Zwei Ereignisse haben all die Propheten, die das baldige Ende der Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) kommen sehen, ja immer hatten kommen sehen, neuerlich auf den Plan gerufen: die spektakuläre Absetzung des Parteichefs der zentralchinesischen Metropole Chongqing, Bo Xilai, und die Gerüchte, dass der für den Herbst anstehende Parteitag, auf dem die geplante Ablösung der seit 2002 amtierenden politischen Führung von Hu Jintao (Parteichef) und Wen Jiabao (Ministerpräsident) durch die »fünfte Generation«, Xi Jinping und Li Keqiang, stattfinden sollte, verlegt oder abgesagt werde.
Diese China Watchers bilden eine wahre Allparteienkoalition. Liberale Fans eines »Endes der Geschichte« (Francis Fukuyama) in der allgemeinen free market democracy und die letzten kalten KriegerInnen, die den Marxismus als Inkarnation des Bösen endgültig zu besiegen hoffen, reichen sich die Hand. Die nimmermüden OperaistInnen, der festen Überzeugung, die Zunahme von Arbeitsstreiks beweise, dass China das neue Zentrum der Weltrevolution bilden werde, begraben ihren Streit mit den fundamentalen WertkritikerInnen. Die sehen ihrerseits den »Kollaps der Modernisierung« jetzt auch in China ankommen, da ja die absolute Zahl der Industriebeschäftigten auch hier den »Peak Labor« überschritten habe. EsoterikerInnen und digital natives teilen den Glauben an den Triumph des freien Cyberspace über alle grobstofflichen Reiche.
Sie alle eint, dass der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg der Volksrepublik nicht in ihr Weltbild passt und dass ein wie auch immer gearteter Zusammenbruch – in der neuesten Variante mit dem »arabischen Frühling« als Auslöser – ihre jeweilige Lieblingstheorie aufs Trefflichste bestätigen und den jeweiligen Hoffnungen nach langem Darben neue Nahrung geben würde.
Das staatssozialistische System der Volksrepublik hat seinen von vielen westlichen China Watchers vorhergesagten Untergang nun schon um rund zwei Jahrzehnte überlebt, und auf mittlere Sicht dürfte sich daran – abgesehen von nicht seriös prognostizierbaren Ereignissen – wenig ändern.Zu den derzeitigen Parteifraktionen: Cheng Li, Chinesisches Machtmikado, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 6/2012, 36-38.
Der Grund ist nicht etwa, dass es der Kommunistischen Partei Chinas gelungen wäre, die durch die schiere Größe des Landes vervielfachten, schreienden ökonomischen und sozialen Probleme zu lösen oder gar einen Königsweg zu einem »stabilen System« zu finden. Von beidem ist China weit entfernt.
Es bleibt natürlich Aufgabe jeder emanzipatorischen Kritik, die diesen Namen verdient, bei der Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse den Schein systemischer Geschlossenheit und Stabilität zu zerstören. Und es bleibt eine richtige Einsicht der Kritik der politischen Ökonomie, dass das Kapitalverhältnis ein »Unwesen« ist und darum nicht »nachhaltig« sein kann. Dies ist aber kein Freibrief für Wunschdenken.
Unter die Überschrift »Wunschdenken« fallen auch alle Phantasien, die aus der Zunahme von Bauernunruhen und Arbeiterinnenstreiks sozialrevolutionäre Hoffnungen schöpfen. Solange sich diese Klassenkämpfe nicht explizit politisch artikulieren, und dafür gibt es keine Anzeichen, kann der Staat sehr flexibel auf diese reagieren, zumal der ökonomische Spielraum zur systemimmanenten Erfüllung sozialer Forderungen vorhanden ist. Den kontrollierten sozialen Konflikt als Motor der Entwicklung nutzen – diese Doktrin aus dem Fundus der »Maozedong-Ideen« wurde auch von Deng und seinen Nachfolgern keineswegs vergessen.
