»Bei Kapitalverbrechern oder Personen, die eine regelrechte Verbrecherlaufbahn eingeschlagen haben, findet sich fast immer ein hirnbiologischer Hintergrund«. Seit rund 25 Jahren stimmen Erklärungsansätze wie die des Leiters des Instituts für Physiologische Psychologie der Universität Bielefeld Hans J. Markowitsch, merklich lauter in den kaum noch zu überhörenden Chor neurowissenschaftlicher Interpretationen über menschliche Devianz ein. Ansatz der unter dem modisch verbrämten Titel auftretenden Neurokriminologie ist es, Ursachen eines als delinquent etikettierten Verhaltens sogenannten kognitiven Fehlfunktionen und Defiziten zu suchen. Mit den Methoden der Neurowissenschaften könnten in den VerbrecherInnengehirnen, so die Mutmaßungen der NeurokriminologInnen, fehlende emotionale Sensibilität, verkümmerte Empathie, Verantwortungslosigkeit und Aggressivität über den Vergleich mit dem »Normalhirn« aufgeschlüsselt werden. Moralisches, ethisches und emotionales Empfinden und Handeln, so ließe sich die Hypothese zugespitzt auflösen, korreliert unmittelbar mit der Aktivität spezifischer Hirnregionen oder anders gefasst, kriminelle Energien und Handlungen entspringen nicht der gesellschaftlichen Reichtumsverteilung, sondern sind biologisch zu begründen.
Mag die Neurokriminologie dem einen oder der anderen als überzogene, nicht repräsentative Obskurität aus dem Arsenal der Neurowissenschaften erscheinen. So kann ohne Umschweife auf die ungezählten (populär-)wissenschaftlichen Felder verwiesen werden, in denen Empathiefähigkeit, Kaufentscheidungen, Alkoholismus und Drogensucht, Kreativität, Geschlecht und sexuelle Orientierung oder Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) auf die Funktion oder Dysfunktion des Hirns zurückgeführt werden.
Dies bedeutet eine immer stärker ausgreifende Biologisierung des Subjekts. Zeitgleich vollzieht sich die umstands- und kritiklose Übernahme der Prämissen und Setzungen der Neurowissenschaften in die unterschiedlichen Bereiche des Alltags. Vor diesem Hintergrund fragt der aktuelle Schwerpunkt der Phase 2 nach dem vorherrschenden Bedürfnis, den Menschen und sein Verhalten weniger über sozio-ökonomische und kulturelle Einflüsse, sondern vornehmlich über die Abfolge neuronaler Prozesse begreifen zu wollen. Analog dazu kreisen die vorliegenden Beiträge um die ideologischen Grundannahmen einer Wissenschaft, deren Absage an ein selbstbewusstes und autonomes Subjekt notwendig eine Absage an das Vorhaben gesellschaftlicher Veränderung nach sich zieht und die dem bestehenden Status quo zwangsläufig affirmieren muss.
Auf die Frage, ob die Neurowissenschaften nach wie vor auf einer Welle des medialen und akademischen Erfolges schwimmen, treten Wahrnehmung und Einschätzung merklich auseinander. Während einige die Popularität und die Auswirkungen ihrer – wenn auch nur vermeintlichen – wissenschaftlichen Erkenntnisse über die verschiedenen Forschungsdisziplinen hinaus als gegebenes Faktum hervorheben. Konstatieren andere mit Verweis auf die mittlerweile breit rezipierten Kritiken politischer und fachlicher Provenienz wenn nicht den Niedergang, so doch zumindest eine spürbare Unsicherheit gegenüber der einstmals hofierten Königswissenschaft.
Unabhängig davon, in welche Richtung die gestellte Frage aufgelöst wird, herrscht angesichts der Schwemme an Publikationen, Konferenzen und Beiträgen von ExpertInnen allenthalben Einigkeit über die Gegenwärtigkeit des medial wie wissenschaftlich erzeugten »Neurohypes«.
