Als Satoshi Nakamoto im Januar 2009 die erste Version der Bitcoin-Software in Betrieb nahm und den ersten Block der ersten Blockchain, den »Genesis-Block«, in die Welt setzte, gab er einen kleinen Hinweis mit auf die Reise, denn in diesem Block steht ein Kommentar: »The Times 03/Jan/2009 Chancellor on brink of second bailout for banks.« Somit schrieb sich die erste staatenlose, digitale Währung nicht nur verrechenbar in die Welt ein, sondern zugleich semantisch. Nakamoto stellte die Erfindung »Bitcoin« eindeutig politisch und historisch in den Kontext der sogenannten Finanzkrise. Mit Bitcoin gesellte sich der libertären Rechten, die den Staat als systematischen Feind der Freiheit des Einzelnen ansieht, eine Währungstechnik hinzu, in die diese ideologische Vorannahme bereits eingebaut ist. Sie schickte sich an, den Hass auf den Staat und insbesondere auf Zentralbanken endlich produktiv in eine Entkopplung von Geld und Staat münden zu lassen. Denn in der Frühzeit von Bitcoin, bevor südkoreanische RentnerInnen und spätpubertäre Nerds massenhaft ihre kleinen Vermögen in der Spekulation mit Bitcoins verloren, also bevor Bitcoin überhaupt gesellschaftliche Relevanz hatte, bot diese Software in weiten Teilen tatsächlich Aspekte einer gegen den Staat gerichteten und von Zentralbanken unabhängigen Tauschwährung.
Bitcoin als Meme
Der heutige Zustand der digitalen Währung hat jedoch mit den ersten Jahren kaum mehr etwas gemeinsam. Das gilt weder auf der Ebene der praktischen Erzeugung von Bitcoins, die heute vollständig in den Händen eigens dafür gegründeter Firmen ist, die umfangreiche Maschinenparks mit spezialisierter Hardware betreiben. Noch besteht die Dezentralität fort, die Nakamoto sehr wichtig war. Denn heute bestimmen sehr wenige Pools von ErzeugerInnen neuer Bitcoins, sogenannte Miner, die Fortschreibung der Bitcoin-Blockchain. Bitcoin hat seit seiner Entstehung schon mehrere Phasen durchschritten und erst deren Differenzierung macht das Phänomen verständlich. Aus heutiger Sicht muss etwa der »Bitcoin Pizza Day« (22.5.2010), also der Tag, an dem für den heute stattlichen Preis von 10.000 Bitcoins erstmals zwei Pizzas den Besitzer wechselten, als lächerliche Spielerei erscheinen. Doch zeigen solche frühen Ereignisse vor allem eines an: Bitcoin war zu Beginn eher der Versuch, die eigene technische Machbarkeit zu beweisen, eine Spielerei von Cypher-Punks und Nerds. Die folgende Entwicklung zu einem Gegenstand der Spekulation, der langsam auch die institutionelle Finanzwelt erreicht, war gewiss nicht im Sinne des oder der ErfinderInnen, die hinter dem Pseudonym Nakamoto stehen: Der Algorithmus von Bitcoin enthält deflationäre Funktionen, die gerade auf Wertstabilität abzielen. Da hinter Bitcoin keine juristisch greifbare Person oder Firma steht, die im Falle eines Crashs verantwortlich gemacht werden könnte, ist die Spekulation mit Bitcoins und deren wahnwitziger Preisanstieg in den letzten Jahren einzig und allein durch den Glauben an ihren Wert gedeckt. Bitcoin ist insofern in vielerlei Hinsicht nicht mehr als ein Meme, das sich ins Imaginäre seiner TrägerInnen eingepflanzt hat.
Ergreift diese Idee die Massen?
Kryptowährungen werden in Zukunft eine wachsende Rolle für spezialisierte Werttransaktionen spielen. Es zeichnen sich heute Differenzierungen ab, die auf solche Anwendungen einzelner Kryptowährungen hindeuten. Für wirklich anonyme Werttransaktionen stehen z.B. Monero oder Zcash bereit. Viel wird davon abhängen, wie und ob eine Regulierung von Kryptowährungen international durchgesetzt werden kann und wie deren Besteuerung ausfällt. Der Wettbewerb der Staaten ist auf diesem Gebiet im vollen Gange. So bringt sich etwa der Schweizer Kanton Zug unter dem Slogan »Crypto Valley of Zug« als attraktiver Standort in Stellung. Hintergrund ist, dass das Bankgeheimnis in der Schweiz seit Januar 2018 durch ein weitreichendes Steuerabkommen mit der EU gefallen ist. Mit dem Bankgeheimnis gingen auch verschiedene Standortvorteile, unter anderem für die organisierte Geldwäsche, verloren.
