Wer Kinder hat, hat keine Zeit. Zumindest nie genug: Zeit für sich, für das Feilen an Texten bis sie perfekt sind, den eigenen Ansprüchen genügen. Tagesmütter fallen aus, Zähne wachsen, ErzieherInnen werden krank, die Kinder ebenfalls und Ausschlafen gibt‘s nicht mehr. Alltag wird zur Improvisation, zur ständig neuen Herausforderung, spannend allemal, auf der Strecke jedoch bleibt die Zeit für Foucault-Lektüren und Adorno-Exegesen. Texte wollen trotzdem geschrieben werden, sonst hat man ja nichts gelernt (zumal Foucault ja zurecht behauptet, Philosophie ist nicht die Erkenntnis des Wissens, sondern das Leben und die Erkenntnis des Seins), und so bleiben sie oft Rohbau, nicht abgeschlossen und nie perfekt, ein Prozess, wie auch die Erziehung einer ist. Wer Kinder hat, tauscht sich in seiner wenigen freien Zeit übers Zähnebekommen, Durchschlafen, Kitas und im besten Fall auch Erziehungsfragen aus. Kein Austausch von Befindlichkeiten, sondern Bewältigungsstrategien des Alltags. Klarheit bekommen über die eigenen Ansprüche sowie das Scheitern daran. Die Suche nach Solidarität im Scheitern, die Suche nach Bestätigung der eigenen Strategien, die Suche nach neuen Wegen in der Erziehung.
Daher dieses Gespräch: ein Prozess der Selbstbefragung. Der Versuch, sich dem Widerspruch anzunähern zwischen theoretischem Anspruch an Erziehung und der Alltagsrealität, gemeinsam Strategien finden, diesen Widerspruch nicht aufzulösen – das ist vermutlich nicht möglich – aber ihn zumindest auszuhalten. So spiegelt sich das Leben mit Kindern auch in der Struktur des Textes: Im Mittelpunkt stehen die Fragen an sich selbst, an die anderen Eltern, an die Erziehung, steht die Angst, den eigenen Zielen nicht gerecht zu werden, das vermeintliche Scheitern. Drumherum die Theorie als Hoffnung und Utopie, allzu oft verdeckt vom Erziehungsalltag. Klarheit für einen kurzen Moment, bis zur nächsten Kita-Schließung und schlaflosen Nacht. Wer Kinder hat, hat keine Zeit. Und so bleibt auch dieser Text ein Rohbau, die Abbildung einer Suche nach Klarheit, nach Selbstvergewisserung darüber, was Erziehung heißt.
Die Familie hat laut Artikel 6, Absatz 2 des Grundgesetztes einen Erziehungsauftrag; einen vom Staat zugeschriebenen und von seinen Institutionen überwachten Auftrag der Erziehung des Kindes. Erziehung bedeutet immer, dass ein nicht fertig geformtes Etwas den Normen und Vorstellungen seiner ErzieherInnen angepasst wird – die Pädagogiken, also die Methoden, variieren dabei als einziges. Nun gilt die Familie aber auch als Hort des Privaten, der moderne Staat kann hier nicht mit totaler Überwachung und Kontrolle hineinpreschen. Wenn allerdings das Interesse des Staates – und seines zur Erfüllung der Staatsräson notwendigen Schützlings Kapital – weiterhin darin liegt, diesen Hort des Privaten in bestimmte Grenzen zu bannen, so bleibt die Frage, welche Grenzen das sind. Welcher Art ist das Interesse des Staates an der pädagogischen Funktion der Familie, wohin und wozu soll erzogen werden und wann wird der Erziehungsauftrag als misslungen oder nicht im Sinne der Gemeinschaft ausgeführt? Und ist die Familie als Kern des Staatswesens tauglich, Widerstand gegen die Räson des Staates und seine ökonomische Kultur auszubilden?
