Definitely maybe

Kaum eine Debatte hat die radikale Linke in der brd so lange und gleichförmig beschäftigt wie die um das Definitionsrecht bei Vergewaltigungsvorwürfen. Um eines gleich vorwegzunehmen: Dieser Text soll nicht etwa ein neues und „gerechteres“ Rezept für den Umgang mit sexistischen Strukturen und Verhaltensweisen innerhalb der kleinen linken Welt werden. Vielmehr soll er die Debatte anhand der Frage reflektieren, warum sie mit solch intensiver Emotionalität geführt wird und warum die Diffamierung und Abgrenzung zu tatsächlichen oder vermeintlichen Gegnern einen solch hohen Stellenwert in ihr einnimmt. Denn der Streit um Opfer, Täter und Definitionen, soviel sei vorweggenommen, ist einer um die Identitäten der Beteiligten, der geeignet ist, linke Selbstbilder zu erschüttern oder zu zementieren. Die möglichen Erschütterungen des Selbstbildes sind ein Grund für die Emphase, mit der die Debatte geführt wird – ihre Konsequenz liegt leider zumeist in der Zementierung des selbigen.
 

Das Unaussprechliche

Unabhängig davon, ob sich die jeweiligen DiskutantInnen nun als Verteidiger oder Gegner des Definitionsrechts der Frau betrachten, geht es ihnen doch allen um eine Frage: Was ist eine Vergewaltigung? Die VertreterInnen des Definitionsrechts der Frau setzen als Maßstab für eine Vergewaltigung das erlittene Leid der Betroffenen. Und da Leid nun das subjektivste aller Erlebnisse ist, kann dieser Maßstab niemals von außen angelegt werden, sondern eben nur vom leiderfahrenden Subjekt selbst. So betrachtet ist die Forderung nach dem Definitionsrecht der Frau schlüssig, wirft aber in sich bereits wieder ein Problem auf: Wie nämlich soll dieser Maßstab des Leidens kommunikativ vermittelt werden? Das Ausmaß persönlicher Betroffenheit durch Schmerzen und Demütigungen ist nicht vermittelbar, eine solche Vermittlung wäre auch nicht besonders wünschenswert. Nicht nur die Einordnung auf der Skala des Leids wird also vom Subjekt getroffen, auch die Margen, inklusive der der Vergewaltigung werden von ihm gesetzt. Eine Auseinandersetzung, die sich auf das individuelle Leid konzentriert und es im Begriff der Vergewaltigung verabsolutiert, interessiert sich dabei oft genug recht wenig für die vielschichtigen gesellschaftlichen und individuellen Ursachen der Leiderfahrung. Darüber hinaus ist sie es, die eine Hierarchie des Leidens produziert: In der gibt es die absolute und unrelativierbare Erfahrung der Vergewaltigung – und Einiges, was unterhalb dieser Liga spielt (Zur Vertiefung sei jedem Leser das borderline-Papier der Les Madeleines ans Herz gelegt). Die AblehnerInnen des Definitionsrechts suchen den Nachweis einer erfolgten Vergewaltigung im Stattfinden ganz bestimmter, abstrahierbarer und reproduzierbarer Handlungen. Die Skala ist nicht eine des Leidens sondern der sie verursachenden Handlungen, sie befindet sich außerhalb des betroffenen Subjekts: Die Autonome Antifa [M] schrieb dazu am 15. Dezember: "Vergewaltigung ist für uns der Zwang zu einer sexuellen Handlung gegen den verbal oder nonverbal ausgedrückten Willen einer Frau, die ihre körperliche Integrität verletzt. Das schließt sexuelle Handlungen in einer durch physischen oder psychischen Druck geschaffenen Atmosphäre ein, ohne dass sie ihre Ablehnung gegen einen einzelnen Übergriff ausdrückt."
 

Besatzer aus?

Die Frage ließe sich stellen, warum wir Linksradikalen den Begriff der Vergewaltigung scheinbar so lieben, dass wir ihn möglichst oft und mit Emphase anwenden wollen. Begriffsgeschichtlich betrachtet kann die Antwort darauf kaum darin liegen, dass er eine Sache so treffend bezeichnet. Bis ins achtzehnte Jahrhundert bezeichnete das deutsche Wort „Vergewaltigung“ beispielsweise illegale Landnahme, die sexuelle Konnotation war eine kaum bekannte Nebenbedeutung. Im englischen „rape“ klingt die Betrachtung der Betroffenen als geraubtes Gut noch weit stärker mit. Welchen Grund hat eine radikale Linke, mit solcher Hartnäckigkeit an patriarchalen Sprachsymboliken zu kleben? Der Begriff der Vergewaltigung ist innerhalb der Linken ja nicht etwa umstritten, weil ihm eine „wahre“ Bedeutung innewohnt, die sich entweder im erlittenen Leid oder in der begangenen Tat offenbart (auch wenn dieser Eindruck bei der Definitionsrecht-Diskussion oft genug entsteht). Er wird vielmehr herangezogen, um das Ausmaß des verursachten Leidens assoziativ zu verbildlichen – und, wie Les Madeleines in ihrem Papier feststellen – diese Verbildlichung nutzt das Bild der „klassischen“ Vergewaltigung, der direkten sexuellen Penetration. Die Konnotation lässt den Übergriff besonders verletzend erscheinen und erfüllt damit den Zweck, jede Form der sexuellen Grenzverletzung zu ächten. Das erscheint auf den ersten Blick als „gerechtes“ Anliegen, bringt jedoch konsequent zuende gedacht Probleme mit sich: Denn Sexualität ohne Grenzverletzung, ohne Macht existiert nicht. Noch dazu ist das Bild einer „echten“ Vergewaltigung absolut nicht frei von zahlreichen Konnotationen, die durch seine Verwendung heraufbeschworen werden – allen voran die Rollen, die Täter und Opfer in ihm einnehmen und die in der Definitionsrecht-Debatte ebenfalls als Mittel der Ächtung verwendet werden.
 

