Im Gespräch mit dem Zentralrat der FDJ am 22. Dezember 1988 verkündete Erich Honecker: »Wenn man in einigen Krankenhäusern z.B. Operationen verschieben muss, weil man nicht über die entsprechenden Gummihandschuhe verfügt, dann ist das ein Skandal. Das hätte ich nie für möglich gehalten. Woran liegt das? […] Der Genosse Schürer [Leiter der Plankommission, R.M.] sagt, er braucht nur eine neue Maschine aufzustellen, und dann kann er ein paar Millionen mehr herstellen. [… Die Handschuhe fehlen], weil der Gesundheitsminister in Verbindung mit der Aids-Bekämpfung die Direktive herausgegeben hat, dass die Zahnärzte auch Gummihandschuhe verwenden müssen. Aber ehe er eine solche Direktive herausgibt, muss er wissen, ob die Handschuhe da sind […]. Es muss also mit Verstand gearbeitet und regiert werden. Außerdem muss ich sagen, mein Zahnarzt hat keine Angst, Aids zu bekommen.«
Die Anwesenden reagierten mit Heiterkeit. Am politischen und ökonomischen Scheitern des Realsozialismus ist nicht herumzudeuteln. Fehlende Gummihandschuhe, fehlende Schrauben, fehlende Rostschutzfarbe usw. usw. Hatte nur niemand rechtzeitig Planungschef Schürer angerufen? Unwahrscheinlich. Und man mag von den Massen auf den Plätzen der DDR (»Keine Gewalt«, »Wir sind das Volk«, »Deutschland einig Vaterland«), halten was man will – ein politisches Scheitern ist es allemal, wenn eine Partei über Jahrzehnte die Bildungseinrichtungen und die Medien kontrolliert – und dabei weder aufgeklärte KommunistInnen herauskommen noch (und das war wahrscheinlich eher der Maßstab der realsozialistischen Führungen) eine stabile Herrschaft.
Was hab denn ich mit der SED zu schaffen?
Als im Jahr 1989 die komischen alten Männer mit den hellgrauen Anzügen ihren Laden gegen die Wand gefahren hatten, dachte ich, endlich würde man als KommunistIn nicht mehr verdächtigt, mit diesem ganzen DDR-Mist zu sympathisieren. Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass das Ende des Realsozialismus doch noch mehr mit »uns« zu tun hat: Als Linksradikale/r ist man heute aufgefordert, nachzuweisen, dass das, was man politisch will, grundsätzlich verschieden ist von dem, was in der DDR so offensichtlich gescheitert ist. Auch wenn man dieser Aufforderung nicht vorschnell nachkommen sollte – bewusst umgehen sollte man mit ihr schon.
Dass das bolschewistische Programm und seine Umsetzung überhaupt Vernünftiges enthalten hat, wird von Teilen der radikalen Linken ja bestritten. Ach, es wäre so schön, wenn man sagen könnte, dass schon die Ziele der ganzen Ex-SozialdemokratInnen von 1917 so falsch waren, dass ihre Realisierung gar nichts Gutes hervorbringen konnte. Für die Zukunft hieße das dann, dass wir mit einem klüger bestimmten Ziel, also allein mit etwas mehr Gelehrtenschweiß, davor gefeit wären, einen ähnlichen Mist zu produzieren.
Es stimmt schon: Vermutlich würde man als vernünftige/r KommunistIn in der Gesellschaft, die Lenin und seine GenossInnen vor 1917 anstrebten, nicht gerne leben wollen. Ordnung und Sauberkeit fanden sie erstrebenswert, kulturelle und sexuelle Abweichung war ihnen verdächtig, Arbeit veredelte ihrer Ansicht nach den Menschen, Freiheit dachten sie sich als »Einsicht in die Notwendigkeit«.
