Erster Oktober 2008: Auf dem Deutschen Historikertag in Dresden präsentiert eine von der Stadt eingesetzte Historikerkommission die Resultate ihrer vierjährigen Arbeit. Ihre Aufgabe bestand in der Überprüfung und genaueren Ermittlung der Opferzahlen der Bombardierung der Stadt am 13. und 14. Februar 1945. Die Kommissionsmitglieder kommen zu dem Ergebnis, dass die Zahl der Toten zwischen mindestens 18.000 und maximal 25.000 Menschen liegt. Die Veröffentlichung dieser Zahlen erzeugt internationale Medienresonanz; im Mittelpunkt des Interesses steht dabei vor allem die Höhe der Opferzahlen, denn bisherige Angaben schwankten zwischen ca. 25.000 und mehreren Hunderttausend.
Die kritische Betrachterin der Dresdner Erinnerungskultur und Gedenktradition fragt sich jetzt, was mit einem derartigen Beitrag nun anzufangen ist. Warum wurde überhaupt eine solche Kommission eingesetzt? Was war ihre Aufgabe und wie sind die Ergebnisse nun zu bewerten? Handelt es sich um mehr als nur eine Überprüfung historischer Tatbestände? Und welche Bedeutung haben die Opferzahlen eigentlich im breiten Spektrum des Erinnerns und Gedenkens in Dresden? Findet hier möglicherweise eine kritische Auseinandersetzung mit all den Mythen und Legenden statt? Mit welchen möglichen Auswirkungen kann man also letztlich nun rechnen?
Die Zahl der Opfer der Bombardierung Dresdens gab schon immer Anlass zu Diskussionen. Ermöglicht wurde dieser ewige Streit durch eine scheinbar schwammige Faktenlage, die zu verstehen einen Rückblick zum Zeitpunkt des Geschehens erfordert. Bereits in direkter Folge auf die Bombardierung kam es zu extrem widersprüchlichen Aussagen und Gerüchten zur Zahl der Toten. So gibt es die Resultate der Bergungsarbeiten aus Dresden selbst: hier wurden 20.204 Tote gezählt und Schätzungen von maximal 25.000 angegeben.Tagesbefehl 47 vom Höheren SS- und Polizeiführer Elbe/Dresden vom 22. März 1945 Dass trotzdem noch vor Kriegsende im Deutschen Reich, aber auch von alliierten Medien und internationalen Organisationen, von hunderttausenden Opfern gesprochen wurde, liegt an der simplen Manipulation der Dresdner Zahlen durch das Propagandaministerium mittels Anhängen einer Null. Bereits hier etablierte sich die Sonderstellung Dresdens in der großen Erzählung des Krieges.
Fast zwei Jahrzehnte später versuchte der Engländer David Irving diese gefälschten Dokumente als Beweise für das in seinen Augen Rahmen sprengende Ausmaß des »Untergangs Dresdens«David Irving, Der Untergang Dresdens, Gütersloh 1964 (orig. The Destruction of Dresden, London 1963). anzubringen. Die fehlende Echtheit seiner Quellen wurde erst im Streit um seine Veröffentlichung aufgedeckt. Nichtsdestotrotz behielt Irving das Beharren auf Opferzahlen von über 100.000 bei. Irvings Versuche der wissenschaftlichen Begründung dieser Zahlen dienten nicht nur der Unterstreichung der Beispiellosigkeit der Dresdner Bombardierung inmitten des Luftkriegs. Irving klassifizierte, ebenso wie nach ihm viele andere, die Bombardierung als alliiertes Kriegsverbrechen und im Besonderen als Versuch der gezielten Vernichtung deutscher Zivilbevölkerung. Für seine AnhängerInnen schuf er so auch eine Grundlage für die Vergleichbarkeit mit den diversen Verbrechen der Deutschen, nicht zuletzt der Vernichtung der Juden.