Die Frage einer massenhaften Benutzung von Kryptowährungen entscheidet sich auf einer anderen Ebene. Besonders die direkte Anbindung an die etablierten Zahlungstechnologien wie Kreditkarten lässt auf sich warten. Hintergrund dürften auch hier die Bestimmungen gegen Geldwäsche und andere Regularien sein, die mit Bitcoin bisher leicht zu umgehen sind. Auch skaliert Bitcoin allein nicht gut genug für massenhaftes Bezahlen, d.?h. es kann bei Operationszahlen unterschiedlicher Größenordnungen nicht die gleiche Operationalität gewährleisten. Abspaltungen von Bitcoin, sogenannte Forks wie etwa BitcoinCash, adressieren dieses Problem, indem sie mehr Transaktionen pro Sekunde ermöglichen. Anzunehmen ist jedoch, dass erst die nächste Generation eine den Kreditkartenfirmen vergleichbare Transaktionsrate erreichen kann. Doch allein technisch lässt sich eine Massenadaption nicht erreichen. Es bleibt abzuwarten, ob und wie sich die Technologien entweder mit den gängigen Zahlungstechnologien verzahnen oder gegen sie aufstellen. In jedem Fall lassen sich auf der Ebene des Handels mit Finanzprodukten erste Verschränkungen feststellen. Die Börse Stuttgart kündigte hierzulande als erste an, den Handel mit Kryptowährungen anzubieten. Und in Chicago werden bereits erste Finanzprodukte gehandelt, die auf Kurse von Kryptowährungen Wetten abschließen.
Bitcoin lässt sich in erster Linie als ein interessantes Phänomen einer zusehends von einem vernetzten digitalen Technologieverbund verwalteten Welt verstehen. Während Google, Apple, Facebook und Amazon nur den steuerbegünstigten Plattformkapitalismus etablierten, der Überwachung produktiv in Wert zu setzen verstand, hat Bitcoin von vornherein auf jede rechtliche Verankerung verzichtet. Gleichzeitig bietet die Infrastruktur von Bitcoin, die Blockchain, Anhaltspunkte einer algorithmischen Verwaltung, die in unterschiedlichsten Segmenten von Wirtschaft, Industrie und Administration Schritt für Schritt eingeführt wird. Hierbei ist die Bitcoin-Blockchain eine Art role model, dessen Probleme, etwa der unsäglich hohe Stromverbrauch, in neueren Generationen überwunden werden sollen und teils bereits überwunden sind.
Vertrauen in der bürgerlichen Gesellschaft
Blockchains werden gemeinhin als kryptographisch gesicherte, verteilte Datenbanken beschrieben, die wahlweise öffentlich einsehbar oder geschlossen sind. Gern wird hervorgehoben, dass ihre Architektur durch peer-to-peer Vernetzung dezentral funktioniert, obwohl dies kein zwingendes Designmerkmal ist. Das zeigt der Finanzdienstleister Ripple, der sehr erfolgreich Banken für ihren internen Geldverkehr mit proprietären Blockchains verbindet. Diese sind weder netztopologisch verteilt, noch öffentlich einsehbar, wie im Falle von Bitcoin. Die immer noch vorherrschende Rede von der Blockchain als einer öffentlichen, verteilten Datenbank, die fälschungssicher ist, reduziert sich in den erfolgreichen, realen industriellen Anwendungen auf letzteres Merkmal. Zusätzlich sind Blockchains streng genommen keine Datenbanken. Vielmehr handelt es sich um Logfiles, die ein strenges chronologisches Regime etablieren, in dem immer nur Daten angefügt, nicht aber gelöscht oder verändert werden können. Wäre es möglich, ältere Einträge zu ändern, gäbe es keinen Existenzgrund für diese Technik, denn etablierte Datenbanksysteme sind wesentlich leistungsfähiger. Die Stärke von Blockchains liegt einzig in diesem Append-Only Modus, der durch kryptographische Verfahren stets überprüfbar ist. Hashes, z.?B. hexadezimale Zahlenreihen, bilden rechnerisch ein digitales Objekt ab. Jeder Block einer Chain enthält einen Hash auf den vorherigen Block. Dies garantiert die Validierbarkeit der Chain nach hinten mit wenig Rechenaufwand.
