Zwischen 2001 und 2004 preschte eine Reihe von HirnforscherInnen mit ihren Thesen an die Öffentlichkeit. Der Sachbuchmarkt, die Wissenschaftsseiten großer Tageszeitungen, auch Feuilletons und Talkshows wurden nicht einfach mit Forschungsergebnissen vertraut gemacht, ihnen wurden Umwälzungen angekündigt. Programm: neues Menschenbild, Gestus: Entzauberung. Beispielsweise: Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Frankfurt a. M. 2001. Gerhard Roth, Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt a. M. 2003. Wolf Singer, Der Beobachter im Gehirn, Frankfurt a. M. 2002. Wolf Singer, Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2003.
Von Seiten der Philosophie wurden einige Anstrengungen unternommen, die in diesem Zusammenhang vorgebrachten Behauptungen zu prüfen. Nicht wenigen KritikerInnen ging der Anspruch der Hirnforschung, nach 2000 Jahren endlich ein paar liegengebliebene Fragen der abendländischen Philosophie beantworten zu können, gegen den Strich. Wie immer in solchen Konstellationen waren die »bahnbrechenden Erkenntnisse« einer skeptischen Abwägung medial unterlegen.
Bleibt nach großen Ankündigungen die Umwälzung aus, mäßigt sich häufig auch der Auftritt der Propheten, hier der HirnforscherInnen. Der Hype klang irgendwann ab, manch steile These wurde stillschweigend revidiert. Gleichwohl gilt die Neurowissenschaft keineswegs als blamiert. Im Gegenteil, zu den abseitigsten Fragen werden heute die Resultate der Hirnforschung nachgefragt.
Erhebliche Bedeutung kam im Streit um das Gehirn nicht zufällig semantischen Fragen zu: Wie steht die Beschreibungsweise neuronaler Vorgänge zu der handelnder Akteure? Dieses Jahr erschien das Buch Warum das Gehirn Geschichten liebt: Mit den Erkenntnissen der Neurowissenschaften zu zielgruppenorientiertem Marketing. Ich habe es nicht gelesen und bin nur zufällig auf den Titel gestoßen. Aber er zeigt, dass die Kritik an einer bestimmten Redeweise, die zu einem Reizpunkt der damaligen Debatte wurde, fruchtlos war.
Ich werde zentrale Punkte der Kontroverse nachzeichnen und gehe dann dem Widerspruch nach, der aus dem angedeuteten Verlauf der damaligen Diskursoffensive resultiert: Warum ist der neurowissenschaftliche Reduktionismus wirkmächtig, obwohl die zugrunde gelegte Vorstellung vom Mensch unzutreffend ist – wovon im Alltag auch jeder und jede ausgeht.
Hype und Materialismus
Die Konjunktur der Hirnforschung beruht auf technischen Innovationen. Neue Messtechnologien und bildgebende Verfahren stehen seit den 90er Jahren zu Verfügung. Mit ihrer Hilfe macht die Neurobiologie Fortschritte in der Erforschung von Hirnfunktionen, die romantisch gestimmte Gemüter verstören könnten: Der Geist ist physisch realisiert, seine tiefsten Regungen, subtilsten Differenzierungen, spontansten Ideen – alles hat ein neuronales Korrelat, immer ist etwas messbar im Gehirn. In einem Manifest über die »Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung« von elf »führenden Neurowissenschaftlern«, publiziert in der Zeitschrift Gehirn & GeistDas Manifest, in: Gehirn & Geist 6 (2004), 30., hieß es 2004: »Geist und Bewusstsein – wie einzigartig sie von uns auch empfunden werden – fügen sich also in das Naturgeschehen ein und übersteigen es nicht. Und: Geist und Bewusstsein sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben sich in der Evolution der Nervensysteme allmählich herausgebildet.« Die technologisch generierten neuronalen Muster und Messergebnisse unterliegen dem naturwissenschaftlichen Kausalzusammenhang und das Gehirn unterliegt der Evolution. Das allein ist allerdings nicht besonders aufregend: Warum sollen Nervenreizungen im Bein naturwissenschaftlich beschreibbaren Regeln folgen, die komplexeren neuronalen Strukturen im Gehirn aber nicht? Die Brisanz resultiert aus der Konzeption des Zusammenhangs zwischen dem Physischen und dem Psychischen, wie z.B. (Selbst-)Bewusstsein und Urteilsfähigkeit. Auf Basis der eher trivialen Mitteilungen ergingen große Ankündigungen: »Was unser Bild von uns Selbst [sic.] betrifft, stehen uns also in sehr absehbarer Zeit beträchtliche Erschütterungen ins Haus.«Ebd.
