Cold War, hot memories

Grenzziehungen und Überschneidungen zwischen offizieller west- und osteuropäischer Erinnerungskultur und der Stellenwert der Holocausterinnerung nach 1989

Betritt man das »Haus des Terrors« in Budapest, so wird den BesucherInnen die erinnerungspolitische Intention dieses Museums an einer historic site – das Gebäude in der Andrássy Straße 60 war ab 1937 von den ungarischen Pfeilkreuzlern und von Kriegsende bis 1952 als Hauptquartier der Staatssicherheit genutzt worden – unmissverständlich vor Augen geführt: Im Eingangsbereich befindet sich ein gemeinsames Denkmal für die Opfer des Kommunismus und der Pfeilkreuzler-Diktatur, bestehend aus zwei Gedenksteinen. Spiegelbildlich angeordnet, der eine aus rotem, der andere aus schwarzem Stein, versehen mit den jeweiligen politischen Symbolen, verweisen sie auf die zentrale Botschaft des »Haus des Terrors«: die Gleichsetzung der kommunistischen Diktatur mit dem Nazi-Kollaborationsregime in Ungarn. Die Dramaturgie und Inszenierung, die räumliche Gewichtung und die emotionale Aufladung der einzelnen Themenbereiche in der Ausstellung lassen allerdings keinen Zweifel daran, dass der Schwerpunkt nicht auf den Verbrechen vor dem Kriegsende 1945, sondern auf jenen des Kommunismus liegt – damit tritt auch die Darstellung der Ermordung der ungarischen Juden in den Hintergrund. Geschichtspolitisches Engagement, ästhetische Aufladung und Emotionalisierung finden sich in erster Linie dort, wo es um die Darstellung des kommunistischen Terrors und seiner Opfer geht. Regina Fritz, Gespaltene Erinnerung. Museale Darstellungen des Holocaust in Ungarn, in: dies. u.a. (Hrsg.), Nationen und ihre Selbstbilder. Postdiktatorische Gesellschaften in Europa, Göttingen 2008, 129–149.

Das »Haus des Terrors« ist wohl eines der aufwändigsten und plakativsten Projekte jener Gedächtniskultur, die sich seit 1989 vielfach in den Ländern des ehemaligen kommunistischen Ostblocks formiert hat. Im Vordergrund entsprechender Initiativen steht die Abrechnung mit dem überwundenen kommunistischen Regime und seinen Machthabern. Gedenkstätten, Memorial Museums und Denkmäler werden dabei als geschichtspolitische Werkzeuge im Kampf um die Erinnerung eingesetzt: Mit den Mitteln der Gedächtniskultur soll die jeweils »eigene« Geschichte legitimiert und die Geschichtsinterpretation von politischen Gegnern delegitimiert werden.

Steht die Gedächtnislandschaft in den postkommunistischen Staaten damit im Gegensatz zu den oftmals vereinheitlichend proklamierten Leitlinien einer westeuropäischen Erinnerungskultur, deren Gravitationszentrum offiziell der Holocaust bilden soll? »Der Holocaust (die Shoah) hat die Zivilisation in ihren Grundfesten erschüttert. In seiner Beispiellosigkeit wird der Holocaust für alle Zeit von universeller Bedeutung sein«, heißt es etwa einleitend in der Erklärung des Stockholm International Forum on the Holocaust aus dem Jahr 1998, Zit. n. http://www.holocausttaskforce.org/about/index.php? content=stockholm/ (Download 4. Februar 2009). bei dem die ITF Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research begründet wurde, eine internationale Organisation mit mittlerweile 26 Mitgliedsländern.

Die Bedeutung, die dem Holocaust als einem potentiellen historischen Bezugspunkt einer europäischen bzw. globalen Erinnerungskultur mittlerweile in offiziellen Verlautbarungen zugewiesen wird, geht auch aus der Bestimmung des 27. Januar, des Tags der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, zum internationalen Holocaust Remembrance Day durch die Vereinten Nationen im November 2005 hervor.

