Ein Gespräch mit Bernd Beier über die Aufstände in Tunesien, Ägypten und Libyen sowie die Reaktionen der bundesdeutschen Linken
Bernd Beier ist Redakteur und Mitherausgeber der Jungle World. Anfang 2011 ist er gemeinsam mit Thomas von der Osten-Sacken nach Tunesien, Ägypten und Libyen gereist. Aus der Reise resultierten verschiedene Reportagen zu den Aufständen sowie der Blog »Von Tunis nach Teheran« (http://jungle-world.com/von-tunis-nach-teheran).
Phase~2: Im Juni 2011 hast Du in der Jungle World Nr. 23 mit Thomas von der Osten-Sacken eine Reportage aus Bengasi übertitelt mit »They have a dream«. Zu dieser Zeit war Muammar al-Gaddafi noch an der Macht, die Stadt wurde aber bereits von den Aufständischen kontrolliert. Eure Beschreibung der gesellschaftlichen Situation in Bengasi ist ziemlich euphorisch. Woher kam dieser Optimismus, und wer sind für euch diejenigen, die dort träumen?
Bernd Beier: Der Aufstand in Libyen hat sich für mich in die Welle von Revolten eingefügt, die sich gegen die autoritären Verhältnisse in der so genannten arabischen Welt richteten. Angefangen hat das ja bekanntlich mit Tunesien, dann kam Ägypten. Dann – und das war schon eine Überraschung – ging es in Bahrain und in Libyen weiter, also in zwei reicheren Ländern. Dies sehe ich als Indiz dafür, dass es bei den Aufständen in erster Linie gegen die autoritären Verhältnisse ging. Als wir nach Bengasi im Osten Libyens kamen, sahen wir eine Stadt, die von oben bis unten mit Graffitis zugesprüht war, einerseits gegen Gaddafi, andererseits mit Konterfeis von Rappern wie 50 Cent, von Bob Marley oder Che Guevara. Abends versammelten sich auf einem großen Platz jeweils ein paar Tausend Menschen – allerdings nur Männer – und schufen ihr politisches Zentrum. Ähnlich wie in Tunesien nach dem Sturz von Zine el-Abidine Ben Ali fanden wir eine gesellschaftliche Situation vor, in der man mit allen Leuten sofort ins Gespräch kommen konnte. Anders als unter der vorherigen autoritären Ordnung, war nun ein Raum für politische Debatten geschaffen, ein Raum, in dem ohne Angst vor Repressionen Meinungen geäußert werden konnten. Auf wen wir uns da bezogen haben? Im weitesten Sinne auf die, die diesen Aufstand mit ausgelöst hatten: Jugendliche, oft hoch qualifiziert, aber meist prekär beschäftigt oder arbeitslos, die mit neuen Medien umgehen konnten und zu Demonstrationen aufriefen. Ein wesentlicher Auslöser für die Proteste war unserer Ansicht nach auch die ökonomische Situation. Und in Libyen gab es keine linken Parteien oder Gruppen, keine Frauenbewegung, keine Gewerkschaften, keine NGOs, nichts, was auch nur relativ unabhängig vom Regime war – das war unter Gaddafi alles verboten.
Phase~2: Jetzt sprichst Du von Jugendlichen, die keine Jobs haben – das verweist auf ein soziales Moment. Gleichzeitig sagst Du, die Proteste richten sich gegen den autoritären Charakter der Regime. Das verweist eher auf eine politisch motivierte Frontstellung. Wie geht das zusammen?
Bernd Beier: Das geht insofern zusammen, als dass Libyen als klassischer Rentierstaat folgendermaßen funktionierte: Gaddafi und seine Führungsriege kontrollierten und verteilten das Erdöl je nach politischem Geschmack, um Loyalität zu schaffen. Insofern geht der politische Autoritarismus einher mit der prägenden ökonomischen Struktur im Land.