Nun stellt sich die Frage, wieso dieses technische Feature einen Investitionsboom in der IT-Branche und bei unzähligen Start-Ups auslösen konnte. Die Stimmen, die alles für einen nervigen Hype halten, der schon bald vorüber sein wird, sind zahlreich. Aus gesellschaftskritischer Perspektive bieten sich aber durchaus Erklärungen des Phänomens jenseits eines kollektiven Fiebers an. Schließlich lösen Blockchains ein uraltes Problem bürgerlicher Vergesellschaftung, das bis heute sehr kostenintensiv geblieben ist: das Problem des Vertrauens in einer Welt voller FeindInnen und KonkurrentInnen. Blockchains, wie die von Bitcoin, ersetzen Vertrauen durch Rechenbeweise. Das für Geschäfte nötige, aber in spätkapitalistischen Gesellschaften nicht vorhandene Vertrauen musste bisher entweder der Staat mit seinen Institutionen herstellen, z.?B. mit Ämtern und BeamtInnen, die Dokumente ausstellten, im Zweifel auch durch Polizei und Armee. Oder es gab staatlich sanktionierte Dritte, die dabei kräftig mitverdienten, z.?B. NotarInnen. Der Notstand, auf den Blockchains antworten, liegt in der systemisch eingeschriebenen Problematik solcher Gesellschaften, der Unmöglichkeit des Vertrauens. Nicht umsonst hat die mathematische Spieltheorie, entwickelt gegen Ende des Zweiten Weltkrieges von kalten Kriegern wie John von Neumann und Oskar Morgenstern, im Design und der algorithmischen Operationalisierung der Blockchains reichhaltigen Niederschlag gefunden. Um Geschäftsprozesse zu automatisieren, also auch interne Entscheidungsprozesse darüber, wie Blockchains weiterentwickelt werden, werden vermehrt Algorithmen implementiert, die den am Netzwerk teilnehmenden Knoten bestimmte Rechte zusprechen, nach Kriterien wie Rechenkraft oder Anteile an Tokens. Aus dem Baukasten der Spieltheorie hat sich hier unter anderem das Nash-Equilibrum, benannt nach dem Mathematiker und Antikommunisten John Nash, als hilfreich erwiesen (z.?B. im Cardano Projekt). Es beschreibt die Kombination individueller Strategien in paranoiden Situationen, wie etwa im sogenannten »Gefangenendilemma«: Zwei gemeinsam beschuldigte Gefangene werden einzeln verhört und kennen die Aussage des oder der jeweils anderen nicht – die in der Spieltheorie dominante Lösung, das Nash-Equilibrium, ergibt sich, wenn beide gestehen und dadurch auch die oder den andere/n Gefangene/n belasten. Diese und ähnlich nicht-solidarische soziale Situationen sind in neuesten Blockchain-Algorithmen formalisiert und regieren deren Betrieb, neben einer Vielzahl weiterer Modelle aus der Ökonomie oder Physik. Insofern formalisiert und operationalisiert die Blockchain-Technologie ein Menschenbild, das seit Adam Smiths Wealth of Nations als Basis von Sozialität in die bürgerliche Ökonomie eingeschrieben ist, aber bisher nicht technologisch absolut gesetzt wurde. Blockchains etablieren eine Verwaltung, in der keiner keinem mehr zu trauen braucht, nicht einmal mehr den Platzhaltern des Vertrauens, da dieses Problem bürgerlicher Vergesellschaftung nun in Maschinen ausgelagert ist, oder sogar in optimaler Weise von Maschinen berechnet wird.