In keiner Periode seiner dreitausendjährigen Geschichte hat China eine solch rasante Steigerung des Lebensstandards erfahren wie in den letzten 30 Jahren, in denen 300 Millionen Menschen aus der absoluten Armut befreit wurden. Die Umwälzung dieses riesigen Landes durch die Wertvergesellschaftung war keine »Evolution«, keine Umsetzung eines »Masterplans«, aber auch kein blindes »pragmatisches« Trial-and-Error. Doch sie wurde von der KPCh strategisch nach Vorgabe ihrer ideologischen Richtlinien gesteuert. Die Transformation kann nach wie vor katastrophisch scheitern und dass dies bisher nicht geschehen ist, kann die Partei, ob zu Recht oder nicht, der Qualität ihrer Steuerung zuschreiben. Diesem Legitimationsdiskurs eines »lernenden autoritären Systems«, so bezeichnet es der Sinologe Sebastian Heilmann, lässt sich nicht dadurch begegnen, dass wider besseren Wissens die KPCh als zum Untergang verurteilte Garde vorgestriger Ideologen hingestellt wird.
Vom chaostheoretischen Kurs…
Die Strategie zur Stabilisierung der Parteiherrschaft, die – nur von kurzen Readjustierungsphasen unterbrochen – unter Deng Xiaoping und Jiang Zemin verfolgt wurde, lässt sich am besten als »chaostheoretische« beschreiben: Der Gefahr durch Ungleichgewichte und Widersprüche, die als Folgen der Wirtschaftsreformen auftauchen mussten, wurde durch eine Beschleunigung eben dieser Reformen und damit ihrer Ursache begegnet. Bei Wachstumsraten im oder nahe am zweistelligen Bereich erreichte der soziale Wandel eine Geschwindigkeit, bei der sich potentielle Koalitionen unzufriedener und gegen das Parteimonopol rebellierender Gruppen schon wieder auflösten, bevor sie sich politisch hätten artikulieren können.
Ein zweites 1989 drohte nie ernsthaft. Die Reform der defizitären staatlichen Industrie in den neunziger Jahren war von der heftigen Gegenwehr des Kerns der IndustriearbeiterInnenschaft und Teilen der Bürokratie wohl verzögert, nicht aber gefährdet worden.
Ein riesiger Nachholbedarf nach den Verwüstungen der »Kulturrevolution« und ein günstiges regional- und weltwirtschaftliches Umfeld ließ die wirtschaftspolitische Grundlinie des »Dengismus« – Mobilisierung des Potentials des Privatsektors, Weltmarktintegration auf der Basis der Nutzung des Billiglohnvorteils, hohe, rein »input-stimulierte« Wachstumsraten unter Inkaufnahme aller sozialen, regionalen und sektoralen Disparitäten – alternativlos erscheinen.
Die gesellschaftlichen Gegenkräfte (Bauern, Arbeiterinnen, die intellektuelle Demokratiebewegung und das neue Privatkapital) hielten sich gegenseitig in Schach.
Das kollektive Trauma der Kulturrevolution ließ die Not des ideologischen Orientierungsverlusts als Tugend erscheinen, die »Geld-Kulturrevolution« , wie diese einmal vom Schriftsteller Yang Lian bezeichnet wurde, konnte sich ohne Zutun der Partei Bahn brechen.
... am Rande des Abgrunds …
Freilich kann ein solcher Kurs nicht ad infinitum fortgesetzt werden, ohne dass der ganze Laden der KPCh irgendwann um die Ohren fliegt. Die Vergänglichkeit der Voraussetzungen und die Unbeherrschbarkeit der Folgen dieser Strategie lagen auf der Hand: Vor der Schnapsidee, die Legitimation der Parteiherrschaft alleinig von der ökonomischen performance – etwa im Sinne eines »Wohlstand für alle« aus seligen bundesrepublikanischen Wirtschaftswunderzeiten – abhängig zu machen, bewahrten die KPCh wohl die marxistischen Restbestände in ihrem ideologischen Gepäck. Zu offensichtlich ist die Tatsache, dass nur extreme Wachstumsraten die »Freisetzung« von Arbeitskräften durch Rationalisierungseffekte kompensieren können.