Der Geschichtsrevisionismus eines Irving wurde seither vielfältig aufgedeckt und angeprangert. Im Falle Dresdens wird sein Bemühen um die Stadt und die Aufdeckung ihrer Geschichte aber bis heute noch von vielen Seiten gewürdigt und auch die von ihm propagierten Opferzahlen immer wieder aufgegriffen.Franz Kurowski, Das Massaker von Dresden, 1995. Wolfgang Schaarschmidt, Dresden 1945. Daten – Fakten – Opfer, München 2005. Franz Kurowski, Bomben über Dresden, Wien 2001. Hubertus von Tobien, Feuersturm über Dresden. Die Frage nach der Verantwortung für das sinnlose Morden im Krieg, Berlin 2001. Dabei werden vor allem zwei Argumente reproduziert: Zum einen soll die ungezählte und unmöglich dokumentierte aber dennoch gerne bei 500.000 bis 1.000.000 angesiedelte Menge von Flüchtlingen aus dem Osten es unmöglich machen, überhaupt zu wissen, wie viele Menschen sich zum Zeitpunkt der Bombardierung in der Stadt aufhielten. Zum anderen wird immer wieder spekuliert, dass viele Menschen schlichtweg so restlos verbrannt sind, dass sie selbst bei der präzise erfassten Aufräumarbeit nicht mehr gezählt werden konnten.
Gegenpole zu dieser Aufrechnung bilden die Versuche der Dokumentation der Bombardierung und ihrer Rezeptionsgeschichte durch Götz Bergander oder Friedrich Reichert, dem Stadtarchiv und dem Stadtmuseum.Beide Historiker sind auch Mitglieder der Historikerkommission. Von Seiten der Dresdner Institutionen wurde die Opferzahl vorwiegend zwischen 25.000 und 35.000 angesiedelt. Als Grundlage hierfür dienten verschiedene Zählungen, Überprüfungen und Auswertungen, wie die Untersuchungen von Massengräbern und Friedhöfen. Weder die ursprünglichen offiziellen Angaben aus dem Jahr 1945, noch die diversen Untersuchungen in SBZ und DDR widersprachen einander in den Ergebnissen. Und es existierten offenbar keine glaubwürdigen Quellen, die begründeten Anlass gaben, an all diesen unterschiedlich ermittelten Zahlen zu zweifeln.
Sieht man von diesen beiden gegensätzlichen Positionen ab, fällt beim Umgang mit den Dresdner Opferzahlen in der Literatur auf, dass sie meist völlig unkommentiert proklamiert werden, ohne dass sich die AutorInnen, HistorikerInnen oder selbst ernannten DresdenexpertenInnen auf Quellen berufen, geschweige denn auf Unklarheiten oder Dokumentationslücken verweisen. Da starben hier 135.000, dort »über hunderttausend«. Zieht man Lexika oder Schulbücher zu Rate, wird man nicht schlauer: laut dem Schulbuch Geschichtliche Weltkunde aus dem Jahr 1985 starben »mindestens 40.000, wahrscheinlich 90.000«. Belege für diese, wissenschaftlich betrachtet vollkommen haltlose, Schätzung werden nicht genannt.
Trotz einer existierenden, mehrfach überprüften und seit langem immer wieder bestätigten Faktenlage gibt es im Falle Dresden ganz offensichtlich ein weit über die revisionistische Motivation hinausreichendes Bedürfnis nach Aufrechnung. Eine Überhöhung der Opferzahlen wird nicht nur in Dresden selbst betrieben. Es steht daher zu vermuten, dass weniger die Verteidigung des identitätsstiftenden Mythos oder die Selbststilisierung zum Opfer eine Rolle spielt, als der schlichte Wille zur Übertreibung, um in der großen und schrecklichen Geschichte des Krieges etwas Einzigartiges und Beispielloses illustrieren zu können. Wie auch immer aber die Motive sein mögen, der öffentliche Umgang mit den Opferzahlen bis dato erklärt die anhaltende vorherrschende Unklarheit.