Wie ubiquitär diese Standardsituation unserer Vergesellschaftung ist, entgeht uns gern, da sie im Alltag recht formlose Züge angenommen hat. Für die warenproduzierende Welt und deren Verwaltung bleibt der Widerspruch des Zwangs konkurrierender Kooperation systemisch und muss mit äußerst unproduktiven, zeitintensiven und somit kostenverursachenden Mitteln aufgefangen werden. Betrug und allgemein Streitigkeiten zwischen Vertragspartnern landen vor Gericht, Investitionen verlangen Rechtssicherheit. Blockchains bieten also, nun wirklich jenseits digitaler Währungsphantasien, ein sehr reales Potential, das bürgerliche Betriebssystem maschinenlesbar zu machen und es damit zu übersetzen in die Welt der symbolverarbeitenden Maschinen. Damit ergeben sich praktischerweise auch gleich einige Upgrade-Möglichkeiten von wichtigen bürgerlichen Abstraktionen wie z.?B. Eigentum. Zwei Beispiele sollen diese Potentiale durch Blockchains kurz illustrieren. Auch wenn beide erst noch erforscht werden und ernste Zweifel an ihrer Durchsetzung angebracht sind, zeigen sie dennoch, dass Blockchains auch auf physische Objekte abzielen, und somit den Schulterschluss und die Verkettung der symbolverarbeitenden Maschinen mit der Warenwelt forcieren.
Blockchain als Kontrollinstrument
Der Zuffenhausener Autohersteller Porsche kündigte jüngst an, mit dem Berliner Start-Up XAIN die Verwaltung und Kontrolle einiger Modelle per Blockchain zu regulieren. Dabei geht es um die Modulation des Zugangs, des Betriebs und eventueller Verstöße gegen Regularien: »The technology makes it possible to assign temporary access authorisations for the vehicle […]. Third-party providers can be integrated without the need for additional hardware, simply by using ›smart contracts‹. Smart contracts are automated contracts that trigger transactions upon the occurrence of previously defined conditions. This means that compliance with the contract is ensured through technology.«Zit. n. Porsche Newsroom, Porsche introduces blockchain to cars, Porsche.de, 22.Februar 2018, http://0cn.de/foxx Eine Blockchain registriert und verwaltet Ereignisse, sprich Daten, des Autos, wie z.?B. das Öffnen der Türen, die unveränderbar in der Blockchain geloggt werden. Dies ist nicht so erstaunlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag: die Automobilbranche befindet sich schon länger im Übergang zum Verkauf von Waren auf Widerruf, schließlich müssen bei Neuwagen strikte Kontrollen eingehalten werden, damit Garantien gültig bleiben. Konzepte wie Leasing stellen hier Hybridformen von Mieten und Verkaufen dar. Und auch die mit den Autoherstellern eng verzahnte Versicherungsbranche erprobt GPS-GSM-basierte Überwachungsmodelle, um Tarife auf »Kundenbedürfnisse« zuzuschneiden. Wenn also der Beifahrersitzsensor der Blockchain eine Beifahrerin meldet, könnte sich dies auch auf den Versicherungstarif für die nun folgende Strecke auswirken.
Das andere Beispiel kommt von Lenovo. Der chinesische Computerhersteller hat ein Patent eingereicht, das beschreibt, wie sich mit Blockchains Papierdokumente validieren lassen. In einer Welt der Verträge muss sichergestellt sein, dass ein Vertrag auf allen Stationen, die er durchwandert, kontrollierbar unverändert ist, bzw. Veränderungen kontrolliert dokumentiert werden. Das Lenovo-Patent beschreibt einen Prozess, der unter Einbindung einer Blockchain die Integrität von Papierdokumenten garantiert: »Using the security block chain, anyone can validate that they have the current authentic physical document even if multiple paper copies exist and multiple people have made entries in the chain of modification. If any forgeries exist, they will show up as orphaned blocks in the chain. To validate a paper copy, a user of the electronic device takes a picture of the printed code on the physical document.«Zit. n. U.S. Patent and Trademark Office, United States Patent Application 20180046889 by Lenovo PTE. LTD, uspto.gov, 15. Februar 2018, http://0cn.de/ose1 Das Patent soll gewissermaßen endlich Ordnung im Büro schaffen: Eine Blockchain stellt sicher, dass das richtige Dokument bearbeitet wird, in der aktuellen Version und verifizierbar authentisch. Damit will das Lenovo-Patent verhindern, dass Menschen ohne Autorisierung Dokumente verändern können. Hier geht es um die Ausschaltung menschlicher Eingriffsmöglichkeiten in alltägliche Verwaltungsprozesse durch deren maschinelle Validierung oder Falsifizierung. Das Lenovo-Patent reiht sich ein in eine Erzählung über Blockchains, die hervorhebt, dass mit dieser Technik illegitimes oder fehlerbehaftetes menschliches Handeln eingeschränkt und Kontrolle rationalisiert wird.