Doch ganz so einfach ist es auch wieder nicht. Der alten Traditionslinie des »Nur, wer arbeitet, soll essen, das aber auch gut«, der Vorstellung von Sozialismus als gesamtgesellschaftlichem Schützenverein mit angeschlossener Produktionssphäre, stehen Aussagen führender GenossInnen entgegen, die deutlich machen, dass sie jedenfalls nicht den fertigen Realsozialismus im Kopf hatten, wenn sie ihre Zielvorstellung formulierten.
»Die kommunistische Produktionsweise setzt […] nicht die Produktion für den Markt voraus, sondern für den eigenen Bedarf. Nur erzeugt hier nicht jeder einzelne für sich selbst, sondern die ganze riesengroße Genossenschaft für alle. Folglich gibt es hier keine Waren, sondern bloß Produkte. Diese erzeugten Produkte werden nicht gegeneinander eingetauscht; sie werden weder gekauft noch verkauft. Sie kommen einfach in die gemeinschaftlichen Magazine und werden denjenigen gegeben, die sie benötigen. Das Geld wird also hier unnötig sein.« Vgl. N.I. Bucharin, J.A. Preobraschenskij: ABC des Kommunismus, dt. Wien 1920, §20. Die Zeitdauer bis zum Erreichen dieses Zustandes schätzen die Autoren Bucharin und Preobraschenskij, Mitglieder der Parteiführung, im Jahr 1919 auf zwanzig bis dreißig Jahre.
Neben autoritärem Spießerkram gab es in den bolschewistischen und später leninistischen Zielvorstellungen auch emanzipative Konzepte, und zwar an zentraler Position. Dies sind Elemente, die nach wie vor Bestandteile jedes vernünftigen politischen Programms sein müssen. Aber warum wurden diese emanzipativen Elemente im Realsozialismus nicht realisiert, warum wurden sie nach und nach zu bloßen Legitimationsformeln? Das ist eine Frage, die eineN als KommunistIn durchaus interessieren muss.
Ein Plan für den Markt
Die realsozialistische Ökonomie wurde zentral geplant. In der DDR sah das so aus, dass die Staatliche Plankommission eine »Planaufgabe« über die Industrieministerien an die Kombinate gab. Darin waren Sollgrößen für den jeweiligen Jahres- und Fünfjahrplan aufgeführt. Diese sollten dann in den Kombinaten diskutiert werden. Das Ergebnis wurde an die Ministerien zurückgegeben. Implizit erwartete man, dass die Kombinate wenigstens in Teilbereichen eine Übererfüllung der Planaufgabe anboten. Die Planentwürfe wurden von der Plankommission gegebenenfalls korrigiert, zusammengefasst und dem Ministerrat zum Beschluss vorgelegt. Dieser Planungsprozess schloss eine Menge weitreichender Überlegungen ein: Wollte man z. B. eine Halbleiterfabrikation aufbauen, dann mussten dafür vorher Baustoffe und Ausrüstungsgegenstände vorhanden sein – genauso wie die zu ihrer Herstellung notwendigen Produktionsmittel. Und damit nicht genug: Wollte man nicht riskieren, dass die Produktivität großen Schwankungen unterlag, musste auch die Ausbildung der späteren TechnikerInnen, MedizinerInnen, LehrerInnen usw. von langer Hand geplant werden.