Diese Ungewissheit war gewiss auch einer der Gründe für die Einsetzung einer HistorikerInnenkommission im Jahr 2004, die mit der Aufgabe betraut wurde, diese eigentlich ja bereits ermittelte Quellenlage erneut zu überprüfen und weitere Beweise zur Untermauerung der wohl gültigen, aber im kollektiven Gedächtnis nicht anerkannten Zahlen zu finden. Betrachtet man die Vorgeschichte, ist dieser Schritt ein deutliches Eingeständnis der fehlenden Durchsetzungsfähigkeit von städtischer Seite beim Umgang mit der eigenen Lokalgeschichte. Gegen das hartnäckige Festhalten an all den widersprüchlichen bis hanebüchenen Facetten der großen Erzählung war bis dahin alles machtlos gewesen. Dennoch wäre es wiederum falsch anzunehmen, diese Kommission sei mit dem Ziel eingesetzt worden, dem gesamten Mythos den Kampf zu erklären. Das zeigt deutlich die Erklärung des damaligen Oberbürgermeisters Ingolf Roßberg. Folgt man seinen Worten, so ging es darum, einer »Instrumentalisierung der Opferzahlen entgegenzuwirken«.Pressemitteilung der Stadt Dresden. Diese Zielsetzung verweist auf die Einsicht in die Notwendigkeit, sich vom Mitmischen de PD, Landsmannschaften, Alt- und Jungnazis am Gedenken zu distanzieren. Im Hinblick auf die Vorbereitung des 60. Jahrestages und damit eines öffentlichkeitswirksamen Großereignisses überrascht diese Haltung kaum. Die wachsende Kritik an der Anschlussfähigkeit des Dresdner Gedenkens für revisionistische und neonazistische Interessengruppen, die vor allem von außen kam, sprich von überregionalen oder internationalen Medien transportiert wurde, zwang die Stadt zu neuen Maßnahmen. Neben der Einberufung der Historikerkommission zeugt hiervon vor allem das von städtischen Gruppen entwickelte Gedenkkonzept. Hiermit wollte ein Zusammenschluss städtischer Gruppen Dresdens Bereitschaft zur Reflexion und zum aufgeklärten Umgang mit der Geschichte artikulieren und so auch den in der Öffentlichkeit, in Leserbriefen und Interviews in penetranter Manier hervorgezerrten Streitpunkten – Opferzahlen, Tieflfliegerangriffe, Phosphorbomben – etwas entgegensetzen. Dass es diesem Bündnis weniger um eine Kritik am Gedenken selbst ging, als um eine Rettung dieses elementaren Bestandteils des Dresdner Selbstverständnisses vor Fremdvereinnahmung, wurde mehrfach deutlich gemacht.
Die Einsetzung der Historikerkommission lässt sich also leicht mit dem Verweis auf diese am Jahrestag orientierte gedenkpolitische Trendwende erklären. Der Wille, »der Instrumentalisierung entgegenzuwirken«, bezog sich aber auf die Kommission an sich, nicht auf deren letztendliche und auch viel später zu erwartenden Arbeitsergebnisse. Ein Blick auf die Vorgeschichte zeigt auch, dass von den Verantwortlichen wohl kaum mit Resultaten jenseits von 35.000 Opfern gerechnet werden konnte. Die eigentliche Arbeit der Kommission war also eigentlich für die ganze Sache von völlig untergeordneter Bedeutung. Verfolgt man den Umgang mit der Kommission in den folgenden Jahren, wird diese Einschätzung bestätigt. Zuerst verschwand die Kommission fast vollständig aus dem Visier der Öffentlichkeit. Dann war, in Folge der kommunalpolitischen Querelen und des Rücktritts von Oberbürgermeister Roßberg, ihre Zukunft, wie die diverser anderer Projekte, ungewiss. Im Jahr 2006 kam es dennoch zu einer Präsentation von Zwischenergebnissen im Rahmen eines Workshops. Hier wurde bereits bekannt gegeben, dass die Zahl der Opfer nicht über 25.000 liegen würde. Ein Aufschrei der Empörung oder Überraschung in der Öffentlichkeit blieb aus; eine breite Berichterstattung fand nicht statt. In Folge verhielt es sich dann wieder sehr ruhig um die Forschung zu den Opferzahlen, obwohl auch zum 62. Jahrestag im Rathaus die Zwischenergebnisse ausgestellt waren. Erst mit der im Oktober erfolgten Präsentation auf dem Deutschen Historikertag gewann sowohl die bloße Existenz einer solchen Kommission, als auch die eigentliche Tätigkeit der HistorikerInnen und WissenschaftlerInnen überhaupt öffentliche Anerkennung und wurde erstmals Gegenstand kritischer Medienberichterstattung.Dies ist keine Medienanalyse, daher finden sich hier keine weiterführenden Quellenangaben. Gestützt auf die Mitteilung deutscher und internationaler Presseagenturen griffen unzählige Zeitungen das Thema mit durchaus unterschiedlicher Fokussierung auf.