Beide Beispiele veranschaulichen, dass es ein Kontrollszenario ist, für das Blockchains in die Welt gesetzt werden. Und in beiden Fällen ist es zugleich hilfreich, eine historische Perspektive auf die Problemlage einzunehmen, auf die Blockchains antworten. Der Übergriff der Warenwelt auf die Zeit nach dem Kauf bzw. die technologische Einhegung des Misstrauens von Vertragsparteien in einer auf Konkurrenz und Feindseligkeit aufgebauten Wirtschaft ist eine immanente Folge des abstrakten bürgerlichen Konzeptes von Eigentum, das die Dinge selbst nicht kennen. Mit Bezug auf Michel Foucaults Genealogie liberaler Gesellschaften lässt sich dieser Gedanke ausformulieren.
Der bürgerliche Betrug am Diebstahl
Es ist nicht überliefert, ob Foucault in seinen Vorlesungen von 1973 zur Strafgesellschaft, in denen er weite Teile von Überwachen und Strafen erarbeitete, Proudhons Diktum »Eigentum ist Diebstahl« vor Augen hatte. Jedenfalls erkennt er in der moralischen Modulation der neuen bürgerlichen Gesetzgebungswut des ausgehenden 18.?Jahrhunderts einen bürgerlichen Betrug am Diebstahl. Er stellt fest, dass es zu Zeiten der Etablierung des bürgerlichen Eigentumsmodells eine Übergangsphase mit eigenen Praktiken gab, die er illégalismes populaires nennt.Michel Foucault, Die Strafgesellschaft. Vorlesung am Collège de France 1972-1973. 1. Aufl., Berlin 2015. In dieser Phase der französischen Geschichte agierte noch eine Allianz aus unterschiedlichen, letztlich antagonistischen gesellschaftlichen Kräften gegen den gemeinsamen Feind Feudalgesellschaft. So war es möglich, dass feudales Eigentum ohne Widerspruch der bürgerlichen Fraktionen von der großen Zahl der besitzlosen Armen ohne Strafe angeeignet werden konnte – schließlich ging es zunächst noch um die Überwindung einer der Kapitalbewegung entgegenstehenden Phase der Geschichte.
Diese massenhafte Praxis der illégalismes populaires kam jedoch rasch in Widerspruch zum gewaltsam durchgesetzten Eigentumsregime des Bürgertums. Die nun verstärkt Waren produzierende Gesellschaft machte sichtbar, was zuvor dem Pöbel entgangen war: die überaus ungleiche und ungerechte Verteilung von Gütern. Wenn sich also in Warenhäusern, auf Hafenmolen und allgemein an der Öffentlichkeit einsichtigen Orten die Güter stapelten, ohne dass sie einen erkennbaren Nutzen hatten, und andererseits eine wachsende Zahl an TagelöhnerInnen und Habenichtsen nur ihre Arbeitskraft zum Verkauf anzubieten hatten, musste den illégalismes populaires, die nun zusehends das bürgerliche Regime selbst bedrohten, dringend Einhalt geboten werden. Hatte das Bürgertum noch selber gestohlen, um sein Regime des Privateigentums durchzusetzen – ein bekanntes Beispiel ist die Vernichtung der Commons durch Privatisierung oder der Diebstahl von Menschen in der Sklaverei – galt es nun zu verhindern, dass andere dasselbe taten. Diebstahl, und allgemeiner Vergehen an Eigentum, wurde nun ins Zentrum neuer Gesetze gestellt und eine moralische Modulation des Gesetzes etabliert, die den bürgerlichen Betrug positiv differenzierte, während sie den Diebstahl des Habenichts negativ differenzierte. Erst durch diese Operation, die heute merkwürdig schwer nachvollziehbar ist, da in heutigen Verhältnissen Eigentum quasi natürlich zu sein scheint, konnten das bürgerliche Betriebssystem juristisch etabliert und in der Folge die Besitzlosen als Arbeitskräfte ausgebeutet werden, da ihnen eine Teilhabe weder an den Produktionsmitteln noch an den produzierten Waren gegeben war. Foucault historisiert die gesellschaftlichen Relationen von Eigentum, Betrug und Diebstahl in seiner kurzen Ausführung elegant als die Achsen, die die Verteilung des Besitzes und somit des Reichtums regulieren.
