»Der Erste Weltkrieg lässt sich nicht zum Kampf ›Gut gegen Böse‹ verkitschen«

Volker Weiß arbeitet als Historiker in Hamburg, 2012 erschien von ihm die Studie Moderne Antimoderne. Arthur Moeller van den Bruck und die Transformation des Konservatismus im Verlag Ferdinand Schöningh. Im selben Verlag veröffentlichte er Deutschlands Neue Rechte. Angriff der Eliten – Von Spengler bis Sarrazin. Er beschäftigt sich wissenschaftlich und publizistisch mit der Geschichte konservativer und faschistischer Ideologien und schreibt regelmäßig für die Zeit und Jungle World. Die Phase 2 interviewte Volker Weiß per Mail zu den Auswirkungen des Ersten Weltkrieges.

Phase 2 Momentan ist der Erste Weltkrieg medial sehr präsent. Jedes Magazin und jede Zeitung publiziert über diese Zeit, die sonst selten diskutiert wird. Überrascht Dich das publizistische Engagement, trotz der nachrangigen Position im deutschen Geschichtsbewusstsein, schon vor dem Jahrestag? Welche Rolle spielt der Erste Weltkrieg für das deutsche Gedächtnis?

Volker Weiß Im Gedächtnis der Deutschen heute dürfte der Erste Weltkrieg dem Zweiten untergeordnet sein. Man weiß eigentlich sehr wenig vom »Großen Krieg«, jenseits der Klischees vom Schützengraben und roten Fokker-Flugzeugen. Zudem steht, was in Osteuropa passierte, im Erinnerungsschatten der Westfront. Der Zweite Weltkrieg ist mit wesentlich mehr Bildern und Ereignissen Bestandteil des kollektiven Erinnerns. Statt aber die Zusammenhänge zwischen beiden Ereignissen zu sehen, wird dann der Erste verklärt. Gemessen am zweiten großen Krieg des 20. Jahrhunderts wirkt er fast unschuldig, dabei war er der erste Krieg des »Neuen Typs«, der auch als »totaler Krieg« bezeichnet wurde.

Ganz überraschend ist diese »Jahrhundert-Welle« nicht, schon die Erfolge von Christian Krachts Imperium und Florian Illies 1913 deuteten darauf hin. Die Belle Époque ist populär, das zeigt auch ein Nachmittag auf dem Kinderspielplatz in einer besseren Gegend: Der Nachwuchs im Restbürgertum trägt jetzt wieder wilhelminische Namen. Sie entspringen dem nostalgischen Bedürfnis des Bionade-Biedermeier, die Sehnsucht nach der »unschuldigen« Epoche, die der Gründerzeit folgte. Ihr entstammen auch die Fassaden, von denen die bevorzugten Wohnquartiere dieser Schicht dominiert werden: Historismus und Jugendstil. Vielleicht ist der Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses ein ähnliches Symptom, immerhin war es Schauplatz zweier wichtiger Kriegsreden des Kaisers. Es ist eine Art »Rückschaufehler«, wie der Fotograf Eiko Grimberg seine Arbeit über die Rekonstruktion des Stadtschlosses betitelt hat. Damit benennt er das Gesetz jeder Nostalgie: Man will sich nicht mehr daran erinnern, wie sehr man schon einmal daneben lag.

Dass die Medien mit dem Thema bereits vor dem August aufwarten, ist wohl eher den Dynamiken des Marktes geschuldet. Alle müssen etwas machen, niemand darf einen Wettbewerbsnachteil riskieren. Daher hat Spiegel Geschichte das Heft zum Ersten Weltkrieg bereits im September 2013 auf den Markt geworfen – fast ein Jahr vor dem eigentlichen Jahrestag. Konkurrenz und Verkaufsdruck zwingen die Verlage dazu, die Schamgrenze zu senken. Das ist wie mit Spekulatius und Lebkuchen, die ja auch schon unverschämt früh vor der Adventszeit im Supermarkt stehen.