In einem Band über die DDR, herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung, kann man nachlesen, dass eine solche Planwirtschaft vielleicht geeignet sei, »Stahlwerke aus dem Boden zu stampfen, mit einfachsten technischen Mitteln Staudämme zu errichten und Kanäle durch die Wüste zu ziehen«, aber nicht um »eine moderne Volkswirtschaft zu regulieren«. Vgl. Stefan Wolle, Aufbruch in die Stagnation. Die DDR in den Sechzigerjahren. Bonn 2005, 52. Das ist ebenso dumm wie bösartig: Als »der Russe« 1957 den ersten Satelliten und 1961 den ersten Menschen ins All schoss – da gab es einen Schock in der kapitalistischen Welt: Die UdSSR hatte ganz offensichtlich technologisch aufgeschlossen. Nein – die Planwirtschaft funktionierte über mehrere Jahrzehnte halbwegs, und wenn man sich die Frage stellt, was aus der Geschichte des Realsozialismus zu lernen wäre, dann gehört dazu jedenfalls nicht, dass eine geplante Ökonomie nicht möglich sei. Der Realsozialismus scheiterte vielmehr an einem Maßstab, der erstens kein vernünftiger war und der sich zweitens nur unter ganz bestimmten Bedingungen geltend machte: an der Ausrichtung auf die kapitalistische Konkurrenz.
In den gängigen bürgerlichen Veröffentlichungen über die Wirtschaft der DDR ist scheinbar klar, was deren »Scheitern« ausmachte: Sie sei nicht ausreichend produktiv gewesen, diese Ökonomie. Ein Kriterium, das innerhalb der kapitalistischen Konkurrenz einleuchtet. Aber: Die RealsozialistInnen waren doch gerade angetreten, zentrale Bestandteile dieser kapitalistischen »Logik« außer Kraft zu setzen. Was soll »nicht ausreichend produktiv« in einer Ökonomie heißen, die sich vor allem die Bedürfnisbefriedigung der Bevölkerung auf ihre Fahnen geschrieben hatte? Weder mussten nach 1945 im Realsozialismus Leute verhungern, noch stagnierte die Produktivkraft – sodass man in einer kommunistischen Gesellschaft höchstens hätte sagen können: Schade, dass wir im Moment nicht noch weniger arbeiten können. Eine Krise wäre das noch nicht.
Es gibt vier wesentliche Gründe dafür, dass die Produktivkraftsteigerung im Realsozialismus eine existenzielle Bedeutung hatte: Erstens war die materielle Not sowohl 1917 als auch 1945 so drängend, dass die wirtschaftlichen Maßnahmen der RealsozialistInnen in vielen Bereichen dem Zweck dienten, einen unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch der Infrastruktur und womöglich politische Unruhen zu vermeiden. Jedes Mittel, das den Bestand der Herrschaft erst einmal sicherte, war willkommen. Dazu kam die militärische Bedrohung; auch Kriege werden mit Produktionsmitteln gewonnen.
Zweitens gehörte es zu den Grundversprechen realsozialistischer Herrschaft, dass die Werktätigen dort mehr und Besseres zu konsumieren hätten als die ArbeiterInnen im Kapitalismus. Das war zwar ein reduziertes Verständnis von gutem Leben, aber falsch war es nicht. Das Eingeständnis, dass man im Lebensniveau vom Kapitalismus überholt werde, hätte (und hat) die Legitimation des Realsozialismus beschädigt.
Um ein völliges Zusammenbrechen des Transportwesens zu verhindern, bestellte Russland schon vor 1921 Tausende von Lokomotiven im kapitalistischen Ausland. Und auch später sollten über den Weltmarkt dringend benötigte Güter beschafft werden. Also musste man eigene Produkte exportieren, um Geld einzunehmen. Das aber funktionierte nur, wenn die Produktivkraftentwicklung – dritter Grund für ihre große Relevanz – nicht längerfristig hinter den kapitalistischen Ländern zurückblieb. Dies bedeutete aber: Ausrichtung möglichst aller Bereiche der gesellschaftlichen Produktion auf Maßstäbe wie »Kosteneffizienz« und »wirtschaftliche Rechnungsführung«.