Heute hat sich mit dem Plattformkapitalismus von Google, Apple, Facebook und Amazon diese Axiomatik erneut und weiter in Richtung Betrug am Diebstahl verschoben. Die Ausbeutung von Affekten und deren Umwandlung in Klicks und Käufe durch bunte Interfaces, die Integration privater sozialer Netzwerke in kommerzielle Datensilos und die verpflichtende Bindung an bestimmte Inhalte, inklusive der unzähligen Terms of Services und Lizenzen, die die ausgebeuteten BenutzerInnen wegklicken müssen, bevor sie ihren stark reglementierten Zugang zu den Datenimperien bekommen oder ihr MacBook benutzen dürfen, hat die Front der Monetarisierung weit ins Private und Psychische-Kollektive hinein verschoben. Mit der Zurichtung der KundInnen geht auch ein weitgehendes Absprechen einer unbedingten Verfügung über die gelieferten digitalen und physischen Waren einher. Mit der Klarnamenspflicht, mit der technischen Verhinderung, nicht-lizensierte Software aufspielen zu können oder mit auf das Kaufverhalten abgestimmten Preisvorschlägen ist bereits ein neues Verhältnis von Eigentum, Betrug und Diebstahl etabliert.
Blockchains scheinen nun den Betrug am Diebstahl, wie Foucault ihn analysierte, eine Runde weiter zu treiben. Denn wie im Fall der Porsche-Forschung geht es nun vermehrt um die Kontrolle während der Warennutzung. Die Betriebsbedingungen der gekauften Produkte werden in die Ware selbst eingeschrieben, sozusagen objektiviert, und auch nach Abschluss des Kaufvertrages ist im Extremfall jederzeit eine Stilllegung der Ware möglich. Je nach Produkt kann also der Gebrauch der Ware moduliert werden. Dass nicht jede Büroklammer in dieses System eingebunden werden kann, ist offensichtlich. Interessant ist aber die Verbindung netzwerkfähiger Objekte mit diesem Kontrollsystem. Mit dem sogenannten »Internet der Dinge« wird mit großem Druck die Steuerbarkeit einer Vielzahl von Alltagsgegenständen durch das Netz angestrebt. Gleichzeitig wird der Urban Class eine sogenannte Sharing Economy angedient, die den Gebrauchswert der Dinge monetarisieren möchte. Zumindest konzeptuell bietet sich für viele der angestrebten Profitfelder eine durch Rechner automatisiert verifizierende Technologie an, wie sie Blockchains bieten können. Denn durch die Kontrolle einer Logdatei, die unabhängig von den Widrigkeiten des Alltags Zugriff und Gebrauch regelt, verschiebt sich die Verantwortung des vertraglich geregelten Gebrauchs zum Konsumenten. Schließlich irrt die Blockchain nicht. Die Marge verhandelbarer Devianz, die zwischen (Überwachungs-)Wissen der HerstellerInnen und Gebrauch der BenutzerInnen bestand, schrumpft durch das Kontrollinstrument Blockchain ohne nennenswerte Personalkosten gegen null. Gleichzeitig ist der Zugriff auf die darin niedergelegte Gebrauchsgeschichte der Gegenstände für die HerstellerInnen oder Anbieter-
Innen lukrativ. Blockchains sind somit auch ein Managementtool, das fein granulierte Anwendungen ermöglicht und im Zweifel forensische Klarheit bietet.
Im beschriebenen Szenario greift die Ware über auf den Gebrauch. Während Alfred Sohn-Rethel noch davon schreiben konnte, dass die Waren in ihrer Warenform merkwürdig still stehen, sozusagen abstraktes Beharrungsvermögen gegenüber ihrem physischen Verfall aufweisen, gilt dies zunehmend andersherum: Auch nach dem Kauf sind sie noch Waren und warenförmig und können bei Bedarf der KäuferIn wieder entzogen, in den Auslieferungszustand zurückgesetzt oder neu moduliert werden, sollte z.?B. die Kreditfähigkeit gesunken sein. Der Betrug am Diebstahl schreibt sich somit fort, ebenso wie der Verdacht, dass das Gegenüber nur auf seinen eigenen Vorteil aus ist und die BetrügerInnen betrügen will. Mit der Auslagerung des Problems des gegenseitigen Vertrauens, das die bürgerliche Gesellschaft kennzeichnet, in die symbolverarbeitenden Maschinen objektiviert sich operational deren Menschenbild in die Objekte hinein. Darüber hinaus erscheinen überhaupt neue Möglichkeiten der Modulation von Gebrauch und Besitz, sowohl in räumlicher, zeitlicher, als auch personeller Hinsicht. Wenn in einer Blockchain ein Hash zu einem Objekt und dessen Nutzungsregime niedergelegt ist, ist nun auch dessen Gebrauch telematisch kontrollierbar. Die berühmten Sollbruchstellen, die die maßlose Produktion weiterer Güter erst ermöglichen, und den Weiterbetrieb weiter Teile der Warenwirtschaft garantieren, oder auch die Probleme unverhältnismäßig teurer Reparaturen, gerade bei netzwerkfähigen Objekten wie denen von Apple, bekommen mit der Blockchain ein nun rein digitales Mittel an die Seite gestellt, das den Neukauf erzwingen kann, sobald der in der Produktspezifikation festgelegte Gebrauchszeitraum abgelaufen ist.