Phase 2 Wenn in Deutschland über Kriegsschuld diskutiert wird, schwingen der Zweite Weltkrieg und die Shoah im Kopf immer mit. Deutschland = Täterland, das ist eine Gleichung, die linke Kritik einfach macht. Vielleicht in Bezug auf den Ersten Weltkrieg zu einfach? Ist die Frage nach Kriegsschuld und Weltmachtstreben bzw. -fantasien für den Ersten Weltkrieg komplexer als manche Linke wahrhaben wollen?

Volker Weiß Diese Ex-Post-Perspektive ist natürlich generell ein Phänomen in der Geschichtsrezeption. Geschichte wird von den Nachgeborenen immer aus ihrem Kenntnisstand heraus bewertet.. Der Zivilisationsbruch im 20. Jahrhundert verlängerte die Frage, wie es dazu kommen konnte, auf die ganze vorherige Epoche. Das ist durchaus sinnvoll, da es eine ideengeschichtliche Stringenz des Nationalismus gibt, die eine Brücke vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg schlägt. Die Alldeutsche Bewegung etwa gehörte zu den Kräften, die erst den Krieg mit Maximalzielen forcierten und aus der sich nach der Niederlage der Nationalsozialismus speiste. Nur muss man auch die vielfältigen Unterschiede zwischen 1914 und 1939 deutlich sehen.

Allerdings ist es keineswegs so, dass »die Linke« schon immer die Frage nach der deutschen Kriegsschuld in den Mittelpunkt des Erinnerns gestellt hat. Das ist eigentlich eher ein recht neues Phänomen im Nachhall der Kontroverse um Fritz Fischers Buch Griff nach der Weltmacht (1961) und der sechziger Jahre. In der Weimarer Zeit wehrten sich auch linke Parteien gegen die Schuldzuweisungen. Die SozialdemokratInnen wollten sich ungern an die eigene Rolle im »Burgfrieden« erinnern. In der radikalen Linken dürfte viele Jahre Lenins Lesart des Krieges als Auseinandersetzung zwischen den imperialistischen Akteuren dominiert haben – bis weit in die heutige Zeit hinein.

Phase 2 Es wird oft darauf verwiesen, dass es vor dem Ersten Weltkrieg ein komplexes Geflecht von nationalstaatlichen Interessen gab und deshalb keine eindeutige Schuldzuweisung möglich sei. Das gilt aber doch sicherlich für jede beliebige Zeit. Würdest Du sagen, dass die Haupt-Kriegsschuld bei Deutschland lag? Oder waren es am Ende die Österreicher?

Volker Weiß Das Deutsche Reich hat ohne Frage einen drastischen Nationalismus gepflegt und Hochrisikopolitik betrieben. Innerhalb der Eliten von Wirtschaft, Militär und Politik kalkulierte man mit dem Konflikt und steuerte daher nicht dagegen, als es noch möglich gewesen wäre. Das Problem war, dass Deutschland als wirtschaftlich boomende und kommende Macht in den Jahren vor dem Krieg den geopolitischen Status Quo ändern wollte. Durch seine »Weltpolitik«, die Kolonialausdehnung, die Flottenrüstung und wirtschaftliches Engagement u.a. im Mittleren Osten, drängte es ziemlich nassforsch in die abgesteckten und umkämpften Interessensphären der anderen Großmächte. Außerdem verfügte das Reich kaum über Kontrollmechanismen z.B. des Parlaments oder der zivilen Regierung. So konnten sich fatale Dynamiken entwickeln, die den Krieg ermöglichten. Diplomatische Allianzen oder strategische Planungen, wie die Garantieerklärung gegenüber Österreich-Ungarn oder der Schlieffenplan, wurden ab einem bestimmten Punkt zum Automatismus. Hinzu kamen die ungelösten inneren Probleme des Reiches, die sozialen Konflikte, Verfassungsfragen, politische Mitsprache. Nach heutigen Maßstäben hätten die SozialdemokratInnen 1912 die Regierung übernehmen müssen, wovon sie u.a. das preußische Klassenwahlrecht abhielt. Der Adel war seit dem 19. Jahrhundert politisch und wirtschaftlich im Niedergang. Der bürgerliche Zeitgeist zeigte sich ermüdet vom »Materialismus« und hoffte auf eine »Reinigung« im »Stahlbad des Krieges«. Man war ja auch mürbe durch die zahlreichen Vorkriegskrisen. Im »Geist von 1914« schienen dann alle Spannungen plötzlich nachranging, die Nation an einem Strang zu ziehen. Insofern hatte Deutschland einen sehr großen Anteil am Kriegsausbruch.