Für das Scheitern des Realsozialismus reichte es in dieser Konstellation schon aus, in der Produktivkraft nur wenige Prozent hinter dem kapitalistischen Ausland herzuhinken. Ein Produkt, das in einer Planwirtschaft vielleicht verbesserbar (was ist das nicht?), aber brauchbar gewesen wäre, konnte auf dem Weltmarkt bloßer Müll sein. Jeder Planungsfehler, der im Kommunismus Thema irgendeiner Verbesserungsrunde sein könnte, drohte sofort einen Mangel an dringend benötigten Devisen auszulösen. Und jeder Versuch, die eigene Weltmarktfähigkeit durch die Verbesserung der Exportindustrie zu erhöhen, verstärkte nur die Ausrichtung auf den kapitalistischen Markt.
Viertens gehörte es zum Selbstverständnis der sozialdemokratisch-kommunistischen Traditionslinie, dass die Produktivkraft im Sozialismus höher sein werde, sein müsse, als im Kapitalismus. Die Zuversicht, in der Produktivkraftentwicklung überlegen zu sein, ist das Spiegelbild einer mangelhaften Kapitalismuskritik: keine »Marktanarchie« mehr, kein Zwang zum imperialistischen Kriegstreiben, keine Monopole, die den technischen Fortschritt verhindern – ohne diese »Widersprüche« des »faulenden« Kapitalismus sahen sich die RealsozialistInnen auf der sicheren Seite.
Dieser Auffassung sind viele Linke noch heute und glauben, sich um bestimmte Fragen deshalb gar nicht kümmern zu müssen. Um alle Fragen nämlich, die mit der Verteilung von knappen Gütern und mit daraus resultierenden Interessengegensätzen im Kommunismus zu tun haben. Selbstverständlich gibt es im Kommunismus Faktoren, die die Produktivität steigern. Ihnen stehen jedoch in einer längeren Übergangszeit andere Faktoren gegenüber: die Schwierigkeiten einer völlig neu zu organisierenden Produktion, eine abnehmende Intensität der Arbeit, die nun von Leuten getan wird, denen nicht mehr die Angst vor Kündigung und nachfolgendem Elend im Nacken sitzt, der Entschluss, vor ökonomischen Entscheidungen all jene zu Wort kommen zu lassen, die von ihnen betroffen sind. Dass die Produktivität sich im Kommunismus schneller entwickeln wird als im Kapitalismus, ist auf dieser Grundlage nicht zwingend zu begründen – keine gute Voraussetzung zur Konkurrenz mit dem Kapitalismus.
Die Entscheidung der RealsozialistInnen sich in dieser Weise auf den Weltmarkt zu begeben, war also falsch. Gleichzeitig kann man jedoch nicht feststellen, ob ihre Herrschaft erfolgreicher gewesen wäre, wenn sie in den Jahren 1921 oder 1945 anders entschieden hätten. Für die Zukunft aber sind zumindest in dieser Frage Trotzki und andere ins Recht gesetzt: Eine Revolution von Bestand muss Weltrevolution sein, also zumindest die produktivkraftstarken kapitalistischen Zentren einschließen.
Immer wieder versuchten die realsozialistischen Führungen, zur Förderung der Produktion »Werte«, »Preise«, »ökonomische Hebel« wirksam werden zu lassen, im weitesten Sinne Marktelemente, die die gewünschten Effekte »automatisch«, also mithilfe des ökonomischen Eigeninteresses von Betriebs- und Kombinatsleitungen hervorbringen sollten. Es geht das Gerücht um, dass die RealsozialistInnen damit nur das realisiert hätten, was sie schon vorher im Kopf hatten. Ganz so ist das nicht. 1921, als eine akute Hungerkrise drohte, ließ die sowjetische Führung kapitalistisches Wirtschaften teilweise wieder zu. Lenin allerdings wusste, dass diese Neue Ökonomische Politik (NÖP), »vom Standpunkt unserer Linie […] nur als eine sehr schwere Niederlage und ein Rückzug bezeichnet werden kann«. Vgl. Lenin, Die Neue Ökonomische Politik und die Aufgaben der Ausschüsse für politisch-kulturelle Aufklärung. Referat auf dem II. Gesamtrussischen Kongress der Auschüsse für politisch-kulturelle Aufklärung, Dez. 1921. Aber: Der sowjetischen Führung fiel schlicht nichts Besseres ein. Lenins Eingeständnis war angesichts der linken »Arbeiteropposition« in der Partei schon eine Menge: ihr wollte er bestimmt keine Munition liefern.
