Mit dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung wurde auch das Ende des sogenannten Kalten Krieges besiegelt. Begonnen hatte er im Nachgang der »großen Katastrophe«, worunter mittlerweile der Zweite Weltkrieg und der Holocaust subsumiert werden. Hinter der »antifaschistischen Fassade« des Kommunismus, so die allgemeine Erzählung weiter, unterwarf die Sowjetherrschaft Osteuropa ihrem Einflussbereich. Das übrige Europa wurde von den westlichen Alliierten und insbesondere den Vereinigten Staaten von Amerika als alternatives Gesellschaftsmodell in Stellung gebracht. Was damals als westliche Propaganda galt, scheint heute bestätigt: Wer gegen Kapitalismus ist, ist für die Barbarei. Die UdSSR hat sich demnach wirtschaftlich und auch ethisch disqualifiziert, während das Modell des Westens sich letztendlich als alleiniger Ort des Wohlstands, der Menschenrechte und der sozialen, kreativen Freiheit und Moral etabliert wissen will. Der Status Quo des westlichen bzw. des europäischen Wertemodells ist Produkt der globalen Neuordnung nach dem Ende der Blockkonfrontation. Eine Analyse der »postkommunistischen Situation« sollte sich nicht nur auf die unmittelbar von der Herrschaft des Sozialismus betroffenen Länder konzentrieren und fragen, welche Spuren der »Kommunismus« hinterlassen hat, sondern sich auch den Folgen für das kapitalistische, westliche Gesellschaftsmodell widmen. Die Utopie des Westens bezieht sich in erster Linie auf die Freiheit des Konsums und auf demokratische Grundwerte, die nach 1989 aus dem Westen in die ehemaligen sozialistischen Länder exportiert werden sollten. Anders als in der frühen Nachkriegsphase in Westeuropa, wo ebenfalls für kapitalistische statt sozialistische Verhältnisse geworben wurde, ist in den neuen EU-Staaten und Anwärterstaaten keine Rede mehr von »sozialer Demokratie« oder »sozialer Marktwirtschaft«, sondern von Nachhol-, Anpassungs- und Rationalisierungsprozessen. Hat sich die These der nachholenden Entwicklung durch eine Kapitalisierung, die vermeintlich Hand in Hand mit der Demokratisierung der Länder geht, innerhalb des aufgestiegenen Machtblocks Europa bestätigt? Oder hat man es heute nicht vielmehr mit, um Uniformität bemühten, verwalteten Demokratien zu tun, die im starken Widerspruch zu jeweiligen kulturellen und politischen Entwicklungen stehen? Shlomo Avineri vergleicht in seinem Beitrag »Nach dem Kommunismus: Mühen der Demokratie« postkommunistische Entwicklungen in den osteuropäischen Ländern. Kapitalisierung und Demokratisierung nehmen vor allem dort einen asynchronen Verlauf, wo die im Kalten Krieg relativierten Nachklänge der Staaten und Imperien des alten Europa in den politischen Eliten wieder deutlich hörbar sind. Das Ende der Blöcke sowie die nachlassende Fähigkeit zur sozio-ökonomischen Steuerung und Integration der Gesellschaften zugunsten kapitalistischer Erfordernisse, die aufrechterhaltenen institutionellen und symbolischen Apparate der Staaten lenken ihre Energien in alte Bahnen, sofern neue nationale Konturierungsmöglichkeiten gefragt sind. Den europäischen Integrationsprozess kennzeichnet vor allem die definitorische Elastizität der Formen (demokratischer) Zivilkultur und nationaler kollektiver Identitäten. Den fundamentalen Wandel nach 1989 kennzeichnet vor allem, dass der Kapitalismus offenbar allen Legitimierungsnöten enthoben ist.