Es stand damit aber nicht alleine, es gab solche Probleme auch in den anderen Ländern. Nicht nur die deutsche Arbeiterbewegung versagte, nicht nur die deutsche Regierung dachte, mit dem Krieg einen guten Schnitt zu machen. Selbstredend suchten auch andere Regierungen ihren wirtschaftlichen Vorteil. Der Erste Weltkrieg lässt sich nicht zum Kampf »Gut gegen Böse« verkitschen. Das wurde auch selten behauptet, Fischer hatte nie von einer »Alleinschuld« gesprochen. In der Schuldzuweisung des Versailler Vertrages, im sogenannten Kriegsschuld-Artikel 231, wurde formuliert, dass »Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind«, was die Grundlage für Reparationsforderungen bildete. Das war natürlich arg verkürzt, ist aber aus der politischen Situation heraus zu erklären.

Phase 2 Der Historiker Christopher Clark stellt in Die Schlafwandler die deutsche Kriegsschuld infrage. Das dankbare Feuilleton freut sich – ganz ohne Ambivalenzen – wenn jemand, noch dazu ein Professor in Cambridge, bei Kriegsschuld nicht gleich Deutschland ruft. Ist der Wunsch nach Entlassung aus der TäterInnenschaft der Grund für Clarks Erfolg in Deutschland?

Volker Weiß In erster Linie sehe ich da wieder das Bedürfnis nach einer sauberen Vergangenheit am Werk, in das sich auch teilweise noch immer gekränkte nationale Eitelkeit mischt. Es gab im Feuilleton aber zugleich eine Reihe an Gegenstimmen, beispielsweise von Hans-Ulrich Wehler, Volker Ullrich und Richard Herzinger. Vielleicht muss in der Debatte um Clark zwischen seinem Buch einerseits und andererseits den spezifischen Lektürebedürfnissen hierzulande unterschieden werden. Er spricht ja das Deutsche Reich keineswegs von seiner Verantwortung frei und stellt die Politik des Deutschen Reiches treffend als »aggressiv« dar. Clark verdeutlicht eben auch, dass die anderen Nationen ebenso ihre eigenen Interessen verfolgten und gravierende Fehler machten. Ich fand das Buch lange nicht so »entlastend«, wie es diskutiert wurde. So war zumindest mein Eindruck – bis Clark ausgerechnet der Jungen Freiheit ein ausführliches Interview gegeben hat.

Allerdings ist auch Clarks Erkenntnisinteresse ebenso zwangsläufig von der Gegenwart geleitet. Das ist beispielsweise an der Geschichte des serbischen Terrorismus zu sehen, die er ausführlich erzählt. Ihn fasziniert offensichtlich die Frage, wie eine kleine Gruppe von Fanatikern – mit der Unterstützung von Regierungen und Geheimdiensten – durch einen Terrorakt Weltgeschichte schreiben kann. Dieses Narrativ ist deutlich vom 11. September beeinflusst. Zudem ist die Debatte stark von der Situation des heutigen Europa geprägt. Wie sooft wird ein gegenwärtiges Stück vor historischer Kulisse aufgeführt. Hier dürfte die britische Europaskepsis eine Rolle spielen. Dortige Konservative haben das Gefühl, der Kampf gegen Europa sei die dritte Abwehrschlacht gegen die Deutschen in einem Jahrhundert. Die Interventionen Clarks greifen diese Haltung wohl auf und wenden sie gegen die IsolationistInnen, indem sie darauf hinweisen, dass vielleicht schon der Erste Weltkrieg Unsinn war. Das ist natürlich eine Provokation.