HirnforscherInnen und NeurowissenschaftlerInnen traten mit dem Gestus auf, alte Zöpfe abschneiden zu wollen: Das fundamental erscheinende Geist-Körper-Problem sei endlich gelöst. Weil die Vorstellung von einem leiblos-immateriellen Ich, das die Körper-Materie kommandiert, Metaphysik im Wortsinn ist, gerierten sie sich als Speerspitze der Aufklärung. Eine möglichst barocke Fassung des Substanz-Dualismus diente als Pappkamerad. Substanz-Dualismus wird eine Ontologie genannt, die für Körper und Geist zwei nicht aufeinander reduzierbare Seinsbezirke annimmt. Diese Ontologie ist nicht gerade elegant (und die HirnforscherInnen machten sich ein bisschen lustig über die darin enthaltenen intellektuellen Zumutungen), denn absehbar macht das Problem der Vermittlung der Seinsbezirke erhebliche Probleme.
Fortschrittsgläubige aller Couleur neigen dazu, das Denken früherer Generationen für unterbelichtet zu halten. Es ist daher angebracht, sich vor Augen zu führen, dass das Hantieren mit zwei Welten – einer des Geistes (oder der Ideen) hier und einer, die den Gesetzen der Physik folgt dort – einer naheliegenden Intuition folgt. Nämlich der, dass man/frau mit Absicht und gemäß einem Plan auf die Welt einzuwirken vermag (z.B. einen Baum umsägen), und dass der Plan (die Vorstellung, wie es zu machen ist und wozu es dient) und der Baum nicht derselben Sphäre angehören. Bei der Konzeption der Vereinigung zweier Seinsbereiche im Individuum entstehen verschiedene Probleme – zu klären wäre etwa, wie und wo das Geistige (das Seelische ist mitgemeint) auf das Körperliche einwirkt und umgekehrt. Um derlei Problemen zu entgehen, gleichzeitig aber der Intuition zu folgen, dass die Beschreibung des Vorhabens, einen Baum umzusägen, mit Hilfe solcher Ausdrücke wie »sich überlegen, ob«, »jemanden um Hilfe bitten«, »ein bisschen aufpassen, dass« etc., nicht durch die Beschreibung von neuronalen Zuständen ersetzt (bzw. nicht darauf reduziert) werden kann, wurde der Vokabular-Dualismus stark gemacht. Dabei gilt: Die genannten mentalen Gehalte haben ein neuronales Korrelat, wir reden ontologisch betrachtet nur von einer Sache, aber auf zwei nicht aufeinander reduzierbare Weisen, nämlich entweder mit einem semantischen Vokabular oder aus physikalischer Perspektive.