Eine wichtige Zäsur für die gesamte Region war der UN-Entwicklungsbericht von 2002. Darin wurde festgestellt, dass die arabische Welt in sämtlichen Grunddaten sozusagen bankrott ist. Massenarbeitslosigkeit bei Jugendlichen, Unterdrückung der Frauen, dysfunktionales Bildungssystem, ideologische Verrücktheiten und autoritäre Herrscher, die sich nur über das Militär und/oder die Polizei an der Macht halten, obwohl sie teils über gewaltige Einkünfte aus der Ölrente verfügen. Ein Desaster durch und durch. Und in diesen Regionen kam es dann zu Revolten gegen die autoritäre Herrschaft. Das haben wir uns angeschaut und dabei versucht zu analysieren, welche Kräfte für und welche gegen eine gesellschaftliche Emanzipation eintreten würden. Ob die Umbrüche auf ein »westlich« demokratisches Modell hinauslaufen oder ob die Bewegung gegen die autoritären Verhältnisse dann weiteren Schwung bekommt – dass sich etwa Räte herausbilden – und die handelnde Kritik weitere Bereiche der Gesellschaft erfasst, das ist in so einer ersten Phase noch offen.
Phase~2: Es besteht ja immer die Gefahr, dass gerade in stark autoritär, z. B. islamisch geprägten Gesellschaften Demokratisierung erneut zu Autoritarismus führt. Woher dann Dein Optimismus? Welche historischen Referenzen siehst Du eigentlich, dass so eine Bewegung in eine gute Richtung laufen, sprich, ein emanzipatorisches Projekt entstehen könnte? Deutet nicht gerade ein Ereignis wie der Angriff auf die israelische Botschaft in Ägypten in eine ganz andere Richtung?
Bernd Beier: Es ist doch eine Frage der Analyse: Welche Kräfte sind dort am Werk, wie setzt sich so eine aufständische Bewegung zusammen? Das verändert sich teilweise von Woche zu Woche. Es kann natürlich passieren, dass so eine Dynamik einfach verebbt und sie von anderen Kräften übernommen wird. Der Einwand, dass demokratische Strukturen immer in der Versuchung stehen, in Autoritarismus umzuschlagen, ist natürlich berechtigt. Aber die Aufstände richten sich ja gerade gegen autoritäre Strukturen, es gibt also erst einmal einen Überschuss an demokratischer Rhetorik. Das kann man auch an den Äußerungen vieler IslamistInnen beobachten.
Die Erstürmung der israelischen Botschaft in Kairo, die vor allem von Linken getragen wurde, war kein Bruch mit der Herrschaft, sie war eine Regression, ein Ausdruck einer konformistischen Rebellion; die Repressionsorgane haben stundenlang tatenlos der Plünderung der Botschaft zugeschaut. In punkto Israelfeindschaft, die zumeist in Antisemitismus kippt, herrscht in Ägypten, aber auch in den anderen Ländern der Region, ein großer nationaler Konsens, vom Regime über IslamistInnen bis zu Linken. Das hat Tradition: Man sollte nicht vergessen – und das ist nur ein Beispiel unter vielen –, dass unter Mubarak mit den Protokollen der Weisen von Zion ein antisemitischer Klassiker als Fernsehserie verfilmt wurde und überaus erfolgreich war. Allerdings muss auch festgestellt werden, dass in dem Moment des Sturms auf die Botschaft, im September 2011, die erste Euphorie der Revolte bereits abgeklungen war. Vorher ging es in Ägypten ebenso wie in Tunesien vor allem um innenpolitische Fragen: Wie entmachtet man die herrschende Mafia und den sie stützenden Militär- oder Polizeiapparat? Wie gestaltet man eine Demokratisierung und eine neue Verfassung, die nicht auf einen Führer zugeschnitten ist? Wie werden Wahlen organisiert? Wie geht man gegen die materielle Verelendung vor? Wenn dieser Prozess ins Stocken gerät, wenn die Leute sich nicht mehr als handelnde Subjekte erfahren, die die Gesellschaft verändern können, sondern sich als Objekte eines unbegreiflichen Prozesses sehen, dann tauchen auch die alten ideologischen Muster wieder auf. Dann wird aus der tunesischen Revolution plötzlich eine Verschwörung der USA und Katars, die Ben Ali stürzten, um die IslamistInnen an die Macht zu bringen. Dann stecken die Zionisten wieder hinter allem, was in Ägypten, Tunesien und auf der ganzen Welt schief läuft. Aber solche steilen Thesen werden in den Blogs auch harsch kritisiert, und die Offenheit, mit der das geschieht, macht den Unterschied zur Situation unter Ben Ali oder Mubarak aus.