Wir haben uns diesen Fragen aus der Perspektive unserer eigenen Erziehungen, Pädagogiken und unserer privaten Praktiken und Prozesse im Familienalltag angenähert. Wir wollen aus dieser Perspektive ergründen, inwieweit dieser Erziehungsauftrag Grundlage unserer permanenten Auseinandersetzung und Interaktion mit unseren Kindern geworden ist. Also ganz im Sinne Foucaults nicht als abstraktes Erfüllungsziel über uns schwebt, mit dem wir uns keineswegs identifizieren, sondern als normierender Aspekt unseres Familienlebens fungiert. Dabei liegt uns eine Vorannahme zugrunde, wonach der staatlich ausgesprochene Erziehungsauftrag und seine institutionelle Erfüllung in Schule etc. in erster Linie dazu dient, das unmündige Menschenkind auf seine Rolle, seine Funktion und seine Teilhabe am bestehenden politischen und ökonomischen Gesellschaftsfeld vorzubereiten und es dafür »fit« zu machen.
Astrid: Ich erkenne klar den Einfluss einer Pädagogisierungsaufforderung im Sinne der richtigen Erziehung in meinem Alltag. Meine Ideale und Vorstellungen vor der Geburt meiner Tochter waren ja vor allem aus der Negation zum Bestehenden gespeist. Ich wollte bestimmte politische Muster nicht emotional implementieren. Also keine Konkurrenz, kein Gefühl der Unzulänglichkeit, kein Hass auf andere etc. Bei dem Baby selbst habe ich in den ersten Monaten erstmal alle Pädagogik über Bord geworfen. Aber jetzt, im Kleinkindalter, heißt meine politischen Werte vermitteln vor allem, das Kind erstmal fernhalten von Erziehungsdruck von außen. Also sie nicht auf Deutschlandfußballfeste mitzugeben, das Kind vor Forderungen beschützen, es solle sich mit sieben Monaten beim Essen konzentrieren, Sauberkeitserziehung, na und so weiter. Insofern ist mein Erziehungsideal vorerst eher ein passives. Aber immer wieder habe ich schon ein schlechtes Gewissen, fühle mich so moralinsauer, als würde ich dem Kind allen Spaß und alle Chancen vorenthalten. Und manchmal schwingt schon die Angst mit, dass Spielen beim Essen nachher dazu führt, dass sich die Lütte in der Schule nicht konzentrieren kann.
Judith: Den Spaß vorenthalten, sich beim Essen konzentrieren zu müssen? Naja, ich glaube aber ich weiß, was du damit meinst. Nun ist es bei mir und meiner inzwischen zweieinhalbjährigen Tochter schon so, dass sie sich aufs Essen konzentrieren soll. Das heißt sie kann Quatsch erzählen und reden beim Essen, auch singen, wenn sie mag, und ich mache auch gern mit. Das ist natürlich auch eine Art Spiel. Sie soll aber nicht aufstehen, hin und her laufen oder nebenbei puzzeln. Dann fordere ich sie auf, zu entscheiden, ob sie mit dem Essen fertig ist (dann kann sie spielen gehen) oder nicht (dann soll sie erst mal zu Ende essen). Ich hab da noch nie so drüber nachgedacht. Ich weiß nicht, woher das kommt. Die Sorge, dass sie sich später (z.B. in der Schule) dann nicht wird konzen-trieren können, hatte ich so noch nicht. Aber irgendwie möchte ich dann schon, dass sie erst das Eine macht und dann das Andere. Ich weiß nicht, vielleicht ist da schon eine generelle Vorstellung, dass sie lernen soll, sich auf eine Sache zu konzentrieren, anstatt mehrere Dinge gleichzeitig zu machen und hin und her zu springen.