Die seinerzeit langsam zu Popstars avancierenden HirnforscherInnen ignorierten weitgehend diese Position, die nicht allzu viel erklärt, aber immerhin das Problem offen hält. Es gibt durchaus Neurobiologen, die komplexe physikalische Theorien entwickeln, um von messbaren Nervenreizungen zu nicht messbaren Bewusstseinszuständen zu kommen. Unabhängig davon, was ihre Theorien tatsächlich leisten, drängen diese Vertreter der Zunft nicht auf den Hugendubel-Neuheitentisch. Eingeräumt wird, dass eine einheitliche Theorie des Gehirns nicht in Sicht ist, dass rein kognitive Vorgänge zu isolieren, um sie als neuronale Prozesse zu analysieren, kaum funktionieren kann, da immer auch Motivation und Emotion im Spiel ist. Aber selbst wenn sich einmal eine Perspektive entwickeln ließe, unter der Bewusstseinsvorgänge und neuronale Vorgänge als verschiedene Beschreibungsweisen desselben Phänomens erkennbar würden, wäre das kein Grund, den neurobiologischen Auftritten aus der vergangenen Dekade mit Nachsicht zu begegnen.Matthias Vogel, Gehirne im Kontext. Anmerkungen zur philosophierenden Hirnforschung. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52 (2004), 987. Ob man es nun Kategorienfehler oder naturalistischer Fehlschluss nennt, so oder so ergeht das Verdikt auf der Basis von Sinn und Semantik, nicht von Neuronen. Die beschriebene Sprechweise ist auch heute omnipräsent.
Es ist ja vielleicht keine schlechte Idee, das Problem des Geistes von der Seite der körperlichen Beschaffenheit des Menschen anzugehen, schließlich hat das Aufdecken physikalischer Kausalzusammenhänge die Zivilisation um einiges vorangebracht. Jedoch argumentierte die Neurowissenschaft nicht auf dem Niveau der Teilchenphysik. »Manche Texte der philosophierenden Hirnforschung verdanken ihre Anziehungskraft nicht handfesten Einsichten und sorgsam ausgearbeiteten Argumentationen, sondern einem Gemisch aus Entlarvungsrhetorik und begrifflichem Tabubruch, das sich im Kampf um die knappe Ressource öffentliche Aufmerksamkeit schon immer bewährt hat: Das, was wir für unser Innerstes halten, das Bewusstsein oder die Persönlichkeit, wird entlarvt als eine Konstruktion des Gehirns, und das der alltagspsychologischen Sprache implizite Verbot, psychologische Verben wie ›wissen‹ , ›glauben‹ , ›wünschen‹ , usw. nicht auf Teile des Körpers einer Person anzuwenden, wird trotzig – und daher demonstrativ – übertreten.« [1] Matthias Vogel, Gehirne im Kontext. Anmerkungen zur philosophierenden Hirnforschung. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52 (2004), 987. Das Ärgernis bestand darin, dass die NeurowissenschaftlerInnen sich nicht damit begnügten, den gap, d.h. die Erklärungslücke zwischen Physis einerseits und sinnhaften Einheiten andererseits von ihrer Seite zu vermessen, sondern dass sie flugs dem Gehirn eine weltschöpferische Funktion zuschrieben. In einer unabgesetzten Rede erschien das Gehirn als Urheber, als Handlungssubjekt, ungeachtet dessen, dass es Personen sind, die denken, fühlen und handeln. Gehirne können das ebenso wenig wie andere Organe oder Neuronenverbunde. Der Kategorienfehler war (jedoch) offensichtlich gegen Einwände immun. Ob man es nun Kategorienfehler oder naturalistischer Fehlschluss nennt, so oder so ergeht das Verdikt auf der Basis von Sinn und Semantik, nicht von Neuronen. Die beschriebene Sprechweise ist auch heute omnipräsent. Worauf verweist das?