In der intellektuellen Opposition, für sich allein selbst in ihrer Herkunftsschicht isoliert, zeichnete sich Ende der neunziger Jahre ein Kurswechsel ab. Die Erfolglosigkeit der seit 1989 verfolgten Strategie, auf den Druck westlicher Regierungen in der Menschenrechtsfrage zu setzen, ließ die wenigen verbliebenen Oppositionellen eine Annäherung an die ArbeiterInnenproteste suchen. Ein Zusammengehen dieser beiden Strömungen wäre der politische Super-GAU für die Partei.
Der Kampf gegen die Korruption des Staatsapparates, das Hauptärgernis so gut wie aller Bevölkerungsschichten, ist wiederum aussichtslos, solange die Hauptursachen – das politische Machtmonopol in Verbindung mit dem marktwirtschaftlich erzeugten Reichtumsgefälle – unverändert weiterwirken.
Die »sozialistische geistige Zivilisation«, diese sterile ideologische Konstruktion aus Elementen von Sino-Marxismus-Leninismus, Konfuzianismus und Nationalismus, als deren Schöpfer zu profilieren Jiang Zemin sich besondere Mühe gegeben hatte, vermag nicht im geringsten die gesellschaftliche Orientierungsfunktion zu erfüllen, die im chinesischen Staat traditionell der politischen Zentrale zukommt. Konsensfähig und jederzeit mobilisierbar ist allein ein mal han-chinesisch, mal panasiatisch getönter Nationalismus, der die Überlegenheit der chinesischen Kultur gegenüber dem Westen propagiert. Die Versuchung, sich verschlechternde innenpolitische Verhältnisse durch außenpolitische Kraftakte zu kompensieren, wird steigen. Wie weit diese Spiele mit dem Feuer schon gehen, zeigte sich während der Taiwankrise im Juli 1999.
Der Raubbau an den Naturressourcen schlägt schon heute deutlich spürbar in Form von endemischen Dürren in Nord- und Überschwemmungen in Südchina zurück. Dass der Verlust von fruchtbarem Ackerland durch Überbauung und Bodenerosion durch gentechnologische Ertragssteigerungen wettgemacht werden wird, ist reines Wunschdenken.
Unübersehbar ist, dass das auf eine immobile Agrargesellschaft zugeschnittene politische System der Parteiherrschaft in einer zumindest formell voll in den globalen »Turbokapitalismus« integrierten Gesellschaft kaum noch steuernd eingreifen kann. Und das, obwohl gerade in einem unterentwickelten Land der Selbstlauf des Marktes noch verheerendere Auswirkungen hat als in den Metropolen. 75 Prozent des Bruttosozialproduktes werden im nichtstaatlichen Sektor erwirtschaftet, die Staatsquote liegt allen sozialistischen Bekenntnissen zum Trotz bei einem Bruchteil der Werte in den führenden Industrieländern. Was für die materiellen Ressourcen gilt, trifft erst recht auf den Fluss von Informationen und Ideen zu. Nur lächerlich können beispielsweise die Versuche der Regierung genannt werden, die Verbreitung unerwünschter Inhalte im Internet zu kontrollieren. Denn würde die KPCh damit wirklich Ernst machen (wie es das Regime in Nordkorea tut), hieße dies auch Verzicht auf alle ökonomischen Vorteile dieses Mediums zu üben.