Ansonsten bin auch ich sicher mit den Idealen, von denen du schreibst, an das Kind-Haben herangegangen. Ich finde es gerade noch etwas schwer zu überlegen, was mich wie – vor allem hinsichtlich einer »richtigen Erziehung« – beeinflusst hat beziehungsweise beeinflusst. Was ich aber auf jeden Fall empfinde, ist, dass in jeder Altersstufe neue Angebote, Trends, Erziehungs- – mir fehlt das richtige Wort… Erziehungsmöglichkeiten vielleicht? – auf einen einprasseln. Und zwar in kaum überschaubarer Vielzahl, so dass ich ständig ins Grübeln gerate, ob ich meinem Kind nicht etwas vorenthalte, was bei ihm wie auch immer geartete wichtige Fähigkeiten und Chancenvorteile ausbilden würde. Wobei das immer damit verschwimmt, was ich im Sinne meiner (politischen) Ideale für die richtige Erziehung halte. Vielleicht ein Beispiel: Ich habe mich im Studium und beruflich schwerpunktmäßig viel mit dem Thema Mehrsprachigkeit auseinandergesetzt. Ich fand die Vorstellung immer toll, mein Kind mehrsprachig zu erziehen. Das änderte sich irgendwann dahingehend, dass ich diesen Anspruch in den Hintergrund stellte und eher wollte, dass mein Kind Mehrsprachigkeit wertschätzen lernt. Ich wollte meiner Tochter vielmehr eine positive Sicht darauf vermitteln, dass in Deutschland, in Hamburg, so wie überall auf der Welt, viele Menschen mit mehreren Sprachen leben und dementsprechend auch viele Kinder. Ich wollte ihr zeigen, dass in Hamburg/Deutschland nicht nur deutsch gesprochen wird, sondern verschiedene Sprachgebräuche nicht hierarchisierend auf- oder abzuwerten sind. Nun sprechen wir zu Hause nur deutsch, und es hat sich so ergeben, dass unsere Tochter auch in einer Kita ist, die auf jeden Fall ihre Vorteile hat, aber nun leider doch nicht aktiv mehrsprachig ist. Da knabbere ich derzeit doch etwas dran. Warum eigentlich??? Das Interesse an Sprachen, die Existenz verschiedener Sprachen im Alltag bekommt sie ja dennoch über uns mit, zwar vielleicht nur sporadisch aktiv, aber immerhin. Das Eine ist sicher eine Projektion meiner Wünsche auf sie. Das Andere ist aber schon auch, dass ich mich häufig dabei ertappe, dass ich Angst kriege, ich würde ihr jetzt, wo sie imitierend eine andere Sprache aufschnappen würde, vorenthalten, das zu tun, und sie damit eines wichtigen, zukunftsweisenden Skills beraube beziehungsweise ihr erschwere, diesen zu erwerben.
Etwas weiteres, was mir einfällt, ist, dass ein Aspekt, der mir an der Kita sehr zugesagt hat – und es auch immer noch tut –, ist, dass dort das Spielen, den Raum, den Garten Entdecken im Vordergrund steht. Es gibt sicher auch mal ein Musikangebot, aber eigentlich keine irgendwie gearteten festen Förderangebote – ich habe mal von einer Kita gehört, in der die Kinder jeden Montag in die Kunsthalle gingen –, sondern die »Förderung« besteht darin, dass die Gruppen altersgemischt sind, der Garten groß ist und die Kinder das Haus und die vorhandenen Spielangebote erkunden. Es wird wohl auch mal ein Bewegungsparcours aufgebaut, aber das alles wird offenbar eher spontan entschieden. Das find ich gut. Ich ertappe mich aber auch hier manchmal dabei, dass ich Angst bekomme, mein Kind wird nicht ausreichend gefördert und entwickelt nicht so viele Skills wie andere. Da ist er dann, der Konkurrenzgedanke.
