Vom 20. bis 22. April fand in Göttingen der »Antifakongreß 2001« statt. Er sollte eine Bestandsaufnahme der radikalen Linken sowie eine Neuorientierung der eigenen Politik sein.
Die Abschlussveranstaltung am Sonntag, den 22. April `01, im Vorlesungssaal der Göttinger Universität bot einmal mehr all jenes, welches Standardrepertoire eines jeden guten Kongresses der radikalen Linken sein sollte. Die Cola-Preise wurden verflucht, genauso wie der Müll. Das Leben in der Kommune wurde gehypet, genauso wie die Zukunft der elektronischen Weltrevolution. Ansonsten gab es ein paar Statements ohne großen Bezug und die Kritik, dass die vorbereitenden Gruppen alles durchgestylt hatten und keine Möglichkeit bestand, sich am Ablauf des Kongresses zu beteiligen. Vorgetragen wurde diese Kritik von einem Mitglied der vorbereitenden Gruppe AAB.
Wer diesen Albernheiten des Abschlussplenums zu viel Bedeutung beimaß , könnte leicht der Ansicht erliegen, es hätte auf dem Kongress nichts Wesentliches gegeben. Ohne in Apologie zu verfallen, muss dieses eventuell notwendig falsche Bewusstsein von hier aus zurückgewiesen werden.
Sicherlich hat der Kongress keine wirklich neuen Erkenntnisse über den Zustand der linksradikalen Bewegung gebracht. Genauer gesagt, hat er im Prinzip genau das bestätigt, was auch schon vorher klar war: Die Antifabewegung der 90er Jahre befindet sich in einer inhaltlichen wie strukturellen Krise und ist in der jetzigen Form an ihren Endpunkt geraten. Dennoch war der Kongress kein kläglicher Abgesang auf die Politik der letzten Jahrzehnte, sondern wie vorgesehen eine Bestandsaufnahme der linksradikalen Antifabewegung und der Auftakt zu überfälligen Diskussionen.
Dass es grundsätzlich ein Interesse an solcher Art Diskussionen gibt, zeigt bereits die Zahl von 600 KongressteilnehmerInnen. Das Antifa-Spektrum war dabei am stärksten vertreten. Es gab eine Menge BO-Gruppen, aber auch viele BAT- bzw. bundesweit nicht organisierte Gruppen. Auffällig hierbei waren besonders die NRW-Gruppen. Nicht nur wegen ihrer großen Anzahl, sondern auch, weil diese den genau entgegengesetzten Trend einer bundesweiten Entwicklung beschreiben. Während im bundesweiten Maßstab die linksradikalen Gruppen weniger werden, bzw. sich mehr und mehr zurückziehen, ist in NRW die Gründung neuer Gruppen sowie eine generell optimistische Stimmung zu verzeichnen.
Neben diesen angesprochenen waren ebenfalls viele Gruppen anwesend, welche nicht dem Antifa-Spektrum zuzurechnen sind Dies zeigt, dass über die Antifabewegung hinaus ein Interesse an dieser Bewegung bzw. den aufgeworfenen Fragen besteht. Bezeichnend war, dass die im Vorfeld geäußerten Befürchtungen, feministische bzw. AAB-feindliche Gruppen könnten versuchen, den Kongress zu stören bzw. zu verhindern, sich nicht annähernd erfüllt haben. Dies zeigt, dass es grundsätzlich möglich ist, über die entscheidenden Fragen zu diskutieren, ohne dass Gruppen versuchen, Diskussionen grundsätzlicher Art zu unterbinden. Die in dieser Richtung zu beobachtende Paranoia ist also weitestgehend unberechtigt.
Ein entscheidendes Manko der derzeitigen Gruppenlandschaft offenbarte sich jedoch mit aller Deutlichkeit auf dem Kongress: Viele Gruppen sind nicht in der Lage, eigene Standpunkte zu formulieren und zur Diskussion zu stellen. Die Diskussionen verliefen insgesamt eher schleppend und Beiträge waren häufig als persönliche Anmerkungen zu verstehen und nicht als Gruppenpositionen. Auch wenn nicht davon ausgegangen werden kann, dass eine ernsthafte Diskussion verschiedener Positionen im Rahmen eines solchen Kongresses überhaupt möglich ist, hätte zumindest die Möglichkeit, ja sogar die dringende Notwendigkeit bestanden, existierende Gruppenpositionen erst einmal darzustellen.
Gezeigt hat sich dieses Manko besonders in der Akzeptanz der Veranstaltungen. Als besonders gelungen galten jene, auf denen klare Positionen vorgetragen wurden, an denen man sich abarbeiten konnte. Dies waren die Veranstaltung zu Globalisierung (Michael Heinrich) sowie die zur Frage nach der Entwicklung des Kapitalismus (Thomas Ebermann). Veranstaltungen, bei denen größerer Wert auf Diskussionen gelegt wurde, liefen eher schlecht, und diese Diskussionen wurden als wenig produktiv bezeichnet.
Dieses auf dem Kongress beobachtbare Defizit inhaltlicher Diskussion verweist auf selbiges Defizit im bundesweiten Maßstab. Dabei ist es durchaus nicht so, dass inhaltliche Diskussionen absichtlich abgeblockt werden oder es keinerlei Interesse an einer Auseinandersetzung mit der derzeitigen Lage der linksradikalen Bewegung gibt. Die antifaschistische Offensive der Bundesregierung und deren Folgen für die eigene Politik sorgt in den Gruppen und einzelnen Regionen durchaus für eine Debatte darum, wie in Zukunft eine linksradikale Perspektive aussehen kann. Zu einer umfassenderen, heißt bundesweiten, Verständigung hierüber kommt es jedoch nicht.