Diese Differenz der Erinnerungskulturen scheint eine neue Trennlinie darzustellen, die die überwundenen Grenzziehungen des Kalten Krieges kulturell reproduziert. Oder handelt es sich möglicherweise um einen notwendigen Nachholprozess des Kampfs um die Erinnerung und des Ausverhandelns von konkurrierenden Geschichtsbildern, der auch im westlichen Europa jahrzehntelang den Umgang mit traumatischen Ereignissen der nationalen Geschichte bestimmt hat? Das Handlungsfeld Erinnerungskultur war dabei bis in die achtziger Jahre zum einen von einer konsensbestimmten nationalen Ebene und zum anderen von der Konfliktkonstellation zwischen den politischen Parteien bestimmt. Während auf nationaler Ebene die Narrative und Ausdrucksformen einer einheitsstiftenden Konsensgeschichte nach innen und die Abgrenzung nach außen im Vordergrund standen, diente auf innenpolitischer Ebene Zeitgeschichte als Mittel der ideologischen Abgrenzung zwischen den Lagern. Gedächtnis als »politische Waffe, um den Gegner zu treffen«, hatte vor allem das Ziel, die Fehler der anderen Seite hervorzukehren, die Haltung der eigenen Seite jedoch zu rechtfertigen. Dies konstatiert für Österreich Anton Pelinka, Windstille. Klagen über Österreich, Wien/München 1987, 131. Dies lässt sich nach wie vor in den Erinnerungsritualen von politischen Parteien beobachten, in Österreich etwa regelmäßig an den Jahrestagen des Bürgerkriegs 1934. In diesem innenpolitischen Zwei-Frontenkrieg der austrofaschistischen Regierung unter Engelbert Dollfuß gegen Nationalsozialisten und Sozialdemokratie war zunächst das Verbot der Kommunistischen Partei und der NSDAP erfolgt (1933). Nach dem sozialdemokratischen Aufstand im Februar 1934 wurde auch die Sozialdemokratische Partei verboten.

Allerdings: Mit der Erosion der politischen Ideologien im ausgehenden 20. Jahrhundert hat auch die erinnerungspolitische Konkurrenz der ideologischen Lager an Strahlkraft eingebüßt. Im westlichen Europa zeigt sich dies am Erkalten bisheriger historischer Fixpunkte, am Verblassen ihres Streitpotentials und damit auch an ihrer gesellschaftlichen Resonanz. Die Fragen an die Geschichte haben sich verändert – vor allem: sie richten sich nicht mehr vorrangig an die Parteien als zentrale Akteure politischen Handelns. Dies zeigt sich etwa in der Transformation der Frage nach Schuld und Verantwortung in zwei »Nachfolgestaaten des Dritten Reiches«, der BRD und Österreich: In der BRD stand die Frage, welche Parteien bzw. politischen und gesellschaftlichen Kräfte Hitler 1933 an die Macht gebracht hatten bis in die achtziger Jahre im Vordergrund von kritischen »Fragen an die deutsche Geschichte«. »Fragen an die deutsche Geschichte« – so lautete der Titel einer Ausstellung, die 1971 anlässlich der 100-jährigen Wiederkehr der Gründung des »Deutschen Reiches« durch das Bundesinnenministerium initiiert und im Reichstagsgebäude eröffnet, sie wurde in der Folge ständig aktualisiert. In Österreich richtete sich analog die Frage darauf, welche Partei ein größeres Maß an Schuld am Untergang der Ersten Republik und an der Preisgabe Österreichs an Nazi-Deutschland hatte. Beide Fragen evozierten regelmäßig zu den »runden« Jahrestagen von »Machtergreifung« in Deutschland (1933) und »Anschluss« in Österreich (1938) ein beträchtliches gesellschaftliches Konfliktpotential und ein hohes Maß an sozialer Erregungsenergie.