Jonas: Zu dem was du, Judith, angemerkt hast, zu den ständig neuen Angeboten, Trends und Erziehungsmöglichkeiten, kann ich sagen, dass ich gerade merke, wie schnell sich tatsächlich alles, wirklich alles, ändert. Mein erstes Kind wird jetzt 16. Gerade bin ich zum zweiten Mal Vater
geworden und eigentlich ist nichts mehr so wie Ende des letzten Jahrtausends; egal ob es um Einschlaferziehung, Ernährung, Frühförderung oder was auch immer geht. Nur eins ist geblieben: Das Gefühl, dass man auf jeden Fall aufpassen muss, damit ja nichts schief geht mit dem Kind, es in der Schule mitkommt, kreativ und nicht stumpf wird, musikalisch, sportlich und so weiter. Ich hatte damals überhaupt kein Geld, mein Sohn war aber in einem Uni-Kindergarten, also einem für StudentInnen- und DozentInnenkinder, wodurch es eine interessante Spaltung gab: die DozentInnenkinder sind früher abgeholt worden, damit sie zum Klavierunterricht, Ballett und Malkurs gehen konnten, während die StudentInnenkinder bis zur Schließung miteinander im Garten gespielt haben. Ob’s irgendeinen Unterschied gemacht hat? Keine Ahnung, mehr Spaß hatten jedenfalls die StudentInnenkinder. Ich selber bin in einem PädagogInnenhaushalt aufgewachsen, wo es normal war, dass Erziehungskonzepte ausprobiert werden. Ob ich dadurch so bin, wie ich bin, weiß ich auch nicht, es hat aber dazu geführt, dass ich nicht allzu viel auf die Erwartungen gebe, die an Eltern und vor allem an die Kinder gestellt werden. Weil: genervt hat es mich als Kind immer nicht fernsehen zu dürfen, später keinen Computer zu Hause zu haben etc. – auch wenn mich deswegen heute weder Fernsehen noch Computerspiele interessieren, was ich ja durchaus positiv finde. Mein Sohn darf das aber alles.
Mir ging es im Alltag ein wenig wie dir, Judith: Ich habe vieles so gemacht, wie ich es für sinnvoll hielt, ohne drüber nachzudenken, warum ich zum Beispiel auch Spielen und Essen trennen will. Weil’s mich selber nervt, wenn ich mich auf zwei Sachen – füttern und Spielzeuge, die zu Boden fallen – konzentrieren muss vermutlich. Also: Kein Konzept, obwohl ich damals viel dazu gelesen habe, nur Intuition, und vermutlich habe ich alles falsch gemacht damals, und würde heute wohl auch vieles anders machen. Mache ich dann ja auch, bin aber gleichzeitig froh, die Fehler gemacht zu haben, die ich gemacht habe, weil mein Sohn der Beste ist, den ich mir als 16-Jährigen vorstellen könnte. Er ist genauso ein fauler Slacker geworden, wie ich es mit 16 war, eher durchschnittlicher Schüler, nicht wirklich musikalisch, aber eben vor allem nicht ehrgeizig und deswegen nicht, wie viele andere in seinem Alter, als Jugendlicher schon gestresst vom Leben. Das ist gut so, finde ich.
Beim zweiten Kind wird sich jetzt zeigen müssen, wie sehr die neuen Lebensumstände – eben nicht mehr Student, sondern arbeitend, nur noch ein wenig prekär, dafür mit mehr Lebenserfahrung – dem Alltag das Gefühl einpflanzen, aufpassen zu müssen. Bislang fühle ich mich dem Kommenden gewappnet.
Astrid: Es stimmt sicher, dass im Alltag und mit immer mehr Routine die Sorgen wegfallen können, ein Unterlassen von einer pädagogischen Maßnahme könne »fatale« Folgen haben. Und sicher ist es auch meinem Freundeskreis zu verdanken, dass die Softskills-Jagd bei uns schon mit anderen Kategorien besetzt ist, als ich das im Schulalltag meiner Nichte oder aus den Kinder-Olympiade-Geschichten anderer Mütter höre. Die Angst, pädagogische Fehler zu machen, ist wohl in Verbund um die Sorge um das Leben des Neugeborenen an sich noch vehementer. Aber seltsam ist es schon, dass ich mich aus der Analyse gegenwärtiger staatlicher und ökonomischer Erziehungsziele (aus Lehrplänen, Zeitungsartikeln etc. herauskristallisiert) eigentlich dagegen entschieden hatte, meinem Kind überhaupt eine Pädagogik »anzutun«. Und stattdessen merke ich immer wieder, dass mir das Pädagogisieren unterläuft. Nach meiner Ausbildung als Erzieherin und einem ständigen Fokus auf schulische Institutionen als Ordnungsanstalten im Sinne Foucaults hatte ich wirklich vor, »We don’t need no education« zum Prinzip des Zusammenlebens mit meinem Kind zu machen. Versteht mich nicht falsch, ich meine nicht laissez faire, ich finde schon, dass Adorno Recht hatte, wenn er meinte: Zur Befähigung zur Mündigkeit gehöre eben auch die Verurteilung des Barbarischen. Aber Krabbelgruppen als soziale Interaktionsförderung, Bewegungsgruppen zur Motorikschulung, Gedichte für Wichte ab sechs Monaten und, und, und – das wollte ich bewusst ignorieren. Diese bewusste Ignoranz führt aber eher zu einer massiven Anstrengung – es ist wie beim Atheismus: Gott zu leugnen heißt eben doch, ihm eine Bedeutung zuzuerkennen.