Als ökonomischer Funktionsraum ist die politische Einheit Volksrepublik China längst von »Greater China«, welches außerdem noch Taiwan und Hongkong umfasst, abgelöst worden. So hielt im Jahre 1994 der Ökonom Carsten Hermann-Pillath einen Zerfall der Volksrepublik für nicht nur möglich:
»Damit zeichnet sich eine Vision von ›Greater China‹ ab, die von einer Denationalisierung der chinesischen Wirtschaft geprägt ist: China als Kulturraum, der durch chinesische Netzwerke integriert ist, wird künftig kein ähnlich stark integriertes politisches Gegenstück besitzen. Stattdessen wird eine weite und tief verwurzelte ländliche Gesellschaft des Festlandes durchwoben sein von Handels- und Industriestädten, deren Position im Staatsgefüge eher den mittelalterlichen Hansestädten ähnelt als den Großstädten europäischer Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts. […] Gerade die politische Schwächung der Zentralgewalt wird auch zur Folge haben, daß das staatliche Gewaltmonopol nicht mehr uneingeschränkt auf dem Lande herrscht. Stadt und Land könnten sich weiter auseinanderentwickeln, wenn der Niedergang des Bildungswesens anhält, und sich der kulturelle Dualismus weiter vertieft. […] Sicher scheint, daß eine Wiederholung desselben Weges [der ›Tiger‹-Staaten – H.Z.] nicht möglich ist, weil das ostasiatische Entwicklungsmuster hochintegrierte und effiziente politische Organisationen voraussetzt.«Carsten Herrmann-Pillath, Wirtschaftsintegration in China: ökonomische, politische und gesellschaftliche Perspektiven der Beziehungen zwischen Taiwan und der Volksrepublik China, eine empirische Untersuchung, Bonn 1994.
Vergessen wird nur eines: Die Landbevölkerung des mittelalterlichen Europa konnte von ihrer Naturalwirtschaft leben; die überzähligen ChinesInnen in diesem Szenario sicher nicht. Und selbst wenn sie wieder in den Analphabetismus zurücksänken, so hätten sie Satellitenfernsehen und wüssten, wovon sie ausgesperrt werden sollen. Nichts wird sie deshalb auf dem Land zurückhalten, ein friedliches Nebeneinander von bodenständig-bäuerlichem und handelsstädtischem Leben im 21. Jahrhundert ist eine Illusion.
… zur »harmonischen Gesellschaft«
Unter dem seit 2002 amtierenden Hu Jintao vollzog sich daher unter der Überschrift »Harmonische Gesellschaft« eine deutliche Akzentverschiebung. »Nebenwidersprüchen« wie sozialen Missständen, ökologischen Problemen, regionalen Disparitäten, Korruption und BeamtInnenwillkür wird durch eine aktive Reformpolitik begegnet.
Als gute KonfuzianerInnen haben die gewendeten StaatssozialistInnen nicht vergessen, dass das Überleben der Herrschaft von der Füllung der Reisschale, und das heißt in China auch noch immer von der Landbevölkerung, abhängt. Die Zentrale hat hier seit 2005 durch die Aufhebung von Abgaben und einen Schutz vor willkürlichen Enteignungen durch im Bunde mit »Investoren« vorgehende lokale Kader die schlimmsten Missstände, Ursache der endemischen Bauernunruhen, abgestellt. Die Bäuerinnen sollen bei der Stange gehalten werden, um eine Landflucht geradezu apokalyptischen Ausmaßes (die »ländliche Unterbeschäftigung« wird auf etwa ein Drittel der Landbevölkerung geschätzt) zu verhindern.
Die kapitalistische Ökonomie ist gefestigt genug, dass sie spezieller staatlicher Hege und Pflege nicht mehr bedarf, um das weltwirtschaftliche Umfeld günstig, die drängenden Probleme, zu denen auch die Folgen der schon jahrhundertelangen Übernutzung des Ökosystems gehören, jetzt anzugehen.
Der »kapitalistische Weg«, soweit er Privateigentum, Marktwirtschaft und Einbindung in die globale kapitalistische Weltwirtschaft umfasst, wurde bis zum Ende beschritten und muss nicht mehr gegen Relikte plansozialistischer Strukturen durchgesetzt oder verteidigt werden. Die Diskreditierung der egalitären agrarkommunistischen Utopien, die in den Jahrzehnten nach der Revolutionen durchaus noch einen politischen Faktor darstellten, wurde von Maos »Kulturrevolution« so gründlich erledigt, dass sich die Mentalität des fa cai (»Bereichert euch«) konkurrenzlos durchsetzen konnte.