Der Vergewaltiger als Diskurs

Die Bedeutung, die dem Bild der Vergewaltigung zukommt, lässt sich vielleicht am besten mit dem Rückgriff auf Stereotypen „normaler“ Sexualität verdeutlichen. Vorangestellt sei Judith Butlers These vom performativen Geschlecht. Simone de Beauvior erklärte: „Wir werden nicht als Frau geboren, sondern dazu gemacht.“ Butler geht einen Schritt weiter, indem sie feststellt, dass Mann oder Frau sein ein andauerndes Handeln ist, dass das eigene Geschlecht aufrechterhält und ständig neu definiert. Es existiert kein „natürliches“ Individuum, dem dieses Handeln als „Rolle“ von einer äußeren Gesellschaft auferlegt wird. Das Geschlecht als Konzept ebenso wie das Geschlecht als Individuum ist eine Vielzahl von Diskursen und wird ständig neu verhandelt. Gleichzeitig erzählen wir uns aber, dass wir schon immer waren, was wir sind, und eigentlich nur entdecken müssen, wer wir sind. Wir glauben an das Individuum in uns, das vor den Zumutungen der Gesellschaft besteht. Gut verdeutlichen lässt sich das am „toleranten“ Umgang mit Homosexualität: Er betrachtet das Begehren des eigenen Geschlechts als Konstituenten für einen klar definierten Geschlechtscharakter. Menschen betreiben nicht etwa zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben homosexuelle Praktiken (und hören vielleicht auch wieder damit auf), sie haben ihr „Coming Out“, leben also ihr innerstes Selbst aus. Die Konstruktion einer solchen Identität ist kein „künstlicher“ Akt im Gegensatz zum „natürlichen“ Selbst, sondern eine Taktik, die es Menschen ermöglicht, sich als konsistente Individuen wahrzunehmen. Die unzähligen und wandelbaren Sexualnormen produzieren in diesem Zusammenhang allerdings andauernde Zumutungen. Das eigene Geschlecht darf nicht begehrt werden – wenn doch, bist du homosexuell. Begehrst du mehr als ein Geschlecht, bist du bisexuell oder einfach nicht in der Lage zur Selbstfindung. Die Kategorien bieten die Möglichkeit zur Abgrenzung des eigenen Selbst und fordern sie sogar. Die Vergewaltigung ist im bürgerlichen Diskurs nicht unbedingt konstitutiv für einen Geschlechtscharakter. Sie stellt eine Übertretung, eine leichte Abnormalität dar, die aber für gewöhnlich nicht die eigene Identität (für gewöhnlich weiß, männlich, heterosexuell) in Frage stellt (die Kategorie „männlich“ kann durch die Tat gar gestärkt werden). Eine Ausnahme bildet vielleicht der „Päderast“ als sehr klar definierter Charakter. Der linksradikale Diskurs konzentriert sich nun, da die Tat selbst als unaussprechlich vorausgesetzt wird, auf die Beteiligten, deren vorerst imaginierte Geschlechtsidentitäten sich im Bild der sexuellen Penetration verdichten. In der Tat offenbaren Täter und Opfer, was sie schon immer waren. Die Verbindung der Penetration zu anderen sexuellen Grenzüberschreitungen sieht in ihren Beteiligten die gleichen Identitäten von Täter und Opfer. Die Identität des Vergewaltigers bleibt an das „klassische“ Bild geknüpft, wird aber auch Personen angedroht, die in ihren leidverursachenden sexuellen Grenzüberschreitungen diesem nicht entsprechen. Der „Täterschützer“ ist dabei im linken Diskurs fast schon als eine Spielart der Täteridentität zu benennen. Steht er doch im Verdacht, um seine eigene Disposition als Vergewaltiger zu wissen und deren spätere Ausübung vorbereiten zu wollen. Dem Zweck der Ächtung der Grenzüberschreitung ist gedient: Mit der Identifikation als Vergewaltiger ist eine linke Person in dem, was sie als ihr Innerstes betrachtet, in Frage gestellt – und nichts hüten wir sorgsamer als das Bild von unserem Innersten.
 