Er steht auch keinesfalls alleine, auch wenn er in Großbritannien lange nicht so stürmisch rezipiert wird wie hier. Der Amerikaner Adam Hochschildt stellt in seiner Erzählung des Weltkrieges beispielsweise die katastrophalen Fehler der britischen zivilen und militärischen Führung heraus. Niall Ferguson, der in Havard lehrt, hat schon vor Jahren das britische Narrativ der reinen Verteidigung in Frage gestellt. Kürzlich hat sich auch Richard J. Evans entsprechend geäußert. Evans und Hochschildt kommen von links, was sich aber von Ferguson beim besten Willen nicht behaupten lässt.

In den derzeitigen deutschen Debatten um die Thesen von Clark sind es dagegen, neben der uralten Kränkung durch die Niederlage 1918, die wohl immer noch tief sitzt, auch das Gefühl gerade Europa zu finanzieren und den Euro durch deutsches Geld gerettet zu haben. Da will man jetzt endlich auch historische Genugtuung und fängt mit dem Ersten Weltkrieg an. Das Leitmotiv der Schlafwandler ist unterdessen nur ein Aufguss der alten These des »Hineinschlitterns«. Unabhängig davon, wem man die Hauptverantwortung anlasten möchte, ist diese Konstruktion unhaltbar. Beim Schlafwandeln ist niemand mehr verantwortlich. Aber niemand ist im Schlaf in den Weltkrieg gewandelt, es gab klare AkteurInnen und Interessen. Man kann von Fehlern reden und daraus Schlüsse ziehen, aber nicht vom Versehen.

Phase 2 Innerhalb der Linken gab und gibt es eine recht weitreichende Beschäftigung mit Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Bezug auf den Nationalsozialismus. Neben der Abwehr von konkreter Schuld steht die abstrakte Schuldanerkennung, auch Verantwortung wird nur allgemein übernommen. Die Goldhagen-Debatte war ein prominentes Beispiel für reflexhafte Schuldabwehr. Zudem ist schon länger eine Europäisierung der Schuld zu beobachten. Betont werden gemeinsame Leidenserfahrungen, bei denen die Frage nach TäterInnen und Opfern keine Rolle spielt. Lassen sich ähnliche erinnerungspolitische Muster in Bezug auf den Ersten Weltkrieg beobachten oder ist die Geschichtspolitik hier eine ganz andere?

Volker Weiß Ähnlichkeiten in der offiziellen Erinnerungspolitik gab es sicher in der Bildsprache, Kohl und Mitterand 1984 in Verdun, Kohl und Reagan 1985 in Bitburg ... Ich halte das für Absicht und für falsch, denn ich würde zwischen dem Soldatenfriedhof in Bitburg und dem Beinhaus von Verdun, mit den Knochen von über hunderttausend unbekannten Gefallenen, doch noch unterscheiden wollen. In Bitburg wusste man, dass man auch vor Gräbern der Waffen-SS stand.

Ich bin mir nicht sicher, ob es hierzulande heute noch etwas gibt, was sich als »linkes Gedächtnis« an den Ersten Weltkrieg bezeichnen ließe. Die Bedeutung der Oktoberrevolution von 1917 für die heutige Linke hat immens abgenommen. Auf sie hat man sich jahrzehntelang berufen, wie auch auf den November 1918, immerhin eine erfolgreiche deutsche Revolution. Ebenso gehörte der Hass gegen die SozialdemokratInnen zum Erbe, die diese nicht konsequent weitergeführt hatten. Oder man erinnerte an Liebknecht-Luxemburg, die Münchner Räterepublik ... Zusammen mit der pazifistischen Grundhaltung vieler Linker waren das Früchte des Krieges. Der Bildband Krieg dem Kriege mit seinen drastischen Fotodokumenten, ein Klassiker noch aus der Weimarer Zeit, durfte lange in keinem linken Bücherschrank fehlen. Aber ich glaube nicht, dass diese Elemente heute noch eine Rolle spielen. Dabei wirkt der Erste Weltkrieg in einigen Konflikten des Mittleren Osten und Osteuropas noch bis heute fort.