Die Rechnung in »Geld«, die Zahlung von Löhnen usw. wurde auch nach dem Ende der NÖP 1927 beibehalten. Die damit verbundene »Anwendung des Wertgesetzes im Sozialismus« sollte man allerdings nicht wörtlich nehmen. Erstens sollten Geld und Preisausdrücke ein Instrument sein, um Anordnungen an die Betriebe in einer einheitlichen Kennziffer geben und überprüfen zu können; zweitens waren sie ein Versuch, den Druck der Weltmarktpreise bis zu den Produktionsstätten wirken zu lassen – und drittens konnte das gar nicht funktionieren. Doch hie und da sollte im Realsozialismus auch ernst gemacht werden mit dem Gerede von Werten und Preisen. Am weitesten ging wohl die DDR unter Ulbricht, wo seit dem Ende der fünfziger Jahre zunehmend Probleme auftaten. Immer größere Teile des gesellschaftlichen Produkts wurden reinvestiert, der Produktenausstoß wuchs aber nicht entsprechend. Die Betriebe versuchten zudem, Mengenvorgaben der Planbehörden mit Qualitätsverschlechterungen zu umgehen. Ab 1963 wurde in mehreren Stufen das Neue Ökonomische System (NÖS) eingeführt. Es sollte aus den Volkseigenen Betrieben etwas machen, was man heute vielleicht Profitcenter nennen würde: Die Betriebe sollten über eigene Mittel verfügen dürfen und selbstständig Austauschbeziehungen eingehen; Investitionen sollten nur noch zum Teil aus Staatsmitteln und überwiegend aus dem Gewinn des Betriebs finanziert werden. Wenn man ein Beispiel dafür sucht, wie Marktmechanismen in kürzester Zeit eine gesamtgesellschaftliche Planung ad absurdum führen, sollte man die DDR zu dieser Zeit analysieren. Branchen entwickelten sich zunehmend disproportional, und das »Eigeninteresse« der Betriebsleitungen ließ diese eine ziemliche Interesselosigkeit an der Planerfüllung entdecken. Honecker schränkte nach 1971 diese Marktelemente wieder stark ein, die übrigen blieben ein Störfaktor im gesellschaftlichen Plan.
Gerade die falschen Elemente der marxistisch-leninistischen Tradition: die mangelhafte Kapitalismuskritik, das Vertrauen auf die Planbarkeit des ökonomischen Markterfolgs und der historische Materialismus waren am besten geeignet, eine Politik zu rechtfertigen, die den realsozialistischen Führungen zum Machterhalt am geeignetsten zu sein schien. Ein Hauptmotiv dabei war die Kontrolle über eine Bevölkerung, der die Führung nie vertrauen konnte. Zwar waren die ökonomischen Entscheidungen der realsozialistischen Führungen kein Resultat geistiger Umnachtung, sondern Reaktion auf tatsächliche Probleme. Doch haben sich die RealsozialistInnen auch dort immer für die »Sicherheit« und gegen die Debatte entschieden, wo gerade das die Gegensätze zwischen Führung und Bevölkerung noch verstärkt hat. Dass es zur Befriedung durch Gewalt und Westimporte wirklich nie eine Alternative gegeben hat, ist zu bezweifeln.
Ein schlimmes Wort mit D
Unwillige Kleinbauern, nicht zu ersetzende konservative Ingenieure und massenhaft Leute, die eben noch Faschisten waren – die realsozialistischen Führungen wussten, dass sie ihrer Bevölkerung, ja sogar ihren Parteimitgliedern, nicht trauen konnten. Das war nicht nur eine schlechte Voraussetzung für eine offene Diskussion gesellschaftlicher Ziele, sondern führte schon die oben erwähnte Plandiskussion in der DDR ad absurdum.