Phase~2: Als der Aufstand in Libyen gerade begonnen hatte, hast Du auf einer Veranstaltung in Leipzig euphorisch von der Option einer militärischen Intervention durch die NATO gesprochen. Was hat Dich dazu veranlasst, den NATO-Einsatz zu befürworten?
Bernd Beier: Von Euphorie konnte keine Rede sein, aber zwei Gründe, beide mit der aufständischen Perspektive verknüpft, sprachen für die Intervention. Zum einen hat sich Gaddafi direkt nach dem Sturz von Ben Ali auf dessen Seite gestellt und gesagt, das tunesische Volk hätte einen Fehler gemacht. In Tunesien hat man daraufhin Destabilisierungsversuche befürchtet. Der zweite Punkt war, dass diese, übrigens auf einem UN-Mandat fußende, Intervention der NATO in einem Moment angefangen hat, als Panzerkonvois Gaddafis kurz vor Bengasi standen, also vor der größten Stadt in Ostlibyen, die die Rebellen kontrollierten. Es war klar: Wenn Bengasi fällt, wird auch der Rest der Revolte fallen. An diesem Punkt fand ich ein militärisches Eingreifen legitim, zumal die Aufständischen dieses selbst gefordert hatten. Militärisch konnten sie nichts ausrichten gegen schwere Waffen. Und in letzter Sekunde wurden sie gerettet, eben durch die Intervention. Im Übrigen kann man ja auch die Interessen der intervenierenden Staaten analysieren: Bei dem Einsatz waren nicht die USA federführend, sondern Frankreich, das wegen der Unterstützung Ben Alis gerade haufenweise Ärger im Nachbarland Tunesien hatte. England hat sich dem angeschlossen, die Arabische Liga trat ebenfalls für eine Intervention ein, nachdem Saudi-Arabien dafür Lobbyarbeit betrieben hatte, nicht zuletzt, um von der Repression in Bahrain abzulenken. Aber für mich stand im Vordergrund, dass Gaddafi sich mit schweren Waffen gegen die rebellierende Bevölkerung im Land gerichtet hatte. Die Gefahr eines Massakers in Bengasi war nicht von der Hand zu weisen und die Gefahr einer Destabilisierung der Revolte in Tunesien ebenfalls nicht.
Phase~2: Hat sich Deine Perspektive vor dem Hintergrund der letzten Entwicklungen wie den Wahlerfolgen der IslamistInnen oder der Einführung der Scharia nach Gaddafis Sturz in Libyen geändert?
Bernd Beier: Nein, wenn die IslamistInnen überall die Oberhand gewinnen, sieht das zwar auf den ersten Blick ziemlich finster aus. Aber in Libyen galt die Scharia bereits unter dem angeblich so säkularen Gaddafi, zumindest im Familien- und Erbrecht und seit 1994 auch im Strafrecht. Das kann doch fast nur besser werden. In Tunesien, dem säkularsten Land der Region, war ich zuletzt im Oktober 2011, also zu einem Zeitpunkt, an dem die ersten freien Wahlen stattfanden. Da war es natürlich ein Schock, dass die IslamistInnen, die Muslimbrüder von En Nahda, plötzlich mit 40 Prozent abschneiden, wobei ihnen vorher höchstens 25 bis 30 Prozent vorausgesagt worden waren. Wie kann man erklären, dass so eine offensichtlich reaktionäre Kraft wie En Nahda plötzlich so gut abschneidet? Plausibel erscheinen mir da mehrere Antworten. Zum einen konnten sie ihren Parteiapparat vergleichsweise schnell wieder aufbauen, weil sie über relativ viel Geld verfügen. Dies, so wird gemutmaßt, stammt unter anderem aus Katar. Sie haben im Wahlkampf schrille Aussagen über Kalifat oder Scharia vermieden und zunächst die sogenannte arabisch-muslimische Identität Tunesiens in den Vordergrund gerückt. Das ist eine interessante Rhetorik: Die Berber sind draußen, Juden und Christen sind draußen, das ist nicht gerade ein inklusives Modell. Zudem profitierte En Nahda von einer Art Staubsaugereffekt bei den Wahlen: Alles, was einigermaßen konservativ ist, konnte En Nahda auf die eigene Seite bringen. Denn in Tunesien gibt es keine klassisch konservative Partei jenseits der IslamistInnen.