Eine Europäisierung historischer Debatten halte ich für notwendig. Es kommt darauf an, wie sie geführt werden. Man kann, um das Beispiel des Zweiten Weltkrieges zu nehmen, anderen Nationen schlecht untersagen, über die eigene Kollaboration oder den Antisemitismus zu sprechen. Der Hinweis, das sei alles von den Deutschen gekommen, dient oft genug, wie jetzt in Ungarn, ebenso der Schuldabwehr. Umgekehrt darf sich die deutsche Debatte nicht hinter den ausländischen KollaborateurInnen verstecken. Auch wenn Pétain nur durch die Deutschen an die Macht kam, musste Frankreich das Vichy-Regime aufarbeiten, da dort die eigene Geschichte des Ultranationalismus kulminierte.

Phase 2 Der Erste Weltkrieg wird auch als »Urkatastrophe« bezeichnet. Damit wird auf seine Bedeutung für den Zweiten Weltkrieg und die Shoah angespielt. Wie schätzt Du das ein? War dieser Krieg ein Turbo-Boost für nationalistische Kräfte in Europa? War er eine der Voraussetzungen für die Shoah?

Volker Weiß Ohne Zweifel radikalisierte der Erste Weltkrieg die Kriegsführung und brachte eine massenhafte Verrohung mit sich. Das schädigte die Gesellschaft – übrigens in allen beteiligten Nationen – derart, dass die Hemmschwellen für den nächsten Exzess gesunken waren. Die Welt war 1918 eine grundlegend andere als 1914. Im Deutschen Reich war bereits mit dem Kriegsausbruch die politische Tektonik in Bewegung geraten. Der Kaiser war praktisch verschwunden, Militär und Wirtschaft lenkten die Geschicke, die Gewerkschaften waren plötzlich akzeptierte Partnerinnen, solange sie sich in den Dienst des Krieges stellten. Die Gründung der Deutschen Vaterlandspartei 1917 gab einen Vorgeschmack auf das, was auf der Rechten den wilhelminischen Konservatismus ablösen sollte. Eine ganze politische Generation war durch den Krieg politisch sozialisiert, aber auch brutalisiert worden. Immerhin zog man auf linker Seite pazifistische Konsequenzen, während es die Rechte nach Revanche dürstete. In ihren Reihen wurde der heroische Frontkämpfer zum Idealtypus. Das gilt für Deutschland ebenso wie für Italien, wo die faschistischen Kampfbünde »Fasci di combattimento« aus den Reihen der Veteranen hervorgingen. In Italien begann die Geschichte der faschistischen Bewegung in dem Moment, als Mussolini die sozialistische Partei verließ und für den Kriegseintritt an der Seite Frankreichs trommelte.

In Deutschland wurden die Probleme der Jahre 1914-1918 durch das Militär und die Wirtschaft schon in der Weimarer Zeit eingehend analysiert. Dabei wurde aus der ersten Kriegsniederlage nicht die Konsequenz gezogen, künftig vorsichtiger zu agieren, sich international konstruktiv zu vernetzen, Krisendiplomatie zu betreiben und vor allem nie wieder gegen die anglo-amerikanische Industriekapazität zu rüsten. Stattdessen entschied man sich, im angestrebten nächsten Krieg noch rücksichtsloser zu sein – mit dem Ergebnis, dass man z.B. die Zwangsarbeit drastisch ausbaute und den Osten germanisieren wollte. Im Ersten Weltkrieg blieb beides dagegen noch Versuch und Planspiel. Die Zeichen standen auf Revanche, nicht auf Erkenntnis. Die einzige »Lehre«, die man für den nächsten Krieg zog, war die, dass man all diejenigen auszumerzen hatte, die man für die Hauptschuldigen an der letzten Niederlage hielt, vor allem Juden, Jüdinnen und MarxistInnen.

Phase 2 In der linken Erzählung herrscht das Bild der kriegswilligen Deutschen vor. SPD und ähnliche Linke stimmten letztlich für den Krieg und vermeintlich linke Vordenker halluzinierten von einer gerechteren Welt nach einem europäischen Krieg. Kann von allgemeiner Pro-Kriegsstimmung gesprochen werden?