Judith, du schreibst ja auch, dass du dennoch immer wieder befürchtest, deinem Kind etwas vorzuenthalten. Natürlich ist das eine heftige Unbill, es in die Sorge der Mütter und Väter als Individuum zu legen, dafür verantwortlich zu seien, ihre Kinder mit allem auszustatten, um heute und morgen bestehen zu können. Aber das ändert nichts an meinem schlechten Gewissen. Und was bedeutet dieses Bestehen eigentlich? Irgendwie vergesse ich dabei immer wieder, zu fragen wofür und vor wem. Ich find es faszinierend schön, wie leicht du, Jonas, damit umgehst, dass dein Sohn ein durchschnittlicher Schüler ist, dass du das unterstützt und es dich sogar erfreut. Mein Mann und ich haben kurz nach der Geburt schon gehört, dass wir froh sein sollen, dass wir ein Mädchen haben, die würden in der Schule nicht so viel Ärger machen. Und nun ist es ja nicht so, dass ich nicht auch Mädchen (und Jungs) kenne, oder dass es sie überhaupt gibt, die nicht nur durchschnittlich, sondern unterm Durchschnitt liegen. Denen die Lust am Lesen,Rechnen etc. vollkommen aberzogen wurde. Und da es für Eliten nun mal immer auch Verlierer braucht und das Schulsystem eh schon vorsieht, dass es Verlierer gibt (denn wer soll denn sonst die Jobs machen, die die Elite nicht besetzen will), komme ich schon manchmal ins Grübeln, ob ich meinem Kind nicht genug mit auf den Weg gebe, um wenigstens nicht zu den Verlierern zu gehören. Dass ich das denke, nervt – statt meinem Kind die Notwendigkeit beizubringen, Konkurrenz Scheiße zu finden, rutsche ich doch selbst immer wieder in die Denke rein, sie sprachlich, aufnahmefähig, motorisch etc. für dieselbe fit zu machen.
Judith: Ja, wie gesagt, in die Denke rutsche ich auch immer wieder rein. Beziehungsweise möchte ich tatsächlich, dass meine Tochter »sozial interaktionsfähig« wird. Ich war mit ihr in Krabbelgruppen und hatte den Eindruck, sie machten ihr Spaß. Meine vorrangige Idee war und ist, dass sie – so sie denn Spaß daran hat – lernt, mit anderen Menschen, und vor allem Kindern, umzugehen. Zumal wir derzeit als Kleinfamilie zusammen wohnen. Ich würde es selbst nicht »soziale Interaktionsfähigkeit« nennen, aber sicher geht es genau darum: mit Mitmenschen klarkommen. Und es ist gleichzeitig auch einer jener wichtigen Softskills, um in einer konkurrenzorientierten Welt zu bestehen. Aber vielleicht auch eine Möglichkeit zu lernen, Konkurrenz scheiße zu finden?
Ich weiß nicht… ich glaube, ich möchte schon, dass mein Kind gewisse Dinge lernt, wie den Umgang mit anderen, und dass es die Möglichkeit hat, herauszufinden und zu vertiefen, was für es gut ist oder was ihm Spaß macht. Da denke ich nicht bewusst in erster Linie an Konkurrenz, habe sogar eigentlich auch den Anspruch, ihm beizubringen, dass Konkurrenz scheiße ist, wie du so schön schreibst, Astrid. Und dennoch liege ich da gleichzeitig – ob intendiert oder nicht – auf dieser (Soft)-Skill-Jagdlinie. Zumal ich mich auch nicht ganz davon freimachen kann, dass ich möchte, dass mein Kind nicht zu den Verlierern gehört, die ja tatsächlich vorgesehen sind.