Wie viele andere Bereiche profitieren auch die Neurowissenschaften von der rasanten Weiterentwicklung der Technik im Allgemeinen und der Computer im Besonderen. Computer sind in der Lage immer größere Datenmengen zu prozessieren und erlauben die zeitsparende, digitale Datenakquise sowie schnellere Analyseverfahren. Zeitgleich wurden die für die bildgebenden Verfahren (auch bekannt als Neuroimaging) notwendigen Geräte messgenauer und bedienungsfreundlicher. Bildgebende Verfahren erlauben die Darstellung von Struktur und/oder Aktivität aus dem Köperinneren – in diesem Fall dem Gehirn. Das Elektroenzephalogramm (EEG) beispielweise, das bereits 1924 entwickelt wurde, zeichnet die synchrone elektrische Aktivität vieler Neuronen innerhalb eines bestimmten Zeitraumes auf; dafür wurden vor der computergestützten Datensammlung zahlreiche Datenpunkte mithilfe eines Messschreibers auf einer zeitlichen Achse abgetragen. Mehrere Meter Papier waren hierfür notwendig. Andere bildgebende Verfahren wie die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT oder fMRI in englischer Abkürzung) registriert die indirekten Konsequenzen neuronaler Aktivitäten, das heißt, sie erfassen Regionen mit erhöhtem Blutfluss, der mit neuronaler Aktivität assoziiert wird. Diese Messdaten werden dann verschiedenen Analyse- und Umrechnungsverfahren unterzogen, ehe sie schließlich die Übertragung der Daten in zwei- oder dreidimensionale Bilder ermöglichen.
Dass ein Großteil der in den Neurowissenschaften generierten Ergebnisse kaum über eine verifizierbare Grundlage verfügt, fochten die ForscherInnen, die Adepten aus der Pharma- und Werbewirtschaft, wie auch einen Teil der Journaille kaum weiter an. Dabei finden sich für den aktuellen Rummel durchaus Vorläufer, die zur Zurückhaltung der heute als bahnbrechend verkauften Erkenntnisse mahnen sollten. Der italienische Gerichtsmediziner Cesare Lombroso etwa führte im ausgehenden 19. Jahrhundert die Tradition der Phrenologie fort. Diese Lehre schrieb verschiedenen Hirnarealen bestimmte Funktionen und Eigenschaften zu; geistige Fähigkeiten wurden mit einer speziellen Formung oder Ausprägung des Schädels assoziiert. Mit der These den »geborenen Verbrecher« anhand seiner physischen Konstitution identifizieren zu können, reproduzierte Lombroso diese Fehleinschätzungen in der sogenannten Kriminalanthropologie. Soziale, ökonomische oder kulturelle Sozialisationsfaktoren des/der jeweiligen TäterIn traten bei ihm in der Abschätzung krimineller Anfälligkeit hinter physisch-biologistische Erklärungsansätze – Fingerlänge, Schädelvolumen, Ohrenform etc. – zurück. Mit dem Primat der biologisch-anatomischen Disposition trug Lombroso wesentlich zu den (sozial-)rassistischen Paradigmen der damaligen Zeit bei.
Mögen die Befunde von Lombroso heute mit einem Verweis auf ihre historische Bedingtheit leichtfertig als Anachronismus zurückgewiesen werden, so genügt ein Blick in die jüngere Vergangenheit um die Aktualität deterministisch-biologistischer Erklärungsmuster in den Biowissenschaften zu belegen. In den 1990er Jahren betrat das international vernetzte Human Genome Project (HGP) mit dem Postulat die Bühne die genetische Grundstruktur des Menschen dechiffrieren zu können und damit den universellen Schlüssel zur Erkenntnis von Krankheit, Verhalten, Intelligenz, Sexualität etc. und deren genetischen Dispositionen in den Händen zu halten. Auch damals kursierten Thesen einer belegten »genetischen Programmierung«, eines »genetischen Determinismus«, mit dessen Erkenntnis in ein neues wissenschaftliches Zeitalter aufgebrochen werden würde. Und obschon das HGP einige Lücken auf dem Feld der Genetik zu schließen in der Lage war, überwogen am Ende die kritischen Einschätzungen, in denen anstelle eines monokausalen Erklärungsansatzes eher mit Begrifflichkeiten wie Multikausalität, Vernetztheit und Komplexität operiert wurde.