Am Ende des 20. Jahrhunderts wird die Frage von Schuld und Verantwortung in neuer Form gestellt, sie richtet sich nun an das Individuum und an die Gesellschaft und nicht mehr vorrangig an Partei und Staat bzw. Nation. Was dabei verhandelt wird, sind nicht mehr primär die Verantwortung der politischen Parteien oder der Mythos von der Nation als unschuldigem Opfer äußerer Gewalt, sondern die moralisch-ethischen Werte und Normen, an denen sich eine Gesellschaft orientieren soll. Heidemarie Uhl, Schuldgedächtnis und Erinnerungsbegehren. Thesen zur europäischen Erinnerungskultur, in: Transit. Europäische Revue 35 (2008), 6–22. Es ist genau diese Funktion, die der Art und Weise, wie Gesellschaften erinnern, eine neue Relevanz zukommen lässt. Auf diese Funktion weist Jan Assmann in seinem Essay über den Zusammenhang von Gedächtnis und Identität hin. 1988 erschienen, markiert es zugleich den Beginn der Karriere von Gedächtnis als Leitbegriff in den Kultur- und Geisteswissenschaften des ausgehenden 20. Jahrhunderts: »In ihrer kulturellen Überlieferung wird eine Gesellschaft sichtbar: für sich und für andere. Welche Vergangenheit sie darin sichtbar werden und in der Wertperspektive ihrer identifikatorischen Aneignung hervortreten läßt, sagt etwas aus über das, was sie ist und worauf sie hinauswill.« Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders./Tonio Hölscher (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1988, 16.

Es ist diese Funktion der Holocaust-Erinnerung, die sich auch in der »Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart« Tony Judt, Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München/Wien 2006. des Historikers Tony Judt zeigt. Darin erscheint die Erinnerung an die Barbarei des Holocaust als ein spezifisch europäisches Projekt und als ein identitätsstiftendes Fundament des gegenwärtigen, aber auch des zukünftigen Europa: »Wenn wir uns in kommenden Jahren erinnern möchten, warum es so wichtig war, ein bestimmtes Europa aus den Krematorien von Auschwitz zu bauen, kann uns nur die Geschichte helfen. […] wenn Europas Vergangenheit seiner Gegenwart auch weiterhin als Mahnung und moralische Zielvorgabe dienen soll, muss sie jeder Generation erneut vermittelt werden.« Ebd., Epilog: Erinnerungen aus dem Totenhaus. Ein Versuch über das moderne europäische Gedächtnis, 966. Diese Europäisierung des Holocaust, mit der aus dem Ereignis Schlüsse für das politische Projekt Europa gezogen werden, birgt jedoch die Gefahr einer Verallgemeinerung in ein europaweit gemeinsam erfahrenes Leid, die die Spezifik der europaweiten Vernichtung von Juden und Jüdinnen und die Grenze zwischen Opfern und Tätern zu verwischen droht.

Der Holocaust ist erst im ausgehenden 20. Jahrhundert in das Zentrum einer transnationalen europäischen Erinnerung gerückt. Dies ist vor allem auch das Ergebnis einer grundlegenden Transformation von Erinnerungsbedürfnissen und ihren kulturellen Ausdrucksformen in den europäischen Nationen und darüber hinaus. Seit den achtziger Jahren lässt sich dieser westeuropäische Prozess der Neuorientierung im Hinblick auf den Ort von Nationalsozialismus und Holocaust im kollektiven Gedächtnis beobachten. Tony Judt spricht in seinem Essay »Die Vergangenheit ist ein anderes Land. Politische Mythen im Nachkriegseuropa« vom Zerbrechen der Nachkriegsmythen – jener Geschichtserzählungen, die seit 1945 die Diskurse, Bilder, Symbole und Rituale der Erinnerung an Krieg, Nationalsozialismus und Holocaust bestimmt hatten. Wenngleich diese europäischen postwar myths jeweils unterschiedliche nationale Ausprägungen gefunden haben, so ist ihnen doch eine gemeinsame Signatur zu eigen: das »eigene Volk« als unschuldiges Opfer grausamer Unterdrückung durch einen feindlichen Aggressor zu zeigen, den heroischen nationalen Widerstand zu würdigen und Fragen der Kollaboration an den unter deutscher Federführung begangenen Verbrechen auszublenden. Mit der retrospektiven Konstruktion einer Gesellschaft, die nicht in den Nationalsozialismus verstrickt war, erfüllten diese Geschichtserzählungen nach 1945 eine nicht zu unterschätzende Funktion in der Integration der politisch zutiefst gespaltenen Gesellschaften. Dies war allerdings nur durch die Verdrängung bzw. Leugnung des eigenen Anteils an den NS-Verbrechen möglich. Die österreichische »Opferthese« ist nur eine, wenngleich die wohl am wenigsten haltbare Variante in der Bandbreite der europäischen Nachkriegsmythen, während in den okkupierten west- und osteuropäischen Ländern die heroischen Mythen von nationalem Freiheitskampf und zivilem Widerstand gegen die deutsche Okkupation naturgemäß auf ein höheres Maß an Evidenz verweisen konnten. Zu den jeweiligen nationalen Ausprägungen der Postwar-Myths: Monika Flacke (Hrsg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Mainz 2004 (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin 2004/05). Unter diesen Rahmenbedingungen war das Gedenken für die Opfer der NS-Vernichtungspolitik zumeist eine »ungeliebte Erinnerung«, war damit doch zumindest indirekt der Verweis auf Schuld, Mitverantwortung und Kollaboration bzw. auf konkrete Täter verbunden. Diese kamen oftmals aus dem lokalen Umfeld, waren Arbeitskollegen, Nachbarn, Familienangehörige. 