Astrid: Du hast absolut Recht, selbstverständlich ist es verdammt gut, wenn Kinder lernen, mit anderen auszukommen, Interessen ausbilden etc. Vielleicht theoretisiere ich auch zu viel, wenn ich gleichzeitig jedoch sehe, dass Schule, Unternehmen und Staat dann aber wieder eben diese Interessen, dieses – ich nenn’s jetzt mal - Freie im Kind aufnehmen, um genau daraus seine spezifische Rolle in der Konkurrenz auszumachen. Da ist dann die Flexibilität, die Kontaktfreude, die Mehrsprachigkeit und die Lust daran eben kein Selbstzweck, sondern wird sofort ins Profil des Kindes als im Besonderen verwertbar hineingebracht. Weißt du, ich meine diese »künstlerischen Lebensweisen«, die an sich befreiend sein können, vom Kapital und seinem staatlichen Erfüllungsgehilfen aber gut und flüssig als für die eigenen Zwecke verwertbar angewendet wurden. Wie man damit umgeht, weiß ich absolut nicht.
Judith: Ja, das meine ich auch, du hast das jetzt noch mal besser auf den Punkt gebracht. Und ja, wie geht man damit um? Ganz darüberstehen ist vielleicht nicht möglich. Oder: ist ganz sicher nicht möglich. Vielleicht ist einfach ein konstantes Reflektieren dessen das Einzige.
Jonas: Ich will selbstverständlich auch nicht, dass meine Kinder zu den Verlierern gehören, wobei auch da die Frage ist, wie genau sich das denn definiert. Für meine Oma bin ich wohl ein Verlierer, mit Mitte 30 gerade mal seit einem Jahr eine erste schlecht bezahlte Stelle… Aber ich war ja schließlich auch nur ein durchschnittlicher Schüler. Dennoch fühle ich mich nicht als Verlierer und ich glaube, das wäre es, was ich meinen Kindern zu diesem Punkt mit auf den Weg geben wollen würde: Dass es nämlich nicht völlig Wurscht ist, wie man selber sich in diesem System aus Erwartungen, Druck und Konkurrenz wahrnimmt, und dass es manchmal Wurscht ist, was die Oma denkt. Meine Eltern haben mich immer völlig in Ruhe gelassen mit allem, was mit Schule, Leistung, Arbeit und so weiter zu tun hatte. Ich war mehrfach kurz davor, die Schule zu schmeißen und habe letztendlich eine Doktorarbeit geschrieben; vielleicht ja auch nur, weil ich eben in Ruhe gelassen wurde und nicht die Erwartung an mich gestellt wurde: Du hast zu studieren, zu promovieren etc. Dieses in Ruhe Lassen versuche ich, glaube ich, als positive und letztendlich auch motivierende Erfahrung, weiterzutragen.
Und gleichzeitig mache ich ja selber mit bei diesem Flexibilitätswahn, den du beschrieben hast, Astrid; doch noch einen Lehrauftrag annehmen und noch einen schlecht oder unbezahlten Artikel schreiben, um bloß nicht echt irgendwo ankommen zu müssen in der Arbeitswelt. Selbstausbeutung vorzuleben ist vermutlich auch nicht der richtige Weg und vielleicht abschreckend genug für die nächste Generation, dann doch noch mal andere Wege zu suchen, wie auch immer die aussehen mögen. Der Sohn, der schon sprechen kann, will übrigens Regisseur werden, irgendwas scheint angekommen zu sein, bloß was, weiß ich noch nicht.
Was meinst du eigentlich mit dem Umgang mit anderen genau, Astrid, den dein Kind lernen soll: Empathie? Oder eher: klarkommen mit allen? Um eben flexibel zu sein und sich auf alle einlassen zu können? Ersteres wäre mir wichtig weiterzugeben: eben kein Arschloch zu sein. Aber auch klar zu sehen mit wem man zusammenarbeiten, -leben und was auch immer will und mit wem eben nicht.