Die meisten anderen Parteien sind sozialdemokratisch oder liberal geprägt, und es gibt einige marxistisch-leninistische Parteien. Das ist ein Resultat der antikolonialen Geschichte Tunesiens und der autoritären Modernisierung unter dem ersten Präsidenten des Landes, Habib Bourguiba. Dieses ganze Spektrum verteidigt jedenfalls den Code du statut personnel, das Gleichberechtigungsprogramm für Frauen, das Bourguiba 1957 einführte und das einzigartig in der arabischen Welt ist. Und dieses Statut ist den IslamistInnen natürlich ein Dorn im Auge.
Phase~2: Du siehst die Ursachen für den Erfolg also vor allem in der besseren Ausgangslage der IslamistInnen. Anders als alle anderen Parteien verfügen sie schon länger über professionell arbeitende politische Strukturen, sei es öffentlich oder im Untergrund und sind dadurch im Moment der Wahl besser aufgestellt. Aber wird damit nicht ein anderes Problem unter den Tisch gekehrt: Die breite gesellschaftliche Akzeptanz von reaktionären Ideologien wie Antisemitismus, Staatsreligion und autoritären Denkstrukturen? Ist der Wahlerfolg der IslamistInnen in Tunesien hinreichend mit dem Organisationsgrad erklärt, oder spielten die Muslimbrüder beispielsweise von Beginn an eine entscheidende Rolle?
Bernd Beier: Natürlich existieren all die von Euch aufgeführten reaktionären Ideologien in der Gesellschaft, gleichzeitig werden sie aber auch bekämpft. Sie sind nicht unveränderlich gegeben, die Kritik an ihnen ist ein Teil der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. In einem gewissen Sinne waren die Muslimbrüder ein Teil der Opposition gegen Ben Ali, aber einer reaktionären Opposition. Sie haben in den letzten Jahren keine größeren Anstrengungen unternommen, Ben Ali zu entmachten, und in dem Aufstand selbst haben sie keine große Rolle gespielt. Als wir im Januar 2011 in Tunis waren, war die ganze Stadt vollgesprüht mit Losungen für Demokratie, Freiheit und Laizität. Möglicherweise sah das im Süden, in den ärmeren ländlichen Regionen, ein wenig anders aus, doch in den urbanen Zentren hatte der Aufstand einen ganz klar säkularen Ausdruck. Die Rhetorik in den Städten ist jetzt, dass der Aufstand enteignet worden sei, und En Nahda wird als Konterrevolution betrachtet. Das schießt ein wenig übers Ziel hinaus, ist aber angesichts des drohenden autoritären Modells der IslamistInnen verständlich.
Phase~2: Ist damit an die Stelle Deiner anfänglichen Euphorie nicht doch eine nüchterne Sichtweise getreten? Worin siehst Du aktuell noch die positiven Effekte der Aufstände?