Die Attraktivität der Hirnforschung speist sich gerade daraus, dass sie mit dem Gehirn einen letztinstanzlichen Akteur auftreten lässt. In den forcierten Popularisierungen erneuert sie die Metaphysik, die sie vorgibt zu vertreiben. Die Aufladung neuronaler Prozesse mit semantischem Vokabular beinhaltet einen doppelten Kurzschluss: von der Denktätigkeit einer Person in ihren Lebensvollzügen – Bewusstsein entsteht nur in sozialisierten Körpern Vgl. Thomas Fuchs, Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, Stuttgart 2008. – zu isolierten mentalen Gehalten, von diesen Gehalten zum gesteigerten Energieverbrauch in einem Hirnareal, der als visualisiertes Messdatum ausgegeben wird. Die Einheit des lebendigen Organismus samt seiner sozialen Bedingtheit wird von den NeurowissenschaftlerInnen erneut ignoriert, und das Gehirn erhält ziemlich genau die Funktion, die im Idealismus dem Geist zukam. So ist es möglich, mit den Ergebnissen ambitioniertester Forschungen zu hantieren und trotzdem auf eine Letztinstanz zu verweisen. Der Effekt ist ein doppelter: Zum Einen kursiert ein vulgärer Determinismus (der letztlich nicht ernst gemeint ist), zum Anderen gerierte sich – zumindest zur Zeit des Hypes – die Hirnforschung ungeniert als Leitwissenschaft, denn an ihr war es ja, auf griechische Philosophen zurückgehende Irrtümer zu korrigieren und das neue Menschenbild zu skizzieren, ein Menschenbild, in dem die Vorstellung der Willensfreiheit z.B. keinen Platz mehr hat. Die Herausforderung der Hirnforschung besteht dann auch weniger in ihren Forschungsergebnissen, als in den Postulaten, die dem Gehirn eine quasi-transzendentale Realität zuschreibt und jedem anderen Verständnis von Mensch und Welt eine theoretische Bringschuld zuweist.
Willensfreiheit und Ich-Identität
Ein neuronales Äquivalent für ein Ich, das gleichsam die Leitung über anflutende Wahrnehmungen und Empfindungen inne hat, sei nicht aufzufinden, so die Hirnforschung. Wie man auch ins Gehirn schaut, überall nur Teilprozesse, nirgends ein Zentralprozess. Die bewusste Erfahrung eines Selbst, das gleichsam hinter sich steht, sei samt der Selbstkontrolle, hirnphysiologisch betrachtet, Unsinn. Handlungen würden von der Illusion begleitet, dem freien Willen zu unterliegen, tatsächlich geschehe die Bewusstwerdung erst nachträglich, wenn das Gehirn schon verschaltet habe. Im Wesentlichen waren es die Libet-Versuche, die die Willensfreiheit als Schimäre entlarven sollten. Versuchspersonen war aufgegeben worden, in einer gegebenen Zeitspanne, aber zu einem selbst gewählten Zeitpunkt eine einfache Fingerbewegung zu vollziehen, parallel wurden ihre Hirnaktivitäten gemessen. Entscheidungstypische Aktivitäten in entsprechenden Hirnarealen ließen sich messen vor dem Zeitpunkt, den die Versuchspersonen jeweils als den ihrer Entscheidung angaben. Die Libet-Versuche beschreiben demnach eine temporale Folge, die von den NeurowissenschaftlerInnen als Beleg für kausale Abhängigkeit gelesen wurde: Die Neuronen feuern, dann erlebt das Ich seine Entscheidung. Ergo entscheiden wir nicht, wie wir glauben, aus Gründen, bestimmend sind die Hirnfunktionen.