Das Zerbrechen dieser Nachkriegsmythen erfolgte nicht zufällig erst Jahrzehnte nach 1945, als eine in den Nationalsozialismus nicht direkt involvierte Generation neue Fragen an die Vergangenheit stellte – gerade im Hinblick auf die bislang ausgeblendeten Verbrechen des NS-Regimes. Der Kampf um das Gedächtnis – zwischen jener Sichtweise, die im Sinne der Nachkriegsmythen davon ausging, dass der Nationalsozialismus eine aufgezwungene Fremdherrschaft war, und einer neuen Sichtweise, die nach der Involvierung der eigenen Gesellschaft in den NS-Herrschaftsapparat und in die Verbrechen des NS-Regimes fragte – wurde in den achtziger und neunziger Jahren in vielen Ländern zu einem immer wieder aufbrechenden Konfliktpotential. Der deutsche Historikerstreit um die Gleichsetzung von nationalsozialistischen und stalinistischen Verbrechen und die Singularität des Holocaust (1986), die österreichische Debatte um die Beurteilung der Nazivergangenheit des österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim (1986), der Konflikt um die Beteiligung von polnischen »Nachbarn« an Judenerschießungen in Jedwabne (2000), um nur einige Beispiele zu nennen, haben nicht nur in den jeweiligen Ländern zu gesellschaftlichen Grundsatzdebatten über das Gedächtnis der Nation geführt, sondern auch das Interesse einer internationalen Öffentlichkeit geweckt. Denn was in diesen Debatten verhandelt wurde, ist – wie Jan Assmann in seiner Theorie des kulturellen Gedächtnisses hervorhebt – nicht vorrangig die Vergangenheit selbst, sondern es sind die vermeintlichen Grundwerte der gegenwärtigen politischen Kultur.

Die Neuausrichtung der Erinnerungskultur an der traumatischen Vergangenheit von Gesellschaften hat ihre »Übersetzung« auch in eine neue Topographie gedächtniskultureller Projekte gefunden, die nur auf den ersten Blick die traditionellen Repräsentationen von Gedächtnis in den Gesellschaften der Moderne in Form von Denkmälern, Museen und Gedenktagen aufgreifen. Die Holocaust-Denkmäler in Berlin (2005), Wien (2000) und Paris (2005) oder die Holocaust-Ausstellung im Imperial War Museum in London (2000) sind Ausdruck einer neuen Erinnerungskultur, die ihren Niederschlag auch in kleineren Städten und Dörfern gefunden hat, bis hin zu den Stolpersteinen vor Wohnhäusern, die an die Ermordung jüdischer Nachbarn erinnern und von privaten Initiativen getragen werden. Volkhard Knigge, Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, hat darauf hingewiesen, dass es sich dabei vielmehr um eine gänzlich neue Form des Erinnerns handelt: ein »negatives Gedenken«, die »öffentliche Erinnerung an begangene, nicht an erlittene Untaten«. Es geht nicht mehr um die Abwehr und Externalisierung von Schuld bzw. um die Projektion der Schulfrage auf einen äußeren »Feind« oder innenpolitischen Gegner, sondern um die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld und (Mit-)Verantwortung am Holocaust, an Genoziden und anderen Verbrechen, die im Namen eines Kollektivs begangen wurden. Volkhard Knigge, Statt eines Nachworts: Abschied der Erinnerung. Anmerkungen zum notwendigen Wandel der Gedenkkultur in Deutschland, in: Volkhard Knigge/Norbert Frei (Hrsg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, 423–440. Schuldgedächtnis und negatives Gedenken beschränken sich allerdings im Wesentlichen auf die öffentliche bzw. offizielle Erinnerungskultur und sind immer wieder mit neuen Gegenerzählungen konfrontiert. Die Reklamierung des »eigenen« Opferstatus und die damit verbundene Relativierung von Schuld ist enthalten etwa in den deutschen Opfererzählungen über Flucht, Vertreibung und Bombenkrieg einerseits, dem Hinweis auf die politische Verfolgung in der DDR andererseits. 