Mit dem Jahr 1989 und dem Ende des Kalten Krieges ist auch das Ende des Systems von Neutralisierungen und Begrenzungen verbunden. Neutralisiert wurden für eine bestimmte Zeit Konflikte entlang ethnischer, kultureller oder sprachlicher Grenzen. Begrenzt wurde, was als politisch durchführbar galt und im politischen Diskurs legitim geäußert werden konnte. Fragen nationaler Identität oder der Ausbildung kollektiver Gedächtnisse waren eingebunden in die Semantik des Wertekonflikts zwischen Freiheit auf der einen und Gleichheit auf der anderen Seite. 20 Jahre nach dem Sieg des Kapitalismus wird behauptet, der historische Kommunismus sei nur eine »Unterbrechung« der eigentlichen, »normalen« Nationalgeschichte der jeweiligen Länder gewesen, die nun wieder belebt werden soll. Die kollektive Identität schwankt zwischen einem durch die Religion getragenen Nationalismus wie beispielsweise in Russland, Bulgarien und Rumänien und einer Mischung aus Regionalismus, Traditionalismus und Ethnizismus, deren Merkmale sich auch im sogenannten Kerneuropa wieder finden lassen. Antimoderne Rückbezüge auf Religion, Ethnie und Tradition, gepaart mit nostalgischen Befindlichkeiten und der geringen Glaubwürdigkeit neuer demokratischer Institutionen kennzeichnen diese Entwicklung. Der Artikel »Die gehaltvollen Heimatkrumen« von Jennifer Stange zeigt, wie sich sowohl der regionale Nationalismus – im verstärkten Rückgriff auf traditionalistische und folkloristische Narrative – als auch die Renaissance der vom Imperialismus und Faschismus geprägten nationalstaatlichen Konstellationen vor der Zeit der Blöcke wunderbar in die Emphase des europäischen Multikulturalismus einpassen. Das allgemeine Interesse an Heterogenität und Differenz wird in erster Linie von moralischen und politischen Erwägungen diktiert, die stark an postmodernen Diskursen orientiert sind. Gegenüber dem homogenen Raum der modernen Staaten und ihrer tendenziell uniformen demokratischen Ordnung verteidigt dieser Diskurs periphere, vor-moderne kulturelle Identitäten und verdeckt dabei Marktpraktiken. Nach 1989 zeigte sich einmal mehr, dass sich die Utopie des Westens in erster Linie auf die Freiheit des Konsums und dann auf bürgerliche demokratische Grundwerte bezieht. Die Verlockungen der Überflussgesellschaft, so die Siegererzählung, haben die Mangelgesellschaften schlicht durch ökonomische Überlegenheit überlebt.
Die NATO als militärisches Instrument des westlichen Blocks wurde gegründet als Sicherheitsgarantie gegen ein Wiedererstarken Deutschlands und somit als Verlängerung der Anti-Hitler-Koalition. Ihre tatsächliche Stoßrichtung hatte sich mit der Einbindung Deutschlands, durch die Frontstellung gegen den ehemaligen Verbündeten Sowjetunion und die Selbstverortung als Verteidiger des Kapitalismus entscheidend geändert. Nach dem Ende der Blockkonfrontation stellte sich die Frage, ob und nach welchen Kriterien die globale Einflussnahme eines westlichen Bündnisses erhalten werden soll. Uli Schuster zeichnet in seinem Beitrag »NATO am Ende oder am Ende die NATO?« die Diskussionen um den Erhalt und potenzielle Neuausrichtung des transatlantischen Militärbündnisses nach. Zwar hatten sich die politischen und ideologischen Rahmenbedingungen entscheidend verändert, doch ihre Rolle als globaler militärischer Ordnungsfaktor konnte die Allianz trotz divergierender nationaler Interessen beibehalten. Uli Schuster zeigt, dass auch nach dem Zerfall der bipolaren Weltordnung das Interesse an einer militärischen Absicherung der globalen Märkte fortbesteht und die Rolle des Antikommunismus heute zum Teil vom Feindbild des internationalen Terrorismus übernommen wird. Auch durch die Osterweiterung konnte die NATO ihren Geltungsanspruch ausbauen und damit die Interessen Russlands in dieser Region schwächen, was die Debatten um die Installation eines US-amerikanischen Raketenabwehrsystems in Polen und Tschechien verdeutlichen. Die gegenwärtige Rolle der osteuropäischen Länder, ihre »Westorientierung« und die Frage nach Mitgliedschaft in westlichen supranationalen Institutionen und Bündnissen erklären sich nicht nur aus wirtschaftlichem Pragmatismus, sondern haben ihre Ursachen auch in der zeitgenössischen Bewertung der sozialistischen Vergangenheit.