Die Arbeit der Kommission war in mehrere Bereiche untergliedert. Diese widmeten sich ganz unterschiedlichen Fragen. Im Vordergrund stand neben der detaillierten Prüfung und Listung aller historischen Erhebungen und Schätzungen vor allem die Auseinandersetzung mit verschiedenen weit verbreiteten Legenden, die in eine Verbindung zu den Opferzahlen gebracht werden können. Dazu gehörten für die Kommission neben den bereits genannten Flüchtlingsargumenten und den Verweisen auf die rückstandslose Verbrennung auch die Geschichten vom Bordwaffenbeschuss, die sogenannten Tieffliegerangriffe und Spekulationen über bislang unbeachtete Massengräber. Außerdem wurden bei den Überprüfungen der Totenkarteien weitere Behauptungen ins Reich der Legende verwiesen: dass es sich bei den Opfern vor allem um Frauen und Kinder gehandelt haben soll, entspricht zum Beispiel nicht den historischen Fakten. Jenseits der Quellenanalyse flossen auch andere Erhebungen in die Ergebnisse ein. Der Militärhistoriker Helmut Schnatz, bereits bekannt durch seine Auseinandersetzung mit Dresdner Luftkriegslegenden, leistete einen Beitrag mit Berechnungen von durchschnittlichen Opferzahlen pro Bombe im gesamten Luftkrieg. Eine andere Arbeitsgruppe beschäftigte sich mit der eher psychologisch orientierten kritischen Analyse und Widerlegung von Zeitzeugenaussagen.
Wissenschaftliche Bemühungen um Aufklärung und Richtigstellung, wie sie hier unternommen wurden, verdienen Anerkennung. Allerdings muss dann aber auch festgestellt werden, dass viele der Legenden, mit denen sich die Kommission auseinandersetzte, längst widerlegt waren – nicht zuletzt durch die früheren Arbeiten ihrer Mitglieder Schnatz, Bergander, Reichert oder auch Matthias Neutzner, dem Mitbegründer der Interessengemeinschaft 13. Februar, der mittlerweile diverse kritische Betrachtungen der einzelnen Komponenten des »Mythos Dresden« veröffentlicht hat. Es lässt sich also festhalten: Die Ergebnisse der Kommission sollten niemanden allzu sehr überraschen. Dass dies trotzdem der Fall ist, scheint zum besonderen Umgang der Dresdner mit ihrer Stadtgeschichte zu gehören. Trotz aller Untersuchungen werden die Legenden und Lügen weiterverbreitet und der Mythos des »alten Dresdens« gepflegt. Einen Höhepunkt fand diese Haltung im Umgang mit dem englischen Historiker Frederick Taylor. Als dieser zu einer Präsentation seines Buches »Dresden, Dienstag, 13. Februar 1945«Frederick Taylor, Dresden. Dienstag, 13. Februar 1945, München 2004 (orig. Dresden. Tuesday, 13 February 1945, London 2004). im Februar 2005 nach Dresden eingeladen war, kam es zu Beleidigungen und Misstrauensäußerungen gegenüber historischer Forschung durch »Fremde, Ausländer und vor allem Engländer«. Dass Taylor während der mehrtägigen Gedenkfeierlichkeiten einen Vortrag halten durfte, wurde als Affront und Pietätsverstoß empfunden. Was in dessen Buch tatsächlich geschrieben steht, spielte hierbei keine Rolle.
Es bleibt die Frage nach der Bedeutung der Kommissionsergebnisse und vor allem der niedrigen Opferzahlen für das Gedenken am 13. Februar selbst. »Wie viele starben? Wer kennt die Zahl? An Deinen Wunden sieht man die Qual der Namenlosen die hier verbrannt im Höllenfeuer aus Menschenhand.«Unterschrift: »Dem Gedenken der Opfer des Luftangriffs auf Dresden am 13.-14. Februar 1945«, Text von Max Zimmering. So steht es auf dem Dresdner Heidefriedhof, wo alljährlich mit der Kranzniederlegung, an der PolitikerInnen wie BürgerInnen gleichermaßen teilnehmen, eine ritualisierte Gedenkinszenierung ihren Lauf nimmt. Verliert das nun nicht an Gültigkeit und hat diese neue Faktenlage nicht zumindest hier eine Auswirkung? Die knappe Antwort lautet: Wohl kaum. Die herausragende Bedeutung des Jahrestages der Bombardierung im Eventkalender der Stadt ist und bleibt mit allergrößter Wahrscheinlichkeit unangefochten. Unabhängig von einer wachsenden kritischen Auseinandersetzung mit Mythen und Legenden hat in den vergangenen Jahren nämlich eine Veränderung in der öffentlichen Darstellung des Gedenkens stattgefunden. Im Mittelpunkt steht weiterhin das Trauerereignis. Dieser, als natürliches Recht der Angehörigen und Nachfahren verstandene Anspruch auf das persönlich begriffene Trauern des Dresdner Gedenkens wird aber mittlerweile erweitert um das Trauern um alle Opfer des Krieges, des Nationalsozialismus und auch aller anderen Kriege und sonstigen Gewaltherrschaften. Dresden tritt also nicht mehr nur als Stellvertreter für alle deutschen Opfer des Luftkrieges auf, sondern für weit mehr. Es lässt sich nun am 13. Februar entspannt um die Großeltern trauern, da diese Toten ja eingebettet sind in die unzählbare Masse all jener, die den Atombomben oder sogar den Konzentrationslagern zum Opfer gefallen sind. Es spielt daher keine Rolle, wie viele nun ausgerechnet in Dresden gestorben sind – ein solcher Zahlenpragmatismus widerspräche auch dieser neuen, als aufgeklärt hervorgekehrten Besinnlichkeit.