Neben der Fragwürdigkeit des Versuchsaufbaus – was genau wurde eigentlich gemessen? – zielte das Experiment vor allem auf den handlungsauslösenden Faktor, »nicht aber auf einen Willen, der im starken Sinne handelt, Gründe in Betracht zieht oder Motive verfolgt.« Petra Gehring, Es blinkt, es denkt. Die bildgebenden und die weltbildgebenden Verfahren der Neurowissenschaft, in: Philosophische Rundschau Bd. 51 (2004), 287. Kein empirisches Zentrum der Ich-Identität lässt sich finden, hieß es –, warum aber sollten die Erfahrungen eines wie auch immer gebrochenen oder einheitlichen Ichs an der Einheit eines empirischen Ortes in der Hirnphysiologie hängen? Auch hier braucht die Argumentation der HirnforscherInnen eine holzschnittartige Gegenposition. Das Ich aus einem Guss ist in der Moderne jedoch schon lange passé. »Individuen sind reflexiv wie auch praktisch fragil, sie sind in Beschränkungen verstrickt – in diesem Sinne sind die Einheit unserer Selbstwahrnehmung und auch Konzepte wie ›Identität‹ oder ›Freiheit‹ in der Geschichte der Denksysteme stets Problemtitel gewesen.« Ebd., 283. Das hat sich auch außerhalb des philosophischen Seminars herumgesprochen: Die Zuschreibung von Gründen für Handlungen des Gegenübers ebenso wie die parallele Erwartung eines nicht bedachten, bloß reaktiven Verhaltens sowie die Möglichkeit auf beides sprachlich Bezug zu nehmen, ist eine soziale und gut funktionierende Folge des Umgang mit den wackeligen Ich-Funktionen. Auch wenn wir alltagspraktisch nicht immer den autonomen Geist am Werk wähnen, kehren wir im Prozess des wechselseitigen Verstehens doch nicht zum Modell des Reiz-Reaktionsbündels zurück.
Die Neurowissenschaft bietet nicht einmal einen Einstieg in eine vernünftige materialistische Betrachtungsweise, denn die Fragilität der Einheitsvorstellungen wird unter ihrem diskursiven Kommando gerade nicht in Hinblick auf leibliche, diskursive, gesellschaftliche oder politische Limitierungen diskutiert. Im Grunde wird diese Fragilität nicht einmal ernst genommen. Wie kompliziert ihre Apparaturen, wie fremd ihre Fachtermini auch sein mögen, die Neurobiologie macht wie zuvor bereits die Gentechnik mit ihren Ursache-Wirkungsschemata einfache Welterklärungen verfügbar. Hier die genetische Disposition, da die (Fehl-)Funktion im Großhirnrindenbereich. Nicht erst mit den daran anknüpfenden Maßnahmen und Diagnosen sind Geschichte, Sozialwissenschaft und Gesellschaftstheorie aus dem Spiel.
Die Autorität, mit der die Hirnforschung auftreten kann, ist trotz des Abklingens des Hypes nicht vergangen. Für die Vorstellung von der Zentralinstanz scheint es gleichgültig zu sein, dass dem theorieinduzierte Determinismus nicht entsprochen, dass das Menschenbild überhaupt nicht über den Haufen geworfen wurde. Vogel hat die Folgen einer solchen Umkehrung ziemlich beeindruckend durchgespielt: der Zusammenbruch des wechselseitigen Verstehens, vgl. Matthias Vogel a.a.O., 991f. Wenn die Revolution des menschlichen Selbstverständnisses aber nicht stattfand, stellt sich die Frage, wozu das große Raunen brauchbar war.
Konsequenzen
Die Folgen der popularisierten Hirnforschung gingen in zwei Richtungen. Die Kenntnis von Hirnfunktionen eröffnet Einflussmöglichkeiten auf das Verhalten von Konsumenten und Probanden, von Soldaten und Delinquenten. Nicht im Sinne einer Fernsteuerung oder einer Übernahme als menschlicher Roboter, aber durch Einflussnahme auf der Ebene der Reiz-Reaktionsmechanismen. Anforderungen oder Verhaltensschemata, die weitgehend standardisiert sind und bei denen Kooperationsbereitschaft vorausgesetzt werden kann, lassen sich mithilfe von Erkenntnissen aus der Hirnforschung verhaltenspsychologisch optimieren, Fehlschläge natürlich nicht ausgeschlossen. Diese tatsächlich möglichen Anwendungen im Bereich mind control müssen von den Folgen einer neuerlichen Einsetzung eines naturwissenschaftlichen Reduktionismus in der Beschreibung des Menschen unterschieden werden.