Ich finde es schwierig, meine eigenen Erwartungen tatsächlich zu reflektieren, weil ich seit ein paar Jahren das Gefühl habe, mitgegeben zu haben, was ging – an Input kultureller und politischer Natur oder was auch immer. Das dann schon. Und auch der Versuch meinen Sohn dazu zu erziehen, ein guter Mensch zu sein – so blöd das klingt. Und nun bin ich hauptsächlich damit beschäftigt zu beobachten, was er damit macht. Bislang viel Schönes, viel Unsinn, den auch ich in dem Alter gemacht habe, aber vor allem zwei Dinge: Interesse an der Welt und den Menschen bei einer gleichzeitig grundsätzlich kritischen Sicht auf die Welt. Das gefällt mir.
Die von Foucault festgestellte Ökonomie des Lebens, also die Politik auf die Lebewesen und ihre Körper und Seelen im Sinne einer Optimierung der Bevölkerung, ist in den letzten Jahrzehnten verstärkt in die Eigenverantwortlichkeit der Individuen gelegt worden. Die Familie und die Kindererziehung sind aufgrund ihrer emotionalen und sozialen Beschaffenheit eine immens gute Basis, diese Ökonomie des Lebens vom Individuum ausführen zu lassen und zu den staatlichen Praktiken »Ja« zu sagen. Insofern bildet die Familie weiterhin jenen Kern, in welchem staatliche und ökonomische Leitlinien ideologisch verankert werden. Der Familienalltag kann also keineswegs als eine rein private Angelegenheit an-, wahr- und ernstgenommen werden. Vielmehr dient seine emotionale und soziale Struktur als Garant, eine – wie auch immer geartete – Staatsräson zu erfüllen. Daher lohnt es sich durchaus, den Fokus darauf zu legen, was der Staat und seine Institutionen eigentlich für eine Erziehung wollen. Wohin sollen Kinder optimiert werden? Eine prägnante Zusammenfassung bietet das Beispiel der Grundschullehrerin aus Bayern, die strafversetzt wurde, weil ihr Unterricht allein der Wissensvermittlung, dem Erlangen von Kompetenzen diente, und ihre SchülerInnen eben nicht, wie vorgesehen, durch Noten und Schulempfehlungen differenziert wurden. http://0cn.de/elty. Erziehung soll staatlicherseits dazu dienen, das ökonomisch-ideologische System der Konkurrenz und Differenzierung aufrecht zu erhalten und die Kinder jeweils (nach ihren Begabungen – was immer das nun auch heißen mag) mit den entsprechenden Kompetenzen auszustatten. Das mögen sicher nicht wenige für ein hehres Ziel halten – in dem Fall wird unser Gespräch dem- oder derjenigen kaum »aus der Seele sprechen«.
Wenn aber Lernen und Aufwachsen wie bei uns mit dem Ideal der Selbständigkeit und Eigenkompetenz verbunden ist, so gerät der Zwiespalt zwischen wahrgenommenem (gesellschaftlich und staatlich verordnetem) Erziehungsauftrag und dem eigenen politisch-kulturellen Ideal oftmals zur Seelenpein. Es liegt selbstverständlich noch immer im Auge der BetrachterInnen, was und wer als VerliererIn im kapitalistischen Konkurrenzsystem definiert wird. Dennoch behalten sich Unternehmen und staatliche Schulungsinstitutionen vor, qua Noten, Schulzugang etc. eine hierarchisierte Aufteilung zu unternehmen, wer die leichteren und besser bezahlten Jobs mit Wohlstandsbeigabe erhält. Und – so definiert es das Grundgesetz – Eltern tragen dabei einen erheblichen Ausführungsanteil. Dass dies keine abstrakte Angelegenheit ist, hat unser kurzes Gespräch gezeigt. Eine permanente Selbstüberprüfung kann aus just diesem Dilemma entstehen – ist das Kind genug gefördert, hat es alle Möglichkeiten erhalten, um überhaupt die Chance zu haben, der schlechtbezahlten, körperlich und seelisch belastenden Waagschale der Konkurrenz zu entrinnen? Denn die Kriterien dazu setzen in den seltensten Fällen die Eltern und Kinder eigenständig fest, sondern sie müssen sich (meistens) an den Vorgaben der Kapitalgesellschaft ausrichten.