Bernd Beier: Man kann nicht erwarten, dass in einer dermaßen problemreichen Region über Nacht eitel Sonnenschein herrscht. Aber der Sturz autoritärer Regime ist doch zunächst einmal eine partielle Befreiung, auch wenn das Kapitalverhältnis weiter sein Unwesen treibt. Hierzulande ist es eine weitverbreitete linke Perspektive zu sagen: »Pah! Was wollen die denn mit der bürgerlichen Demokratie?« Doch das lässt sich leicht sagen, wenn man nicht bedroht ist, im Folterkeller zu landen, nur weil man in einem Café gesagt hat: »Ben Ali ist Scheiße!« Um genau diese partielle Befreiung geht es mir: Die Angst ist weg. Mittlerweile gibt es Demonstrationen und Streiks an jeder Ecke, man kann sich organisieren, politisch diskutieren. Es gibt ein ganz anderes gesellschaftliches Klima! Die Konflikte, die bislang gedeckelt wurden, werden offen ausgetragen. Und zumindest in Tunesien verfügen die IslamistInnen über keine Mehrheit, sie können nur in einer Koalition regieren. Die wichtigen Ressorts in der Regierung haben sie sich freilich gesichert; aber kontrollieren sie die entsprechenden Institutionen, etwa die Polizei, das Repressionsorgan Ben Alis? Und vor allem stehen sie selbst vor einer Zerreißprobe: zwischen einem salafistischen Flügel, dessen ProtagonistInnen seit dem Wahlerfolg stark provozieren und etwa die Kreuzigung von Streikenden und TeilnehmerInnen an Sit-ins empfehlen, und einem pragmatischen, der eine schleichende Islamisierung nach Art der türkischen AKP bevorzugt. Man darf ja nicht übersehen, dass die IslamistInnen in der Regierung auch irgendwie realpolitisch agieren müssen. Sie müssen beispielsweise das ökonomische Desaster verwalten. Alkohol und Bikinis lassen sich schlecht verbieten, ohne die Tourismusindustrie zu zerstören. Kurz gesagt: Die IslamistInnen verheddern sich in ihren Widersprüchen. Und niemand kann gerade sagen, was dabei herauskommt. Außerdem treffen sie auf große Widerstände in der Gesellschaft: Ende Februar rief der mächtige Gewerkschaftsdachverband UGTT nach Attacken auf Gewerkschaftsbüros, die er En Nahda anlastete, zum Sturz der Regierung auf. Druck kommt von der Frauenbewegung, an Universitäten wie in Manouba wehren sich Studierende gegen die salafistischen Attacken, JournalistInnen streiken gegen Zensur, überall brechen soziale Konflikte aus. Bruchlos jedenfalls wird es nicht in die Richtung eines autoritären, diesmal islamistisch kodierten Regimes gehen – jedenfalls nicht in Tunesien.
In Libyen herrscht Chaos, niemand weiß so recht, wo dort die Frontlinien verlaufen, aber eine verläuft auch dort zwischen den IslamistInnen und den Säkularen. Aber eines ist dort offensichtlich: Wenn ein Staat wie Libyen, in dem im Prinzip alles verboten war, aufhört zu existieren, dann ist es vollkommen unklar, was danach passiert.
In Ägypten gibt es einige zehn- wenn nicht gar hunderttausend junge Leuten, die sich explizit gegen die Muslimbrüder, die SalafistInnen und den Militärrat stellen und sich nicht einschüchtern lassen. Das hat sich insbesondere nach dem Massaker an den Fußball-Hooligans in Port Said Anfang Februar gezeigt. Zurzeit hat Ägypten etwa einhundert Millionen Einwohner. Da ist eine vergleichsweise kleine Gruppe der Gesellschaft, aber ihr Mut und ihre politische Ausdauer sind erstaunlich. Seit der Militärrat in Ägypten an der Macht ist, ist die Repression weitergegangen. Bei den Wahlen haben die Muslimbrüder und die SalafistInnen zusammen etwa 65 Prozent bekommen. Dies ist ein düsteres Zeichen, doch die Spannungen zwischen den Säkularen und den IslamistInnen sind stärker geworden. Es gibt große Streikwellen, an denen sich auch massenhaft Frauen beteiligen. Die weitere Entwicklung ist offen.