Die Hirnforscher bezogen ihre Postulate gelegentlich kokett auf sich selbst, etwa wenn Wolf Singer auf die Frage eines Journalisten, ob es sein freier Wille sei, das Interview zu geben, antwortete, das sei wohl nicht so, denn kognitive Prozesse in seinem Gehirn hätten letztlich dazu geführt, dass er zugesagt habe. Vgl. Das Ende des freien Willens. Interview mit Wolf Singer, in: Spektrum der Wissenschaft (2) 2001, 72. Zog man seine Eitelkeit in Betracht, schien er doch davon auszugehen, als Person einen Verdienst an den Forschungsergebnissen reklamieren zu dürfen. Deutlich wird daran, dass die Rückwendung der deterministischen Sprechweise den Forscher nicht zwangsläufig provoziert. Letztlich steht nämlich fest, für wen das Konglomerat aus Forschungsergebnissen und Diskursintervention tatsächlich Konsequenzen haben könnte. Insbesondere psychische Krankheiten und strafrechtlich relevantes Verhalten werden unter Bezug auf die Resultate der Hirnforschung diskutiert. Neben den Beiträgen zu anthropologischen Fragen liefert die Hirnforschung Stellungnahmen mit klinischer Relevanz.
So wurden die Postulate der Neurowissenschaft hinsichtlich des ausfallenden freien Willens, die sie aus ihrem Einblick in die neuronalen Grundlagen menschlichen Denken und Handelns ableitete, zu Folgerungen in Bezug auf das Strafrecht, genauer die Strafmündigkeit, herangezogen. Weil die Zuschreibung von Schuld im strafrechtlichen Sinn davon ausgeht, dass es in der Möglichkeit eines Angeklagten lag, sich gegen das rechtlich verbotene Handeln zu entscheiden, sind mit der prinzipiellen Infragestellung der Willensfreiheit auch die Grundlagen des Strafrechts erschüttert. Es verlange etwas, was nicht zu erfüllen sei und gehöre abgeschafft. Vgl. ebd., 75. Das ist weniger erstrebenswert, als es auf den ersten Blick vielleicht erscheinen mag. An die Stelle treten nämlich Therapie und Behandlung, respektive die »Maßregeln zur Sicherung und Besserung«. Eine Regelung, die zurückgeht auf den Nationalsozialismus und das meint, was sie sagt, unterläuft mithin die Eindeutigkeit gesetzlicher Strafnormen.
Die Idee der Resozialisierung hängt an einem adressierbaren Ich, auch Milde kann nur gegenüber Fehlverhalten geübt werden, das man Jemandem vorwerfen kann. Derjenige aber, der nicht verantwortlich gemacht werden kann, ist ein pathologischer Fall und damit auf unkalkulierbare Weise medizinischen Expertisen ausgeliefert, die zudem prognostisch arbeiten, d.h. nicht nur zurück liegendes Verhalten befunden, sondern Zukunftsspekulationen anstellen. Dem entspricht heute die Maschinerie der Sicherungsverwahrung. Die standardmäßige Pathologisierung des Verbrechers als Verbrecher ist kein Fortschritt. Die Frage der Grenze zwischen Zurechnungs- und Unzurechnungsfähigkeit samt des zugrundeliegenden Problems der Begriffe Normalität und Gesundheit ist brisant. Ebenso wie eine regelhafte Pathologisierung abweichenden Verhaltens ist auch die Ablehnung, eine psychische Erkrankung jemals als Strafausschließungsgrund heranzuziehen, inadäquat.