Der reale Sozialismus geht als Zeitalter des »sowjetischen Imperialismus« in die Geschichte der neu entstanden Nationalstaaten Osteuropas ein. Unter dem Paradigma des Terrors werden gelegentlich der »sowjetische Imperialismus« und der Nationalsozialismus zu 70 Jahren Besatzung subsumiert. Obligatorisch verfügt zumindest jede Hauptstadt der »Ostblock-Länder« über ein Museum, in dem der sozialistischen Überwachungsstaat als »langer Arm Moskaus«, der aus der Ferne für den »Terror« gegen die Bevölkerung verantwortlich war, zur Schau gestellt wird. Der Realsozialismus tritt in der nationalen Geschichtsschreibung bestenfalls als zerstörerisches Einwirken von Außen, als das Werk des Anderen, des Fremden auf. Die »Vergangenheitsbewältigung« des Realsozialismus, die Heidemarie Uhls Beitrag »Cold War, hot memories« darstellt, scheint beinahe unmöglich. Ein Subjekt, das die Verantwortung für die sozialistische Vergangenheit übernehmen könnte, fehlt; bestenfalls könnte es das Gespenst des utopischen Kommunismus sein. Doch das ist genauso verschwunden, wie die einstige Klasse der sozialistischen Nomenklatura selbst. Als »reale« ProtagonistInnen der Geschichte sind die einst unterdrückten Nationen geblieben.
Auch die Bundesrepublik Deutschland kämpft noch heute mit den Folgen der als Schicksalsschlag empfundenen »schmerzhaften« Teilung und einer nunmehr »doppelten« Vergangenheit: der Vergangenheit eines wirklich besseren Deutschlands und des Unrechtstaates DDR. 70 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, 60 Jahre nach der Gründung der BRD, 20 Jahre nach dem Ende der sogenannten »geteilten deutschen Vergangenheit« sind die derzeitigen Diskussionen in Deutschland vom Jargon der Gleichmacherei geprägt. Die ehemaligen Systemgegensätze werden von den Erfahrungen der Bevölkerung abstrahiert und als »Gleichheit der Erfahrungen der Trennung« in zwei Staaten behauptet. Die Relativierung deutscher Schuld an Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und Holocaust war bis 1989 wichtiger Bestandteil des bundesrepublikanischen Erinnerungskanons und begründete sich in der Auseinandersetzung der Bundesrepublik mit dem erklärtermaßen antifaschistischen Gegenentwurf der DDR. Nach 1989 hatte sich dieses Problem erledigt, ein formales deutsches Schuldeingeständnis besitzt realpolitisch nun kaum noch negative Auswirkungen. Die mit dem Wandel der deutschen Erinnerungskultur eng verbundene rot-grüne Bundesregierung der Jahre 1998 bis 2005 entwickelte ein Politikverständnis und bediente sich einer politischen Semantik, die sich von derjenigen vor 1989 deutlich unterschied. Jenseits politischer oder ökonomischer Kriterien ist die als erfolgreich empfundene Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit von der historischen Altlast zum moralischen Kredit avanciert, der nunmehr Deutschlands herausragende Rolle in der Welt mitbegründet. Eines der postkommunistischen Charakteristika der bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung ist die Verwässerung des Unterschieds zwischen nationalsozialistischer deutscher Vernichtungspolitik und der »zweiten deutschen Diktatur«, der DDR. Angesichts dieses breiten antitotalitärer Konsens’ zwischen Politik und Wissenschaft, scheint die Geschichte 1989 nicht zu Ende gegangen, sondern eher stehen geblieben zu sein. Die Totalitarismustheorie, die durch