Im 21. Jahrhundert nun knüpfen die Neurowissenschaften mit moderner Technologie an die skizzierten biologistischen respektive genetischen Prämissen an, indem sie das Hirn zum neuen Universalschlüssel für das Verständnis von Mensch und menschlichem Verhalten stilisieren. In Anbetracht des alle gesellschaftlichen Felder durchziehenden Erfolges stellt sich die Frage nach den ideologischen Grundannahmen der Neurowissenschaften und dem sich daraus ergebenden Bild für Individuum und Gesellschaft. Denn auch wenn sich ob der verschiedenartigen Ausprägungen nur schwerlich im pauschalisierenden Plural von den Neurowissenschaften sprechen lässt – im Rahmen der medizinischen Forschung beispielsweise wichtige Erkenntnisse über Krankheiten und deren Heilungsmöglichkeiten hervorgebracht werden –, weisen die ihnen gemeinhin zugrunde liegenden Hypothesen eine ideologische Tendenz auf. Diese lässt sich mit der Zurückweisung der Idee eines selbstbestimmten Individuums zuspitzen. Ihr Ausgangspunkt im Bemühen menschliches Denken und menschliche Handlungen nachzuvollziehen, ist ein in vielen Fällen vollkommen undialektischer Gebrauch des Naturbegriffs. Dieser wird nicht als Spannungsfeld im Widerstreit liegender biologischer und gesellschaftlicher Einflussfaktoren verstanden, sondern vollständig zugunsten einer naturhaften Überlegenheit aufgelöst. Konsequenz dieser Setzung ist die Festschreibung menschlichen Denkens als ein von der Natur determinierter Prozess, dem das Individuum und ergo auch die Gesellschaft nicht entfliehen können. Der/die Einzelne ist in dieser Anordnung nicht mehr als Subjekt für sein Handeln verantwortlich, sondern maßgeblich von biologischen Dispositionen geleitet. Den vielfach zitierten freien Willen als Signum eines durch Erfahrung und (Selbst-)Reflexion gewordenen Individuums weisen viele NeurowissenschaftlerInnen zwar nicht kategorisch zurück, nur sei er gegenüber den neurophysiologischen Prozessen im Gehirn begrenzt einflussreich.
Übertragen auf die Gestaltbarkeit von Gesellschaft bedeuten die Folgerungen der Neurowissenschaften die notwendige Festschreibung des Bestehenden als nicht hintergehbaren Beweis der menschlichen Natur. Gesellschaftliche Umwälzungen im Sinne einer aus der kritischen Reflexion auf die Verhältnisse hervorgehenden, spontanen oder überlegten Bewegung, stehen den Paradigmen der Neurowissenschaften diametral entgegen, weil sie die bestehenden Verhältnisse a priori als naturhafte und damit unveränderliche hypostasieren müssen. Degradiert zu einem passiven Betrachter der gesellschaftlichen Entwicklung, ist für die Entfaltung des Individuums abseits seiner Natur nicht viel Raum.
Trotz oder vermutlich gerade wegen dieser Prämissen reflektieren die Neurowissenschaften einen, wenn nicht den erfolgreichen Trend (populär-)wissenschaftlicher Deutungsangebote über die Verfasstheit des Menschen. Die Bilder des fMRT sollen dem Betrachter – unabhängig der originären Zusammenhänge – wissenschaftlich verifizierte Faktizität, Kausalitäten und Wechselwirkungen menschlicher Denk- bzw. Handlungsverläufe suggerieren. Der mediale Erfolg dieser vermeintlich kristallklaren, objektiven Sachverhalte, in dem ökonomische Antagonismen, individuelle Erfahrungen und soziale Prägungen nur wenig Berücksichtigung erfahren, weist eine gesellschaftliche Tendenz, mithin ein gesellschaftliches Bedürfnis zur positivistischen Vereindeutigung vom Menschen und seiner Umwelt aus. Die mit den bildgebenden Verfahren vorgetäuschte Kausalität von Innen und Außen, von Ursache und Wirkung tilgt in der vorgetragenen Apodiktik jedweden Zweifel, jede Unklarheit und Unbestimmtheit. Gesellschaft und Individuum – nimmt man den selbst erklärten Anspruch der Neurowissenschaften ernst – sollen von den Schimären metaphysischer, widersprüchlicher und dialektischer Uneindeutigkeiten zugunsten des Offensichtlichen und Zweifellosen erlöst werden.