Volker Weiß Das Kaiserreich war ohne Zweifel eine militärverliebte Gesellschaft. Man sollte sich aber hüten, die offizielle Propaganda vom »Augusterlebnis« ungebrochen wiederzukäuen, wonach »das deutsche Volk wie ein Mann« an die Gewehre eilte. Das ist durch die Forschung längst widerlegt. Jeffrey Verhey beschreibt das recht anschaulich in seiner Studie zur Erfindung der Volksgemeinschaft: Es gab nicht nur die bekannten tausenden kriegsbesoffenen Studenten, die unter lautem Hurra-Gebrüll zu den Kasernen geströmt sind, sondern auch wesentlich größere Demonstrationen von Hunderttausenden gegen den Krieg. Diese fanden aber in den ArbeiteInnenrvierteln und Außenbezirken der Städte statt und wurden von der Presse ignoriert. Daher hat sich das erste Bild zusammen mit dem patriotischen Narrativ eines »Geistes von 1914« im gesellschaftlichen Gedächtnis verankert, das andere nicht. Allerdings bleibt es ein Phänomen, dass schließlich auch die GegnerInnen des Krieges – zwar ohne größere Begeisterung, aber auch ohne Murren – anschließend »ihre Pflicht« erfüllen gingen. Dabei kam übrigens dem Krieg gegen die auch von links gefürchtete zaristische Autokratie eine mobilisierende Rolle zu. Zudem hatten Reichsleitung und Militär erkannt, dass sie den modernen Krieg nur mit den Gewerkschaften führen konnten, und waren zu Konzessionen bereit. So war die parteioffizielle Unterstützung des Krieges, also die Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten, letztlich ein klassischer Deal. Im Gegenzug wurden schrittweise die betriebliche Mitbestimmung und die Tarifpartnerschaft faktisch anerkannt und zum Ende des Krieges mit dem Stinnes-Legien-Abkommen gesetzlich verankert. Im Übrigen setzten nicht wenige der TheoretikerInnen der ArbeiterInnenbewegung bereits zu Beginn des Krieges auf die Macht der Dialektik in der Geschichte, ganz wie sie es gelernt hatten. Seit dem 19. Jahrhundert ging man davon aus, und Köpfe wie Friedrich Engels hatten dies auch offen postuliert, dass ein großer europäischer Krieg der Reaktion den Todesstoß geben würde. Im Falle eines Sieges könne man den Massen die Mitbestimmung nicht mehr versagen, so das Kalkül der SPD. Zwischenzeitlich träumte man von einer ausgeglichenen Verteilung der Kriegslasten, was dann zu den merkwürdigen Konstruktionen des »Kriegssozialismus« führte. Es ist allerdings kein Wunder, dass die Haupttheoretiker dieses Unsinns, Werner Sombart, Paul Lensch und Johann Plenge, in den folgenden Jahren immer weiter nach rechts wandern sollten. Plenge sollte in den dreißiger Jahren sogar für sich beanspruchen, mit diesen Theorien der Schöpfer des Nationalsozialismus gewesen zu sein.

Phase 2 Wegen der hohen Anzahl an Toten, dem ersten Einsatz von Massenvernichtungswaffen und Panzern wurde der Krieg als Zivilisationsbruch empfunden. Das hatte weitreichende Auswirkungen für das intellektuelle Leben in Deutschland. Wie schätzt du die Auswirkungen des Krieges auf Kunst und Kultur ein?