Vieles, was den Realsozialismus ausgemacht hat, ist hierdurch entscheidend beeinflusst worden. Das gilt für die »ökonomischen Hebel«, das gilt vor allem auch für das Fraktionsverbot in der kommunistischen Partei Russlands, beschlossen vom X. Parteitag 1921 und schon wenige Jahre später brachial gegen alle Kritiker der Parteiführung um Stalin angewendet. Das gilt für all die Ausschlüsse, die Ausweisungen, die großen Morde und die ganzen fiesen kleinen Schikanen, mit denen Opposition mundtot gemacht werden sollte.
Es sagt sich leicht: dass man mit einer Minderheit von KommunistInnen natürlich keine vernünftige Revolution machen kann. Weil diese dann permanent bedroht bliebe und der notwendige Unterdrückungsapparat einer »befreiten Gesellschaft« ein äußerst hässliches Gesicht verleihen würde. Das ist richtig, wird aber absurd, wenn man daraus die Konsequenz zieht, dass man vor der Revolution einfach alle überzeugen muss, um dann mit Herrschaft nichts mehr zu tun zu haben. Sicher, was kann man schon dagegen einwenden, auf die Kraft des Arguments zu vertrauen – es bleibt uns ja auch gar nichts anderes übrig. Doch man muss zugleich davon ausgehen, dass auch nach einer vernünftigeren Revolution als den bisherigen Leute in die Gesellschaft zu integrieren sind, die erst noch (und immer wieder) überzeugt werden müssen.
In der kapitalistischen Gesellschaft steht der Erkenntnis über sie mehr im Weg als ein bisschen Denkfaulheit und die fehlende Berührung mit dem letzten, restlos aufklärenden Flugblatt »Was einer für eine Meinung hat, wird als sein Besitz zu einem Bestandstück seiner Person, und was die Meinung entkräftet, wird vom Unbewussten und Vorbewussten registriert, als werde ihm selber geschadet.« Theodor W. Adorno, Meinung Wahn Gesellschaft. In: Ders., Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt a.M. 1963, 148.. Da werden daher zum einen diejenigen sein, die man vor der Revolution nicht mehr rechtzeitig überzeugen konnte, die aber – und sei es durch ihre Stellung im Produktionsprozess – nun einmal zur Gesellschaft gehören und auf deren Mitarbeit man angewiesen ist.
Zum Anderen wird der gesellschaftliche Prozess im Kommunismus selbst Interessengegensätze hervorbringen, die es nicht wahrscheinlich machen, dass einfach alle »aus Gewohnheit« wie Lenin in Staat und Revolution 1917 schrieb, das Notwendige tun. Es gibt keinen wissenschaftlichen Kommunismus in dem Sinne, dass sich die Frage, wo welche Produktionsanlage stehen soll, in jedem Fall allein nach Kriterien der Bodenbeschaffenheit und Transportweglänge entscheiden ließe. Oder in dem Sinne, dass in einer Fabrik objektiv »richtig« zu entscheiden wäre, ob weniger gearbeitet oder mehr produziert werden soll. Dies sind vielmehr Fragen, die für Einzelne spürbare Konsequenzen haben, die aber dennoch nicht einfach von Einzelnen individuell entschieden werden dürften. Eine Technikerin, die weniger arbeiten möchte, kann sich, wenn die Mehrheit ihrer FabrikgenossInnen das anders sieht, entweder dieser Mehrheit beugen (wenigstens solange, bis eine Ersatzkraft vorhanden ist) – oder sie kann einfach nach Hause gehen und so stundenweise die Produktion lahmlegen – wie sie sich auch entscheidet: ein Moment von Gewalt, sich selbst oder anderen gegenüber, ist nicht zu vermeiden. Ob man solche Interessenskonflikte und Gegensätze zugesteht oder nicht, ist eine für die Zukunft kommunistischer Gesellschaftsentwürfe entscheidende Frage. Sie schließt ein, ob man diese Interessensgegensätze bewusst gestaltet, oder ob man das Ergebnis dem Zufall oder besser: den Machtmitteln (Fähigkeiten, Verhandlungsgeschick, Körperkraft) der Einzelnen überlässt. Beides, Ressentiments der NichtkommunistInnen, die nur die praktische Erfahrung im Kommunismus widerlegen kann, und »selbst gemachte« Interessengegensätze, erfordert Institutionen in denen Interessen artikuliert und ausgeglichen werden können.