Als in den 1970er Jahren der Slogan »Das Private ist politisch« auch die Kinderzimmer ereilte, schwebte den jungen Eltern und ErzieherInnen ein Modell vor, nachdem eine Pädagogik fernab der autoritären und technokratischen Strukturen eine grundlegende Veränderung des politisch-kulturellen Systems ermöglichen könnte. Lukas Böckmann/Annika Mecklenbrauck, Bitte mach mir (k)ein Kind. Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), The Mamas and the Papas. Reproduktion, Pop & widerspenstige Verhältnisse, Mainz 2013, 9 – 16. In Anlehnung an Ideen reformerischer Pädagogik richtete sich der Blick auf Erziehung zur Selbst- und Mitbestimmung und sozialer Verantwortung in einem solidarischen Miteinander sowie gleichzeitig auf die Entwicklung von Kompetenzen und Entfaltung gemäß individueller Bedürfnisse. Ein besonderes Dilemma dieser Pädagogik besteht nun aber darin, dass jene Politik, die das Leben formt, in dem die Arbeit des Individuums an sich selbst einer ständigen Optimierung des Körpers, der Seele und der Fertigkeiten dient, selbst in der »Widerstandspädagogik« aufgeht. Sogenannte künstlerische Pädagogikziele (und damit sind hier tatsächlich auch bohemienhafte, anti-bourgeoise und widerständige gemeint) sind längst als Konkurrenzbausteine adaptiert worden. Flexibilität, Kreativität und soziale Interaktion gelten selbst bei Niedriglohngruppen schon als Einstellungsvoraussetzung und damit als Wettbewerbsvorteil in der Konkurrenz um den Lohnarbeitsplatz.
Hat die Pädagogik, die Erziehung in der Familie als Widerstandsfeld versagt? Absolut! Familie, das zeigt sich gerade in der Überführung der Reformpädagogischen Ansätze der 68er ins allgemeine Gesellschaftswesen, steht als »Keimzelle« des Staates zu sehr im dialektischen Verhältnis mit dem Staat, als dass sie diesen grundsätzlich unterlaufen könnte. Denn zu leicht können die sozialen und emotionalen Grundbedingungen der Familie (die Sorge und die Liebe für das Kind) im kurzzeitigen, ausnahmsweisen und dann schleichenden grundsätzlichen Bejahen der Konkurrenzförderung aufgehen. Tun sie es nicht, bedeutet das für Eltern und Kind eine enorme Unbill und Last, sich in ständiger Konfrontation zur Gesellschaft und ihrer Kultur und damit im Konkreten zu den NachbarInnen, LehrerInnen und SchulfreundInnen zu stellen. Familie als Hort des Privaten in der bürgerlichen Kultur bedeutet eben auch, dass diese Bürde von den Eltern und den Kindern alleine getragen wird und damit der Kopf beim ständigen Rennen gegen die Mauer Gefahr läuft, blutig zu werden. Als politisches Movens kann u.a. nur das Apriori der Reformpädagogik taugen: »Das Private ist politisch!«. Die Austragung biopolitischer Optimierungsarbeiten auf den Seelen und Körpern der Menschen (einschließlich der Kinder) wird in der Familie besonders erfahrbar – sie ist aber weder singulär noch etwas Besonderes im kulturellen Gefüge einer permanenten Kultur der Optimierung des Selbst für Unternehmen, Schule und Nation. »Das Private ist politisch« ist ein in beide Richtungen durchlässiges Diktum, welches es ermöglicht die konzentrierten Probleme der Biopolitik in der Familie als gesellschaftliches Problem zu behandeln und das Dilemma der Eltern als nur gesamtgesellschaftlich analysier- und lösbar zu betrachten.
Jonas Engelmann, Astrid Henning-Mohr und Judith Rudolph
Jonas, Judith und Astrid lohnarbeiten als WissenschaftlerInnen, DozentInnen,VerlegerInnen, freie JournalistInnen und LektorInnen und sind währenddessen,zwischendrin, drüberhinweg Mütter und Väter von insgesamt vier Kindern.