Vom »Sozialismus« ist allerdings eines geblieben und er wird es auf absehbare Zeit auch bleiben: das Primat der Politik zum Zwecke der nationalen Interessenbehauptung einer Nachzüglernation im globalen Kapitalismus. Die Partei legitimiert ihr Monopol heute nicht mehr damit, in Form eines Fichte’schen »geschlossenen Handelsstaates« (etwas anderes war der Realsozialismus nie) eine andere Gesellschaft aufzubauen. Sondern gerade weil die Weltmarktintegration unabweisbar notwendig sei, dürfe sie das Heft ideologischer Kontrolle und industriepolitischer Planung nicht aus der Hand geben, soll China sich von ausländischer Hegemonie befreien und seinen Aufstieg fortsetzen. Der Austausch der ideologischen Inhalte – von der Klassenkampfrhetorik des Marxismus zu einer Art konfuzianischem Nationalismus – geschieht kontinuierlich (zur Zeit: »sozialistische Marktwirtschaft chinesischer Prägung«) und ist wegen der großen Schnittmengen ohne größere Brüche möglich.Diese Schnittmengen ausführlich darzulegen, ist aus Platzgründen hier nicht möglich. Festzuhalten ist aber, dass Konfuzianismus und Marxismus eine diesseitige, sozial-utilitaristische und universalistische Orientierung gemeinsam haben, welche die Übernahme des Marxismus durch revolutionäre Bewegungen in konfuzianisch geprägten Ländern (China, Korea, Vietnam) im 20. Jahrhundert erleichtert hat. Dazu kommt die mit dem Leninismus geteilte Affinität zur Erziehungsdiktatur.
Das Beispiel Japans und der »Tigerstaaten« zeigt, dass trotz ausgeprägter Korruption ein ökonomisches Aufholen mit Hilfe technokratischer Wirtschaftsplanung nicht von vornherein unmöglich ist.
Sozialismus?
Vergeblich wird allerdings die Hoffnung einiger westlicher Realsozialismus-NostalgikerInnen sein, dass China eine Art neues »sozialistisches Lager« gegen Neoliberalismus und kapitalistische Globalisierung anführen könnte. Bei aller Konkurrenz en detail hat sich die Volksrepublik auf Gedeih und Verderb vom Weltmarkt im Allgemeinen und der Importnachfrage der amerikanischen Defizitökonomie im Besonderen abhängig gemacht. Bezüglich der Sicherung von Rohstoffquellen und Absatzmärkten für ihre Exportindustrie wird sie diesen Interessen folgen und zwar mit Mitteln, deren Opfer das China noch vor 60 Jahren selbst gewesen war.
Sowieso ist die Frage, ob das in China praktizierte politische System sich »wahrhaft sozialistisch« oder »marxistisch« nennen darf, rein akademisch, ja, eine Nachwirkung des »akademischen Maoismus« im Westen.»(Der) von den zutiefst frustrierten westlichen Altmaoisten verbreitete […] akademische Maoismus […] ist im Abendland zur nachgerade herrschenden westlichen Betrachtungsweise […] geworden.« (Harro von Senger, Moulüe. Supraplanung. Unerkannte Denkhorizonte aus dem Reich der Mitte, München 2008, 74). Da es keinen Vatikan des Marxismus gibt – und wenn, dann säße er heute in Peking – genügt die Feststellung, dass sich der heutige Sino-Marxismus einerseits auf Marx‘ Diktum in der »Kritik des Gothaer Programms« berufen kann, das heißt der Kommunismus (»Jedem nach seinen Bedürfnissen«) sei erst möglich, »nachdem alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen«. Andererseits kann er sich auf die auch vom marxistisch-leninistischen Mainstream anerkannte und von Mao perfektionierte »dialektische« Methodik der Festlegung eines während einer bestimmten Phase gültigen »Hauptwiderspruchs« als politischer Leitnorm berufen. Unverändert lautet dieser seit Dezember 1978: »Der Hauptwiderspruch in der chinesischen Gesellschaft ist der Widerspruch zwischen den wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnissen des Volkes und der rückständigen gesellschaftlichen Produktion« (Satzung der KPCh von 2007).