Dieses Defizit zeigte sich auf dem Kongress relativ deutlich an den Diskussionen um die Zukunft von Antifaschismus als Politikfeld für die radikale Linke. Eine gemeinsame Strategie, wie weiter mit diesem Thema umgegangen werden kann, existiert nicht. Hierüber bestehen ganz verschiedene Ansichten, die sich in den Diskussionsbeiträgen offenbarten. Auf der einen Seite gibt es diejenigen Gruppen, welche an den Formen klassischer Antifapolitik, das heißt an konkreten Aktionen gegen Nazis und deren Aufmärsche, weiterhin festhalten wollen. Demgegenüber stand die Position derer, welche Antifaschismus als weiteres Politikfeld der radikalen Linken ablehnen. Dazwischen schließlich die, für die Antifaschismus schon immer mehr als nur Antinazipolitik war und die deshalb weiterhin Antifaschismus als gesellschaftlich relevantes Politikfeld bearbeiten und lediglich die Antinazipolitik zurückfahren wollen. Diese Unterschiedlichkeit der Positionen gerade auf dem Gebiet, welches das Verbindende linksradikaler Politik der letzten zehn Jahre war, zeigt, wie wichtig eine grundsätzliche Diskussion über Strategien ist, welche den jeweils regionalen Rahmen verlässt.
Grundsätzliche Einigkeit hingegen bestand in der Tatsache, Kapitalismus abschaffen zu wollen. Dies stellt zwar keine Selbstverständlichkeit im gesamtgesellschaftlichen Rahmen dar, gehört aber zu einem gut behüteten Gemeinplatz der radikalen Linken. In dieser scheinbaren Einigkeit offenbarte sich jedoch Uneinigkeit darüber, was der Begriff Kapitalismus konkret verkörpert und wie dessen Abschaffung, die als dringende Notwendigkeit konstatiert wird, zu bewerkstelligen sei. Diese Frage durchzog als Leitfrage, wenn auch im Vorfeld so nicht geplant, die Diskussionen des Kongresses.
Hierbei wurden verschiedene Begriffe und deren Relevanz für die Analyse des Kapitalismus nach dem Ende des ML-Interpretationsansatzes in die Runde geworfen und zum Teil diskutiert. Welche Bedeutung besitzt der Wert im Kapitalismus und davon ausgehend in der derzeitigen menschlichen Gesellschaft? Ist der Kapitalismus das dominierende bzw. das grundlegende gesellschaftliche Verhältnis? Ist der Kapitalismus in sich widersprüchlich oder eher konsistent? Der Kongress hat gezeigt, dass kein allgemeines Verständnis von Kapitalismus existiert, welches die Basis einer Diskussion darstellen könnte. Es muss also eine dringende Aufgabe der linksradikalen Bewegung sein, sich dieses Verständnis zu erarbeiten.
Aus dieser Unsicherheit der Begrifflichkeit überhaupt leitet sich nahezu zwangsläufig die Unsicherheit in bezug auf die Möglichkeiten der Überwindung des Kapitalismus ab. Außer bei der Fraktion, welche der Meinung war, gegen Kapitalismus überhaupt gar nichts machen zu können, existierte allenthalben Ratlosigkeit über die Mittel und Formen antikapitalistischer Praxis. Die internationalen Globalisierungsproteste wurden aufgrund ihrer nationalistischen Aufladungen als eher ungünstige und kontraproduktive Aktionsformen der Vermittlung antikapitalistischer Positionen verstanden. Ob die Antiglobalisierungsbewegung Anknüpfungspunkte für eine radikale Linke bieten kann, wurde eher bezweifelt.
Neben der inhaltlichen Diskussion entscheidender Themen war es ein Ziel des Kongresses, die strikte Trennung der antirassistischen und antifaschistischen Szene zur Disposition zu stellen. In einer gemeinsamen Veranstaltung von VertreterInnen beider Richtungen wurde versucht, die Grundlinien einer möglichen gemeinsamen Politik zu erarbeiten und die vorhandenen Unterschiede auf deren Relevanz für eine teilweise gemeinsame Praxis zu bestimmen. Bei dieser Veranstaltung zeigten sich dennoch diametrale Unterschiede besonders an dem Punkt der Vermittlung linksradikaler, antirassistischer Positionen. Unproduktiver, pöbelnder Verbalradikalismus wurde auf der einen, sinnloses Beharren auf der Möglichkeit, die (rassistische) Bevölkerung zu überzeugen, auf der anderen Seite konstatiert. Die Frage, inwieweit eine Zusammenarbeit in Zukunft möglich sein kann, wird sich erst in den nächsten Monaten beantworten lassen und bedarf bis dahin noch einiger Diskussionen.
Der Kongress hat gezeigt, dass inhaltliche Diskussionen über Positionen und Strategien der radikalen Linken dringend vonnöten sind, der strukturelle Rahmen dafür jedoch fehlt. Diesen zu schaffen, das wurde auf dem Abschlussplenum noch einmal explizit formuliert, ist eine der dringenden Aufgaben der radikalen Linken und soll in den nächsten Monaten vorangetrieben werden. Hierfür gab es nach dem Kongress bereits ein erstes Treffen, an dem sich mehrere Gruppen beteiligten, welches seine Fortführung am 14. Juli `01 in Leipzig findet. Dort soll eine konkrete Neuorganisierung der radikalen Linken diskutiert und teilweise bereits initiiert werden. Die Zahl von 25 Gruppen, welche Interesse an dem Treffen in Leipzig signalisiert haben, zeigt, dass eine weitere Diskussion der Fragen, welche auf dem Kongress in Göttingen aufgeworfen wurden, im bundesweiten Maßstab durchaus möglich ist.
Phase 2 Leipzig