch nicht nachvollziehen, was es heißt, sich immer dessen bewusst zu sein, dass alle von dir ein ›normales‹ Verhalten erwarten, und du kennst ihre Norm nicht. […] Die Auseinandersetzung mit Rassismus ist für uns keine revolutionäre Heldentat, sondern Alltag. […] Die anti-faschistische/rassistische Arbeit ist für viele von euch ein zu defensives Konzept. Euch fehlt die Vorstellung einer Utopie. […] Wir denken, dass da euer wirkliches Problem liegt: die Auseinandersetzung mit Rassismus ist für euch, wenn überhaupt, ein theo­retischer Anspruch«.  Café Morgenland, Über Leichen sie gehen, http://www.cafemorgenland.net/archiv/2012/2012_09_12_ueber_leichen_gehen.htm.

Hinterm Horizont geht’s weiter…

Im Verlauf der neunziger Jahre kam es zu einer immer stärkeren Trennung und Explizierung antifaschistischer und antirassistischer Politiken. Widersprechende Einschätzungen zur rassistischen Formierung in Deutschland mögen dabei ebenso eine Rolle gespielt haben wie unterschiedliche Politikansätze. Unter anderem die Tendenz, die Radikalität von Kämpfen an ihrer Militanz und der zur Schau getragenen Unversöhnlichkeit zu messen, hat schon damals dazu geführt, dass antirassistische Teilbereichskämpfe für eine sich über Aktionismus definierende Antifa eher uninteressant waren. Dieses Desinteresse scheint sich mit der Popkultur- und Lesegruppenorientierung der letzten zehn Jahre eher noch verstärkt zu haben. Bei strammen Staatskritiker_innen werden Kämpfe um gleiche Rechte dann gar als affirmativ, moralisierend und nicht systemtranszendierend kritisiert.

Mit einem deutschen Pass in der Tasche und all den damit verbundenen (Rechts-)Sicherheiten im Rücken ist radikale staatskritische und antikapitalistische Gradlinigkeit, zumindest bis zur Schallmauer der Militanz, recht gefahrlos zu haben. Der um jeden Preis revolutionäre und maximal kritische Habitus, der von Realpolitik nichts wissen will, entlarvt sich in der Konsequenz meist als Identitätspolitik einer weitgehend abgesicherten und mit vielen Privilegien ausgestatteten Jugendsubkultur vor dem Hintergrund einer (im Nachgang alliierter Verordnungen noch) vergleichsweise liberalen Demokratie. Sich von denen zu entsolidarisieren, die sich ohne solche Sicherheiten in Auseinandersetzungen mit diesem Staat begeben, zeugt von deutlicher Ignoranz der eigenen Position und vor allem der Existenz unterschiedlicher Realitäten gegenüber.

Auch das Desinteresse an den vom NSU Ermordeten und den Bedürfnissen und Forderungen der Überlebenden ist ein Ausdruck dieser Ignoranz. Es ist an der Zeit, nach Möglichkeiten zu suchen, diese Ignoranz aufzubrechen und unterschiedliche Perspektiven auszutauschen. Um bestehende Machtverhältnisse in der Praxis nicht zu reproduzieren, bedarf es außerdem einer ernsthaften und vor allem auch (selbst-)reflexiven Beschäftigung mit Rassismus und anderen mächtigen Differenzierungsmechanismen. Der Blick über den Antifa-/»Szene«-Tellerrand, der Austausch von Erfahrungen und die Reflexion von Privilegien sind Wege zu einem besseren Verständnis gesellschaftlicher Ordnungs- und Ausgrenzungsmechanismen hin zu einer politischen Praxis, die inmitten und trotz realer Macht- und Deutungsunterschiede der Protagonist_innen gemeinsames Handeln zum Ziel hat, ohne diese Unterschiede zu reproduzieren. Die politische Auseinandersetzung um den NSU, um Nazis und Staat, alltäglichen und institutionellen Rassismus ist nicht zu Ende. Für ein antifaschistisches Einlenken, das gemeinsam mit den Überlebenden und anderen, die sich zu Wort melden, das deutsche Schweigen durchbricht, ist es nicht zu spät.

~ Von Nina Hund. Der Autor lebt in Bremen.