Volker Weiß Der Krieg hat sicher die Dinge beschleunigt, allerdings waren die wesentlichen avantgardistischen Bewegungen schon vor 1914 ausformuliert, der Kubismus, Futurismus oder Konstruktivismus/Suprematismus. Der Krieg hat eher das Gefühl der Avantgarde bestätigt, dass die alte Welt unwiederbringlich vorbei sei, als es erst hervorzubringen. Und er hat die Prämissen der Avantgarde universalisiert. Er fragmentierte den menschlichen Körper, die Welt ganz real. Die Zersplitterung, die zuvor malerisch, skulptural oder lyrisch geleistet wurde, passierte jetzt alltäglich an den Fronten. Diese massenhafte körperliche Desintegration war ein Schock. Es gibt eine Passage bei Ernst Jünger, wonach die Soldaten mehr als den Tod selbst die totale Zerfetzung des Körpers fürchteten. Das war die Grenze des ästhetizistischen Heroismus. Die Toten kamen auch nicht mehr zur Ruhe, wurden bei jedem Trommelfeuer wieder aus der Erde geschleudert, beim Stellungsbau ausgegraben, lagen monatelang im Niemandsland ... Diese Realität war nach dem Krieg ein Tabu. Das 1924 eingeweihte Grabmal des unbekannten Soldaten neben der Münchner Staatskanzlei zeigt einen intakten Körper, einen friedlich Entschlafenen, keinen völlig zerfetzten Leichnam, wie ihn der Industriekrieg produzierte.

Phase 2 Würdest Du sagen, dass sich die bildnerische Darstellung des Deutschtums/ der nationalen Heroik mit dem Ersten Weltkrieg verändert? Kämpferische Germania-Abbildungen sind vorher noch sehr beliebt, nach dem Krieg verschwinden sie. Dienen die neuen Kriegsdenkmäler eher der Erinnerung an die Soldaten als zur Präsentation des Nationalen?

Volker Weiß Das kann man so nicht trennen. Die Nationen wollten sich europaweit in ihren Gefallenen präsentieren, es waren ihre Bürger, sie sollten für Freiheit, Ehre, Ruhm und was sonst noch des Vaterlandes gefallen sein. Man kann eher von einer Art Demokratisierung sprechen, da die Masse der Überlebenden den massenhaft Gefallenen gedenken sollte. Die Verschiebung der Repräsentation setzt den »namenlosen Soldaten« an die Stelle des Monarchen. Diese kollektive Betroffenheit demokratisierte gewissermaßen den Totenkult, er bezog sich auf den »Mann aus der Mitte des Volkes« als Trauernden wie als Gefallenen – obwohl es in größerer Zahl sicher Frauen waren, die ihrer Söhne und Männer gedachten. Nach dem Krieg gab es Planungen für gigantische »Totenburgen«, die teilweise auch gebaut wurden, wie das Tannenbergdenkmal. Die Vermassung führte außerdem noch zur Normierung der Produktion. Die gleichen Grabkreuze auf Millionen von Gräbern, die unzähligen Gedenktafeln noch in jeder Dorfkirche, das verlangte nach einem einheitlichen Stil des Gedenkens. Bereits während des Krieges widmete sich z.B. der Deutsche Werkbund als tonangebende Vereinigung von Gestaltenden und ProduzentInnen dieser Frage.

Allegorien des Sieges wie die Germania vom Niederwald waren nach 1918 in Deutschland nicht mehr opportun. Aber auch hier ist die wesentliche Entwicklung schon vor dem Krieg zu beobachten: Die Darstellung der Nation tritt an die Stelle der Dynastie. Vergleicht man etwa das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig (1913) als spätes Nationaldenkmal mit einem frühen wie dem Deutschen Eck in Koblenz (1897), so fällt auf, dass in Leipzig der Monarch bereits verschwunden und die Formsprache versachlicht ist. An die Stelle des Kaisers tritt nun ein mythologisch erhöhtes Deutschtum, das sich in fast moderner Form darbietet. Diese neue Ästhetik wurde nicht selten von jenen Kreisen forciert, deren Kurs wesentlich in den Krieg und seinen katastrophalen Verlauf führte, der so genannten Nationalen Opposition. Sie waren die imperialistischen MaximalistInnen, denen Wilhelm II. noch zu zaudernd war. Der dort gepflegte sakrale Monumentalstil mit völkischem Touch setzte sich in den zwanziger Jahren gegen die historisierende Ästhetik des 19. Jahrhunderts durch. Insgesamt verschwand nach dem Krieg die wilhelminische Schnörkelwelt aus der Kunst. Nach kurzem Dada-Rausch kam bald die Phase der Sachlichkeit.

~ Das Interview mit Volker Weiß führte die Phase 2