Hier schließt sich auch die Erklärung der Oberbürgermeisterin Helma Orosz zur Veröffentlichung der Opferzahlen als Antwort an. Auch für sie scheint die Anzahl der Toten eine untergeordnete Rolle zu spielen. »Durch die Arbeit der Kommission bekommen die Opfer ein Gesicht und einen Namen. Hinter jedem einzelnen Opfer steht ein Schicksal und unendliches Leid und diesen gilt es zu gedenken.«Pressemitteilung der Stadt Dresden. In dieser fortschreitenden Personalisierung des Gedenkens im Sinne des Trauerns will Dresden also offenbar keinen Unterschied mehr machen: jedes einzelne Opfer bedeutet unendliches Leid – und da ist es egal, ob es sich nun um einen SS-Offizier, einen Waffenfabrikanten, einen Soldaten oder eines der wenigen noch in Dresden lebenden halbjüdischen Kinder handelt. Als Opfer sind alle gleich, davon ist man beim Dresdner Gedenken tatsächlich bis heute überzeugt.
Die Veröffentlichung der Opferzahlen hat also offenbar keine bremsende oder hemmende Auswirkung auf die Gedenktradition. Eher das Gegenteil dürfte der Fall sein: die positive Resonanz auf die Richtigstellung der Zahlen und die Schaffung einer den Tatsachen angepassten Faktenlage verschafft den Gedenk- und Trauerwilligen ein gestärktes Selbstbewusstsein. Also auch hier: kein Ende in Sicht. Dresden wird weiterhin das Vorzeigeopfer deutscher Kriegsgeschichte bleiben. Es konkurriert maximal mit Flucht, Vertreibung und der Gustloff. Dass nun die Opfer doch ein wenig geringer sind als in den letzten Jahrzehnten angenommen, macht keinen Unterschied. Es unterstreicht vielleicht sogar nur noch deutlicher das symbolhafte dieser ganz besonderen Erinnerung an ein Deutschland, das mal war und unwiederbringlich zerstört ist. Unwahrscheinlich, dass nun Hamburg mit seinen ca. 35.000 Toten in Folge der Bombardierung 1943 das Ruder übernimmt. Im Falle Hamburgs fehlt ebenso wie bei Pforzheim oder Kassel, allesamt Rekordhalter in Aspekten des Luftkriegs, der Mythos.
Mit der Arbeit der Historikerkommission hat Dresden nun letztlich auch einen Beitrag zur neuen deutschen Erinnerungskultur geleistet. Die Botschaft an alle KritikerInnen lautet: »Schaut her, in Dresden hat man mit viel Mühe die Opferzahlen erforscht und das Ergebnis im würdigen Rahmen präsentiert. Das ist doch ein weiterer Beweis für aufgeklärten und modernen Umgang mit der Vergangenheit.« Die Anfügung, dass auch 18.000 Tote noch ziemlich viel sind und die Zerstörung schon einen bitteren Verlust an Kunstschätzen und Weltkulturerbe darstellt, trägt dann nur den Charakter einer neutralen und nüchternen Ergänzung. Und es darf weiter getrauert werden.
SYLVIA EHL
Die Autorin ist Geschichtswissenschaftlerin in Leipzig und publiziert u.a. zu Erinnerungskultur, zeitgeschichtlichen Themen und Fußball-Fankultur.