Weil insbesondere die bildgebenden Verfahren den Neurowissenschaften zum Durchbruch verholfen haben, wendet sich Hanna Fitsch in Ihrem Beitrag der Methode und der Validität dieser Verfahren zu. Sie skizziert den selbstreferenziellen Forschungsrahmen der Hirnforschung entlang seiner historischen und methodologischen Voraussetzungen. So eröffnen die neurowissenschaftlichen Methoden zwar vermittels moderner technologischer Möglichkeiten neue visuelle Perspektiven auf die Aktivitäten des Hirns; scheitern jedoch kläglich an dem Anspruch neue Erklärungsansätze für menschliches Handeln zu liefern. Eine der größten Kontroversen hat in diesem Zusammenhang wohl die Diskussion um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des freien Willens ausgelöst. Francisco Gomez Rieser und Christine Zunke kritisieren den Freiheitsbegriff, der den Neurowissenschaften zugrunde liegt; deren Verständnis des Willens auf einem innerhalb kapitalistischer Zwänge entstandenen Verständnis von Freiheit und Autonomie basiere. Damit würden beide, Determinismus des Kapitalismus und des Willens, naturalisiert und dem Individuum die Last der freien Entscheidung in unfreien Verhältnissen abgenommen. Im Gegensatz dazu erkennt Christoph Schneider keine Entlastungsfunktion für das Subjekt, zumindest nicht in Bezug auf Verantwortung für das Optimieren des Selbst. Schneider glaubt, dass die Diskussionen um die Unfreiheit und Freiheit des Ich eben nicht zu einer Revision des Menschenbildes geführt hätten. Entlastung gebe es allein für Pathologisierungen, was er am Beispiel des Strafrechts zeigt.
Auch Stine Meyer will diese entlastende Funktion durch die Resultate der Hirnforschung nicht erkennen, im Gegenteil. Am Beispiel des Konzepts »Aufmerksamkeit« zeigt sie die historische Entstehung einer neuen subjektiven Wahrnehmung vor dem Hintergrund einer rapide urbanisierten, technologisierten Umwelt auf. Wo ein Anpassungsprozess sich nicht verselbstständigt, wird er zur Notwendigkeit ausgerufen, womit unter anderem die Weichen für die gegenwärtigen Wahrnehmungs- und Leistungsimperative gestellt sind. Beispielhaft dafür sind Pathologisierungen von sogenannten kognitiven Defiziten, die in diesem Fall aus »Varianten« von Aufmerksamkeit und Unaufmerksamkeit resultieren, die nicht der Norm entsprechen.
Judith Heckel und Christine Kirchhoff untersuchen die Methoden der Neuropsychologie, einer Tochter der Neurowissenschaft, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Legitimationsproblem, das die Psychoanalyse als Metapsychologie hat, zu lösen. Problematisch erscheint den Autorinnen, dass die Neuropsychoanalyse die psychoanalytische Theorie nicht in ihrer Komplexität übernimmt, sondern lediglich entkontextualisierte Fragmente untersucht. Diesen Fragmenten soll im Hirn eine Entsprechung nachgewiesen werden, um diese dann zum »Ursprung psychischer Phänomene« zu erklären und die Psychoanalyse im Gewand einer nun endlich empirischen Wissenschaft erscheinen zu lassen. Heckel und Kirchhoff sehen in diesem Akt, neben dem offensichtlichen Methodenfehler, einen Versuch der Abwehr alles Metapsychologischen und insbesondere des Unbewussten.
Auf den Fehler der Neurowissenschaften, die Grenzen der Empirie nicht anzuerkennen und den Menschen auf sein Gehirn zu reduzieren, weist auch Felix Hasler hin. Im Interview erläutert er, warum dieser Neuroessenzialismus den Neurowissenschaften letztendlich ein Glaubwürdigkeitsproblem eingehandelt hat. Hasler führt damit auf die eingangs aufgeworfenen Schwierigkeiten zurück: Die Biologisierung des Subjekts in diversen gesellschaftsrelevanten Forschungsbereichen der Hirnforschung negiert nicht nur tendenziell Autonomie, Zurechnungsfähigkeit und Verantwortlichkeit einzelner Individuen, sondern stellt die politische Gestaltbarkeit von Gesellschaft infrage. Was die hier abgedruckten Artikel deshalb gleichermaßen teilen, ist das Bekräftigen des Zusammenspiels von Gesellschaft und Individuum. So don’t blame it on the brain.
Phase2, Leipzig