Phase~2: Gehen wir noch weiter auf das Warum dieser Entwicklung ein. In einem Artikel in der Jungle World Nr. 44 von 2011 erwartest Du für Tunesien einen »Kulturkampf auf allen gesellschaftlichen Ebenen«. Warum sprichst Du von Kulturkampf und nicht von Klassenkampf? Was genau meinst Du mit diesem vorgeprägten Begriff?
Bernd Beier: Kulturkampf ist kein Begriff, auf den beispielsweise Thilo Sarrazin ein Monopol hat, sondern ein historischer. Er beschreibt die Konflikte in diversen europäischen Staaten am Ende des 19. Jahrhunderts, als religiöse Kräfte den Staat und die Gesellschaft prägen wollten. Ein Beispiel dafür war etwa die Dreyfus-Affäre in Frankreich. Ich habe den Begriff analog für die tunesische Gesellschaft gebraucht, weil er die derzeitigen Konflikte dort auf den Punkt bringt. Anders als sie vor den Wahlen hoch und heilig versprachen, versuchen die nun an der Regierung befindlichen IslamistInnen von En Nahda nun, die Scharia als wesentliche Rechtsquelle in der Verfassung zu verankern und den Staat in alken Bereichen religiös umzugestalten; sie verfolgen eine institutionelle Strategie. Derweil suchen die SalafistInnen gezielt auf den Straßen, an den Universitäten und bei kulturellen Veranstaltungen die Auseinandersetzung. Sie fingen bereits im vergangenen Jahr damit an, vor Synagogen antisemitische Kundgebungen abzuhalten und überfielen Bordelle in diversen Städten. SalafistInnen haben die Preview des tunesischen Films Ni Allah, Ni Maître (Weder Allah noch Chef) aufgemischt und zu Tausenden gegen die Ausstrahlung des Films Persepolis demonstriert. Ein paar Tage später wurde das Haus des Direktors des Senders, der den Film ausgestrahlt hatte, überfallen und gebrandschatzt. Der Mann wurde vor einigen Wochen vor Gericht gestellt, wegen der Verletzung religiöser Gefühle. Es droht die erneute Installierung der Zensur, diesmal religiös begründet. Permanent wird auch versucht, regierungskritische Medien und Journalisten einzuschüchtern.
Vor allem aber geht es um den Status der Frauen in der Gesellschaft. Die haben noch lange nicht die gleichen Rechte wie die Männer. Jeder beliebige Geistige darf sie beschimpfen, weil sie Jeans und kein Kopftuch tragen. Soll die Polygamie legalisiert werden? Sind alleinerziehende Frauen, die sich von ihren prügelnden Göttergatten getrennt haben, schamlos und eine Schande für die Gesellschaft? Die Strategie der IslamistInnen ist dabei klar, sie wollen ihre reaktionären Werte in der gesamten Gesellschaft durchsetzen. All das geht im Begriff des Klassenkampfs nicht auf.
Phase~2: Mit welchen Leuten hattest Du am meisten Kontakt? Gibt es linke Gruppen mit einer radikalen Gesellschafts- und Ökonomiekritik und beteiligen sie sich an den Aufständen?
Bernd Beier: Ich habe einige Gespräche mit IslamistInnen geführt, aber hauptsächlich hatte ich mit Säkularen zu tun, mit Linken, Studierenden und der Frauenbewegung. Die ehemalige kommunistische Partei Ettajdid, früher eher moskautreu, heute sozialdemokratisiert, hat sich mit einigen kleinen, teils marxistisch-leninistisch geprägten Parteien und jüngeren Protagonisten des Aufstands für die Wahlen zum »Demokratisch-modernistischen Pol« zusammengeschlossen; dieser Pol lehnt jegliche Zusammenarbeit mit den IslamistInnen ab und verteidigt die Frauenrechte und den Säkularismus. Generell ist die parteiförmig organisierte Linke in Tunesien eher staatsfixiert und orientiert am Marxismus-Leninismus. Debatten über den Warenfetisch, das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis oder den Staat des Kapitals sind dort eher unbekannt. Die wichtigste marxistisch-leninistische Partei ist die arbeiterkommunistische Partei Tunesiens PCOT, die früher albanisch-maoistisch geprägt war. Sie hat bei den Wahlen drei oder vier Sitze bekommen und verfolgt immer noch die Ziele des demokratischen Zentralismus. Jenseits dessen organisiert sich ansatzweise eine globalisierungskritische Bewegung, bei der Migrations- und Flüchtlingsfragen eine wichtige Rolle spielen. Und vor allem an den Universitäten entstehen Gruppen mit anarchistisch geprägter libertärer Kritik, aber das ist ein vergleichsweise marginales Spektrum.