Selbstoptimierung
Auffällig ist, dass das zeitweise äußerst forciert vorgebrachte deterministische Programm nicht entlastend wirkt. Eigentlich läge es nahe, die Erkenntnis der Steuerung meines Selbst durch wie auch immer induzierte Hirnnervenreizungen mit der Einstellung aller Maßnahmen der Selbstprüfung, ja im Grunde der Verantwortungsübernahme zu beantworten. So demoralisierend die Erkenntnis des Ausgeliefertseins im ersten Moment ist, so entlastend könnte sie im zweiten sein. Aber es öffnete sich keine Fluchttür aus dem grassierenden Zwang zur Selbstoptimierung. Die Mitteilungen darüber, was das Hirn alles macht, wie es steuert und regelt, ergeht an RezipientInnen, die irgendwie doch das Sagen haben im Umgang mit ihrem Gehirn.
So wie nicht der Bürger Wissenschaftler, sondern Straffällige und SoldatInnen für Anwendungen der Hirnforschung in Betracht kommen (die neurologischen Kausalitäten sich also offenkundig an die soziale Hierarchie halten), so wird im Subjekt analog zum Forschungslabor weiter ein Ort der Souveränität reserviert, gleichsam die unangefochtene Heimstatt des Selbstregenten. Die guten von den schlechten Einstellungen zu unterscheiden, das nehmen uns die Neuronen nicht ab. Ähnlich wie bei der Genforschung, deren Determinismus zu Risikovorhersagen gerann, denen der/die Einzelne entsprechen soll, indem er/sie ein Bündel diffuser Gefahren abzuwehren versucht, ist auch die Zentralinstanz Gehirn ein Modul, das man bei Strafe des Untergangs (im Dunkel der Demenz) zu pflegen hat: Gehirnjogging, Konzentrationsübungen und Assoziationsspiele. Auch die Literatur für werdende Eltern, bzw. Mütter ist verseucht von Erkenntnissen der Hirnforschung, die darauf abheben, dass in der (früh)kindlichen Entwicklung nicht passive Reifungsschritte aufeinanderfolgen, sondern dieser Prozess von der Aktivität des Kindes abhänge, also eine Frage des Förderns und Forderns sei. An ihren Kindern exekutieren Erwachsene exzessiver noch als an sich selbst Kriterien der Qualitätssicherung, um das biologische Potenzial auszureizen. Trotz der angekündigten Revolutionierung des Menschenbilds gibt es keine Entlastung gegenüber den Optimierungsimperativen. Ohne theoretische Skrupel wird fortgeschrieben, was die biopolitische Konzeption der Bevölkerung aus der Erbmasse der Aufklärung sich angeeignet hat: Das Selbst, als Adressat vernünftigen, d.h. in diesen Zusammenhängen verpflichtenden Wissens über all das, was krank macht und Kosten verursacht, darf keinesfalls ausfallen.
Für die Hirnforschung bleibt die Aura, mit einem Gegenstand beschäftigt zu sein, von dem aus sich bedeutende Aussagen formulieren lassen, die die Grundlage für andere Disziplinen bilden, nicht hintergehbar sind und schon gar nicht ignoriert werden dürfen. Die Neurowissenschaften haben mit den Thesen über das menschliche Selbstverständnis erheblichen Einfluss auf die Geisteswissenschaften gewonnen, zum Beispiel im Bereich der Psychoanalyse. Freuds Begriff des Unbewussten musste herhalten, um das Modell der neuronalen Aktivitäten als eigentlichem Akteur in ein umgangssprachliches Vokabular zu überführen. Was immer die moderne Hirnforschung gerade festgestellt hat, die zum Teil fundamentale philosophische, wissenschaftstheoretische oder politische Kritik an ihren Prämissen wird nicht dazu in Bezug gesetzt. Dem Anspruch, den maßgebliche NeurowissenschaftlerInnen für ihre Disziplin durchgesetzt haben, konnten ihre Ergebnisse (selbstverständlich) nicht genügen, aber das Recht, als naturwissenschaftliche Instanz für zahlreiche Fragen des sozialen Lebens aufzutreten, wurde ihnen nicht entzogen.
Christoph Schneider
Der Verfasser ist Autor und Kulturwissenschaftler und lebt in Frankfurt am Main.