Ungeachtet dieser jeweiligen Erinnerungskonkurrenzen wird die offizielle, staatliche Vergangenheitspolitik im Hinblick auf die NS-Vergangenheit im Wesentlichen durch die Semantik, die Rituale und die kulturellen Formungen des »negativen Gedenkens« geprägt. In vielen europäischen Staaten erfolgte die offizielle Anerkennung der Mitverantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes von Seiten der Regierung und, damit verbunden, eine Entschuldigung bei den Opfern durch oftmals schon zu späte und unzureichende Maßnahmen zur materiellen Entschädigung und Restitution.

Dies betrifft allerdings in erster Linie die »westeuropäischen« Länder. In den postkommunistischen Gesellschaften Europas orientiert sich das öffentliche bzw. offizielle Gedächtnis offenkundig an jenen Formen einer positiven Erinnerung, die man – analog zu Tony Judts Terminus der postwar myths – als Post-Cold-War-Mythen beschreiben könnte: Die eigene Gesellschaft wird als unschuldiges Opfer des Kommunismus, dieser als aufgezwungene Fremdherrschaft dargestellt. Die Frage der Schuld an den Verbrechen des Regimes wird »externalisiert«, auf die »Anderen« projiziert. Fragen, die seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert in vielen westlichen Ländern im Vordergrund von Diskussionen stehen, haben kaum Relevanz, vor allem die Frage nach der Involvierung der eigenen Gesellschaft in NS-Verbrechen. Die Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik treten gegenüber den Opfern der kommunistischen Diktatur in den Hintergrund, Nationalsozialismus und Holocaust erfahren angesichts des zentralen Stellenwerts der Erinnerung an die Verbrechen des Kommunismus eine Relativierung.

Es sind aber gerade auch jüngste Debatten, die die Frage nahelegen, ob die Grenze zwischen ost- und westeuropäischer Erinnerung womöglich weniger scharf zu ziehen ist als es die Rhetoriken und die kulturellen Repräsentationen der unterschiedlich ausgeformten offiziellen Erinnerungskulturen nahelegen. So sind etwa die Vergleiche zwischen den Opfern israelischer Kriegshandlungen im Gaza-Streifen und den Opfern des Holocaust eine transnationale Form der Relativierung, die in west- und osteuropäischen Staaten zu beobachten ist.

Die Zukunft der Erinnerung ist nicht vorhersehbar. Dies betrifft auch die Entwicklung der europäischen Erinnerungskulturen zwischen einem »westlichen« Modell, in dem der Holocaust den zentralen Bezugspunkt bildet, und den postkommunistischen Ländern, in denen die Abrechnung mit der kommunistischen Vergangenheit im Zentrum der »heißen«, politisch aufgeladenen Erinnerung steht. Folgt man allerdings der These, dass nicht Konsens, sondern Konflikt und Dissens jene Kommunikationsgemeinschaften generieren, in denen sich Gesellschaften immer wieder ihrer Grundlagen versichern, Klaus Eder, Europäische Öffentlichkeit und multiple Identitäten – das Ende des Volksbegriffs?, in: Claudio Franzius/Ulrich K. Preuß (Hrsg.), Europäische Öffentlichkeit, Baden-Baden 2004, 61–80. so sind es womöglich gerade auch diese Leitdifferenz der Erinnerungskulturen und die davon angestoßenen Debatten, die auf erinnerungspolitischer Ebene prägend für einen europäischen Kommunikationsraum sind.

~ Von Heidemarie Uhl. Die Autorin ist Zeithistorikerin in Wien.