IdentiTäter, IdentiOpfer

Die Definitonsrecht-Debatte ist damit jedoch auch einen Schritt weg von der Analyse der Zumutungen und Zuschreibungen durch Geschlechtsidentitäten. In ihr werden viel mehr zwei Identitäten zementiert, die als Gesamtkonzepte fragwürdiger nicht sein könnten. Eines vorweg: Hier soll es keinesfalls darum gehen, die Täter bei sexuellen Übergriffen vor Stigmatisierungen in Schutz zu nehmen. Vielmehr sollen die Bilder einer Eindeutigkeit von sexueller Identität, die in der Debatte auftauchen, problematisiert werden. Dass der Begriff der Vergewaltigung der Ächtung des Täters dienlich ist, wurde weiter oben festgestellt. Nun beinhaltet er aber auch eine Pathologisierung dieser Identität – sie erscheint als grundlegendes individuelles Problem. Grenzüberschreitendes Verhalten wäre demnach Ausdruck einer inneren Disposition als Vergewaltiger. Wiederum soll es hier nicht darum gehen, den Täter als Opfer der Gesellschaft zu entschuldigen. Es geht jedoch darum, sich nicht den Blick auf die vielschichtigen Identitätsdiskurse zu verstellen, die hinter einer sexuellen Grenzüberschreitung stehen – und die sich nicht in einem einzigen klaren Bild vom weißen, heterosexuellen Täter zusammenfassen lassen. Weit verhängnisvoller ist die Identifikation mit dem (weiblichen) Opfer. Zu diesem Problem haben Les Madeleines in ihrem Papier ausführlich Stellung bezogen und ihrer Analyse möchte ich mich anschließen: Im klassischen Bild der Vergewaltigung repräsentiert das Opfer das verkitschte Klischee weiblicher Unschuld, ein passives, lustfreies und entrücktes Wesen. Noch dazu erscheint die Frau, ganz gemäß klassischer bürgerlicher Psychologie, als „Ganz ihr Geschlecht“, der Angriff auf ihre Geschlechtlichkeit ist der Angriff auf ihr ureigenstes Ich (Während für den Mann seine Geschlechtlichkeit als nur ein Aspekt seiner Identität erscheint). Die berechtigte Forderung, die Betroffene einer Vergewaltigung nicht zum vielbeschworenen „Seelenstriptease“ durch Darstellung der Vorgänge zu nötigen, beschwört gleichzeitig einen Begriff von weiblicher Ehre, der nicht reglementierte Sexualität als Grund zur Scham begreift – wohlgemerkt ist es in diesem Zusammenhang die Frau, die sich zu schämen hat. Weibliche Sprachlosigkeit wird damit gleichsam festgeschrieben. Die Opfer-Identifizierung ist damit genau wie die Täter-Identifizierung eine zwiespältige Sache: Zum einen trägt sie realen gesellschaftlichen Verhältnissen (der oft tatsächlich vorhandenen Scham und dem Gefühl eines im tiefsten Innern erlittenen Leids) Rechnung, zum anderen bekräftigt sie deren Wahrnehmung als „natürliche“ Eigenschaften, verklärt sie gar als unantastbare Heiligtümer. Eine solche Verklärung entspricht weitgehend der Zuschreibung von Eigenschaften auf „natürliche“ Geschlechtsidentitäten – nur dass diese Identitäten in diesem Falle eben Täter und Opfer heißen. Der Utopie einer Gesellschaft, in der Menschen von den Zumutungen der Geschlechterkategorien befreit sind, kann eine solche Festschreibung von Identitäten nicht dienlich sein.
 

Vielleicht auch konkret

Langsam wieder Boden unter den Füßen spürend bleibt die Frage, welchen praktischen Umgang die oben geführten Überlegungen fordern. Neue Konzepte zum Umgang mit Vergewaltigungsvorwürfen und sexuellen Grenzüberschreitungen in linken Zusammenhängen bieten sie vorerst nicht. Die Diskussion solcher Konzepte ist es allerdings auch nicht, die linken Analysen zum Thema Sexismus, Patriarchat und Geschlechtsidentitäten Auftrieb verleiht. Im Gegenteil werden diese Diskussionen durch die Forderung nach „konkreten“ Stellungnahmen blockiert, die sich dann oft genug als konkrete Selbstzufriedenheit erweisen und jedes Infragestellen der eigenen Verfasstheit in Sachen Identität verhindern. Eine abstrakte Diskussion kann die Auseinandersetzung über den Umgang mit Gewalt und Grenzüberschreitung in den eigenen Reihen nicht ersetzen – ebenso wenig ist jedoch das Gegenteil der Fall.

Phase 2 Göttingen