Wir werden also so etwas wie Demokratie im Kommunismus (mit)planen müssen. Wer nun sagt, dass das doch ein Schmarrn sei, weil Demokratie nichts anderes heiße als abstrakt die Identität von Volkswillen und Staatsgewalt zu verwirklichen, kann es ja anders nennen. Aber eine Gesellschaft, in der auch Stotterer, Schüchterne und Leute, die wegen ihrer Gebrechlichkeit zuhause bleiben müssen, tatsächlich mitbestimmen dürfen, stellt sich nicht naturwüchsig mit dem Wegfall des Klassenantagonismus her.
Bis zum Ende des Realsozialismus war der Demokratische Zentralismus das offizielle Organisationsprinzip der leninistischen Staatsparteien. Alle Gremien sollten »von unten nach oben« gewählt werden, im Gegenzug waren die leitenden Gremien verpflichtet, ausführlich Rechenschaft abzulegen; gleichzeitig mussten die unteren Gremien den von oben kommenden Anordnungen bedingungslos Folge leisten. Dass selbst dieses autoritäre Prinzip nur in pervertierter Form realisiert wurde, hat etwas zu tun mit Abhängigkeiten innerhalb der Hierarchie und dem Wissensvorsprung der Leitung. Wenn man davon ausgehen muss, dass im Kommunismus nicht plötzlich allgemeine Interessenidentität herrscht und die Leitenden nicht wie gute Philosophenkönige von vornherein im Sinne aller entscheiden, dann muss man das bewusst ausgleichen, durch Kontroll- und Kritikaufgaben von eigens dafür gebildeter Gremien. Korschs Gedanke einer Doppelstruktur von lokal gebildeten Räten und Produzentenräten geht in diese Richtung und ist immerhin ein Anfang.
Konsequenzen aus all dem ergeben sich nicht erst für einen imaginären Tag X plus eins. Es ist Unsinn zu glauben, dass die Vorbereitung einer Revolution sauber in Phasen aufgeteilt werden könne: Jetzt klandestine Kleingruppen betreiben, in denen derjenige das Flugblatt schreibt, der auf dem Plenum die größte Ausdauer bewiesen hat und als Letzter nach Hause gegangen ist – und dann, wenn die Organisation irgendwann »viel größer« geworden ist, nachvollziehbare Entscheidungen und Verantwortlichkeiten garantieren. Oder: heute kulturell oder intellektuell exklusiven Avantgardestil pflegen, aber für später ein politisches Ziel verfolgen, bei dem irgendwann in jeder Fabrik aufgeklärte GenossInnen, als Rat organisiert, die politischen und ökonomischen Entscheidungen treffen. Die Organisation, die die Revolution vorbereitet, wird den Laden auch hinterher organisieren müssen. Und die (Verzeihung) Kader, die heute ihr Handwerkszeug lernen und ausprobieren, werden vielleicht die sein, die in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren, wer weiß das schon, ein ganz anderes Betätigungsfeld haben werden.
~Von Rüdiger Mats. Der Autor lebt in Leipzig und arbeitet mit verschiedenen linksradikalen Gruppen zusammen.