Dies erinnert eher an den konfuzianischen Sozialutilitarismus als an die Dogmen der Planwirtschaft oder die Philosophie der Emanzipation des Individuums als Gattungswesen. Gerade der Marxismus, der die Historizität von Ideen hervorzuheben pflegt, besitzt aber am allerwenigsten einen Schutz gegen solche »Raubkopien«.
Demokratie?
Die Frage, die kommen muss, lautet: Und wann kommt die Demokratie? Die Partei pflegt dazu bekanntlich noch ein schizophrenes Verhältnis. Einerseits wird gesagt, Demokratie sei noch nicht möglich, man sei aber auf dem Wege dahin, andererseits sei sie mit »asiatischen Werten« nicht vereinbar und es daher auch nicht erstrebenswert, dem dekadenten Westen darin nachzufolgen.
Natürlich sind dies leicht durchschaubare ideologische Ausflüchte. Die durch die Herausbildung einer bürgerlichen Mittelschicht erforderliche Kooptation dieser Schichten in das politische System ist unvermeidlich. Die Notwendigkeit von Reformen in Richtung Rechtsstaatlichkeit und Demokratie wird von der Parteiführung im Prinzip anerkannt, schon allein deshalb, um die Legitimation des Systems unabhängiger von der ökonomischen performance zu machen. Nach dem recht erfolgreichen Ausbau einer unabhängigen Justiz und Experimenten mit freien Lokalwahlen stockt der Reformprozess zur Zeit allerdings wieder. Denn die Finanzkrise seit 2008 und der »arabische Frühling« haben den SkeptikerInnen wieder Oberwasser gegeben, die in jeder Schwächung des Einparteiensystems das Chaos heraufziehen sehen.
Der erfolgreiche Übergang zu – cum grano salis – rechtsstaatlichen bürgerlichen Demokratien in Taiwan und Südkorea beweist, dass konfuzianisch geprägte Gesellschaften nicht notwendigerweise autoritär regiert werden müssen. Allerdings widerlegt das Beispiel Singapur mit seinem äußerst repressiven antikommunistischen System alle Theorien, dass sich die Demokratie ab einem bestimmten Wohlstandsniveau zwangsläufig durchsetzen müsse.
Bei Licht betrachtet gibt es für Optimismus wenig Anlass, wenn die starken, durch den globalen »Turbokapitalismus« beförderten Tendenzen in den westlichen Metropolen bedacht werden, welche auch hier die sozialen Grundlagen der Demokratie unablässig untergraben und durch welche ferner grundlegende »Werte« wie zum Beispiel das Folterverbot durch die »Eliten« mittlerweile offen unter Beschuss genommen werden.Z.B. Alexander Bahar, Folter im 21. Jahrhundert. Auf dem Weg in ein neues Mittelalter?, München 2009. Wenig hoffnungsvoll stimmt weiterhin die sich vertiefende Kluft zwischen einer Minderheit von »LeistungsträgerInnen der Wissensgesellschaft« und dem Heer von der zivilisatorischen Entwicklung abgehängter DienstleistungssklavInnen und Ausgesonderter.
Warum ein Auslaufmodell übernehmen, wenn man in der Weltmarktkonkurrenz up to date sein will? Die globale Standortkonkurrenz wird auch die politischen Systeme einem Wettbewerb aussetzen, in dem alles auf der Strecke bleibt, was nicht kapitalproduktiv ist, seien es die Vorstellung einer naturrechtlich begründeten Freiheit des Individuums oder einer konfuzianischen Sozialutopie einer »Großen Harmonie«. Erfolgreiche autoritäre Systeme werden den Erosionsprozess beschleunigen.
Ob die Entwicklung insgesamt auf eine Ersetzung nationalstaatlicher Souveränität durch einen neuen Typus direkter Klassenherrschaft, eine Art High-Tech-Feudalismus, hinausläuft, ist noch nicht ausgemacht. Das Beispiel China legt den Schluss nahe, dass die Ankündigung eines Endes des Nationalstaates verfrüht sind.
Hubert Zick
Der Autor ist Politologe und lebt in Freiburg.