Phase~2: Zur Reaktion der Linken in Deutschland. Wenn man sich die Diskussion zum Beispiel über Syrien anschaut, werden Leute, die sich positiv zu den Aufständen äußern – und sogar die Protestierenden selbst –, mitunter regelrecht angefeindet. Es heißt, sie würden sich zu Handlangern der NATO, insbesondere natürlich der USA und Israels, machen. Es entsteht der Eindruck, dass sich da Positionen gedreht haben. Das internationalistische Lager verhält sich skeptisch, und auf der anderen Seite ist die kritische Linke, die ja nicht gerade für ihren Revolutionsoptimismus bekannt ist, wie euphorisiert. Was ist da passiert?
Bernd Beier: Beim klassischen Antiimperialismus-Spektrum sehe ich nur eine Fortführung dessen, was 2009 schon anlässlich der Revolte im Iran geschehen ist. Schon damals stellte dieses Spektrum frü sich fest, dass es die Handlanger der NATO und des Westens sind, die dort, völlig grundlos natürlich, gegen die Wahlfälschung und die religiöse Diktatur auf die Straße gehen. Diese Reaktion muss man sich noch einmal vor Augen halten. Anfangs hat sich dieses Spektrum noch die Hände gerieben, weil es zunächst die prowestlichen Schurken Ben Ali und Mubarak erwischte, das passte noch in deren verqueres Weltbild und zu dem, was der in diesen Kreisen so verehrte Präsident Hugo Chávez von sich gibt. Seit die Revolte dann auf Libyen, später auch auf Syrien übergegriffen hat, fällt diesem Spektrum überwiegend nichts mehr zu den aktuellen Ereignissen ein, und nur die Verbohrtesten rechtfertigen noch den Massenmord an Aufständischen. Eine Euphorie im antideutschen Spektrum habe ich nicht wahrgenommen. Generell ist mein Eindruck, dass in der Linken hierzulande weder Empathie mit den Leuten unter Lebensgefahr Rebellierenden weit verbreitet ist, noch große Versuche gemacht werden, wirklich zu analysieren, was dort passiert. Eine Debatte findet kaum statt.
Phase~2: Plädierst Du also vor allem für eine intensivere Analyse der Situation, also dafür, dass überhaupt eine Debatte stattfindet, oder geht es Dir darum, sich tatsächlich politisch in die Aufstände einzumischen?
Bernd Beier: Es ist eine Dynamik im Gange, die die gesamte arabische Welt grundlegend verändert. Das ist jenseits dessen, was wir direkt beeinflussen können. Man kann zunächst nur versuchen, das zu analysieren. Weil ich zeitweise vor Ort war, ein paar Leute kenne, ist da bei mir vielleicht etwas Überschwang festzustellen. Eine beliebige Debatte interessiert mich nicht, eine kritische hingegen schon. Und da schadet es auch nicht, wenn man mit den radikaleren Kräften in der Region diskutiert und Kontakte knüpft. Aber dass die Verhältnisse dort ins Tanzen kommen – dagegen habe ich natürlich nichts. Der Ausgang ist ungewiss. Die Französische Revolution war auch nicht nach einem Jahr beendet.
Phase~2: Wir bedanken uns für das Gespräch.
Das Interview führte Phase~2, Berlin.