Dies sind weitreichende Spekulationen, die dystopisch klingen mögen. Aus der Perspektive des zeitgenössischen kapitalistischen Betriebssystems bieten Blockchains jedoch systemimmanente Verlängerungen, auf die zu verzichten zumindest Porsche nicht bereit zu sein scheint.
Technik muss diesen Weg der mikrologischen Kontrolle und Operationalisierung der Waren- und Vertragsverhältnisse nicht zwangsläufig gehen. Als Identifizierungs- und Authentifizierungstechnik sind Blockchains jedoch gesellschaftlich allemal in eine Linie der Kontrolle eingeschrieben.
Was verbindet nun ein Phänomen wie Bitcoin, ein staatenloses Bezahlsystem, mit dem Übergriff der Ware auf die Zeit des Gebrauchs durch Blockchains? Beiden Logiken gemein ist das Ausschalten einer vermittelnden Größe, die die Verhältnisse zwischen AkteurInnen regelt. Diese traditionell vom Staat gespielte Rolle wird im Falle von Bitcoin programmatisch umgangen. Das Ausschalten der Zentralbanken war eines der zentralen Motive der ErfinderInnen von Bitcoins und ist nach wie vor der Grund seiner Beliebtheit in rechtslibertären Kreisen, die eine staatliche Geldpolitik als ungebührliche Einmischung in bürgerliche Rechte ansehen. Blockchains als unmittelbare Modulatoren von Eigentums- und Gebrauchsverhältnissen schalten ebenfalls die Möglichkeit einer Vermittlung durch Dritte, wie VerbraucherschützerInnen oder selbst durchgeführte Reparaturen der Geräte, aus. In letzter Konsequenz dieser Argumentation verhindern Blockchains überhaupt, dass Objekte, digital oder physisch, jemals dem Zugriff derer, die sie in die Welt gesetzt haben, entzogen werden, ohne ihre Funktionalität zu verlieren.
Es scheint widersprüchlich: Was im Falle von Bitcoins deren AnhängerInnen als Freiheit feiern – endlich der Tyrannei des Staates auch monetär entkommen zu sein – erscheint im Falle der nur auf digitalen Widerruf gekauften Waren als Unfreiheit. Denn bisher war doch die Warenwelt durch ihr Ausgestelltsein im Warenhaus erkennbar. Dass das Warenhaus nun auch im Eigenheim und im Falle von Porsche auch in der Garage zu Hause ist, muss irritieren. Dennoch ist dies gerade der Effekt eines Internets der Werte, wie es durch Blockchains in die Welt kommt: Die Basisoperation bürgerlicher Vergesellschaftung, die totale Marktförmigkeit des gesellschaftlichen Verkehrs, steht durch programmatische Affirmation offen und anschaulich vor Augen. Wenn im 18.?Jahrhundert das Problem der Aufteilung der Werte durch moralisierende Gesetze und nachfolgend durch entsprechende Subjektproduktionen naturalisiert wurde, setzt das 21.?Jahrhundert zunehmend auf eine algorithmische Aufteilung der Werte, um den Betrug am Diebstahl nun mittels Technik objektiviert zu naturalisieren. Die stimmige Zurichtung der Subjekte wird durch eine Verschiebung der Machttechniken auf Objekte entlastet. Das heißt, dass in der Environmentalität, wie der zeitgenössische Macht-Wissens-Subjekt-Komplex im Anschluss an Foucault zu nennen wäre, eine Regierung der Subjekte durch eine Regierung der Objekte ergänzt wird. Die Herrschaft wird environmental.
Oliver Leistert
Der Autor arbeitet zu digitalen Kulturen und deren Machtverhältnissen seit er sich in die Wissenschaft verirrt hat.