eine eindeutig antikommunistische Stoßrichtung während der sogenannten heißen Phase des Kalten Krieges ihre erste Blütezeit hatte, erlebte im Rahmen der historischen Aufarbeitung der Regime der Staaten des Warschauer Vertrages eine Renaissance. Das Zerrbild des »roten Holocaust« erfreut sich seither ähnlicher Popularität wie das Schwarzbuch des Kommunismus. Jan Kiepe und Tillmann Siebeneichner zeichnen im Kontext der Debatte um die Wiederaufarbeitung der DDR-Vergangenheit die Probleme der gängigen totalitarismustheoretischen Perspektive nach. Gleichzeitig plädieren sie für einen Paradigmenwechsel. Jenseits der politischen Delegitimation soll die Funktion von Kollektivierungs- und Homogenisierungsmechanismen in der DDR durch eine stärkere Ausrichtung auf den Alltag ausgelotet werden. Eine Untersuchung der politischen Herrschaft in der DDR müsse jedoch auch den eigenen Konformismus hinterfragen und damit weitverbreitete politische Axiome der DDR-Forschung in Frage stellen. Wäre die DDR beispielsweise ohne Mauer und Unterdrückungsapparat tatsächlich nicht lebensfähig gewesen? Jan Kiepe und Tillmann Siebeneichner machen in ihrem Beitrag »›Gespenster am toten Mann‹« nicht zuletzt deutlich, dass die Dämonisierung des Kommunismus Lackmustest deutscher Gesinnung bleibt. Auch Raiko Hannemann fordert in seinem Beitrag »Jenseits von Roter Diktatur und Sonnenallee« ein kritisches Umdenken in der Beurteilung der ehemaligen DDR. Deutlich werden müsse vor allem, dass die Millionen Toten der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie nicht mit den Mauertoten und Opfern der politischen Repression in der DDR vergleichbar sind.
Nicht nur aus einer antikommunistischen Perspektive, sondern auch aus einer linken, pro-kommunistischen Perspektive präsentiert sich der reale Sozialismus als eine Art Verzögerung in der Entwicklung des kommunistischen Ideals. Der Ausdruck postkommunistisch sei deshalb merkwürdig, weil der Kommunismus stets irgendwo in der Zukunft verortet worden, aber nie gegenwärtig gewesen wäre. Selbst die Länder des Realsozialismus hätten sich lediglich als Übergangsformen auf dem Weg zum Kommunismus begriffen, der selbst nie das Feld der realen Politik bestimmt hätte. In seinen »Dreißig Thesen zum Kommunismus« weist Roger Behrens darauf hin, dass der Realsozialismus genau im selben Modus operiert hätte wie die bürgerliche Gesellschaft selbst. Staat und Partei, Arbeit und Privateigentum, Volk und Nation bilden folglich die fundamentale Struktur der Geschichte der Gesellschaften des Zwanzigsten Jahrhunderts. Er macht noch einmal deutlich, dass das Ereignis des Kommunismus kein System, keine Formation oder Institution sein kann. Allerdings verweisen die Diskussionen über den Kommunismus, die sich mehr denn je auf das theoretische Gebiet verlagert haben, auf die Erfahrung vom Verlust oder einer besonderen Ausprägung des Gemeinschaftsgefühls – einer Einheit einer Kollektivität –, die der frühen kommunistischen Utopie zugeschrieben wurde. Wenn der Kommunismus während der Zeit des »real existierenden Sozialismus« versprochen wurde, aber nie Gegenwart war, dann bleibt die Herausforderung die Vergangenheit dieser Zukunft darzustellen. Nicht nur um das »wahre« Bild der Vergangenheit festzuhalten, sondern auch um fähig zu sein, es projektiv für die Zukunft zu skizzieren.
~ Von Phase 2 Leipzig.