Der Kapitalismus ist nicht ungerecht. Der Kapitalismus ist grausam. Nicht erst seit der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise produziert er weltweit unvorstellbares Elend. Verhungernde Kinder und unnötig leidende Kranke lassen die alltäglichen Zumutungen des kapitalistischen Alltags hier fast als Luxusprobleme erscheinen, aber die soziale Unsicherheit produziert auch diesseits von Obdachlosigkeit und Armenspeisung, die in der BRD zur Normalität gehören, die Anpassung an einen scheinbar endlos steigenden Leistungsdruck bis zum burnout oder karoshi – dem Tod durch Arbeit.
Das Aufstehen gegen Grausamkeit und Leid – machen wir uns da nichts vor – sind Motive jeder linksradikalen Kritik und Politik. Wo »Grausamkeit« und »Leid« im linksradikalen Diskurs als moralische Kategorien zurückgewiesen werden, geschieht das nicht, weil sich mit ihnen arrangiert werden soll, sondern um ihre gesellschaftlichen Ursachen zu betonen. Grausamkeit und Leid sind keine Fehler im kapitalistischen System, sondern die kapitalen Fehler des Systems. Doch mit dieser Diagnose ist die radikale Linke bei genau jenem Dilemma angekommen, das jede auf Erlösung wartende Bewegung kennt: Was tun angesichts von Grausamkeit und Leid, bevor die Überwindung des Kapitalismus herbeigeführt werden kann?
Die bürgerliche Gesellschaft hat für solche Seelennöte längst die passenden Angebote entwickelt. Wer individuelles Elend bekämpfen will, kann sich in ihr nicht nur in der eigenen Freizeit engagieren. Die Hilfsangebote sind vom entferntesten Winkel Afrikas bis zum Jugendtreff im eigenen Ort längst auch mit eigenen Berufsbildern verbunden. Die professionellen HelferInnen kennen nicht nur alle Möglichkeiten des Systems und die effektivsten Methoden vom Brunnenbau bis zur Suchtbekämpfung, sie verfügen sogar über Ressourcen, die es den Helfenden ermöglichen, selbst von ihrer Hilfe zu leben. Kann es verwundern, dass sich angesichts dieser Lage ehemalige Antifas in Regierungsprogrammen gegen »Extremismus« wiederfinden, antirassistisch Engagierte in der Flüchtlingssozialarbeit landen, linke AktivistInnen die akademische Hängematte zum Beruf machen und aus Jugendlichen autonomer Zentren ganze Generationen von SozialarbeiterInnen rekrutiert wurden?
Die Kehrseite der professionellen Hilfen für das Elend des Kapitalismus ist die Festlegung der Leidenden auf die Möglichkeiten des Systems, die Fortschreibung ihrer Eingliederung in und Unterwerfung unter die bestehende Gesellschaftsordnung. Was einst damit begann, dass das Proletariat auf das Ziel einer kleinbürgerlichen Existenz eingeschworen wurde, setzt sich heute mit der Hilfe zur Selbsthilfe bei akuter Armut oder Problemen mit Nazis fort.
Jasper Nicolaisen zeichnet diese Entwicklung in »Sozialstaat und Selbstausbeutung« nach, warnt aber vor der nahe liegenden Schlussfolgerung, in den sozialstaatlich organisierten Formen der Daseinsfürsorge nur die Kapitalismus und Staat stabilisierende Elendsverwaltung zu sehen. Es sind die alternativen Positionen, einer liberalistischen Marktideologie im links-alternativen Gewand und des an der Grenze zur Menschenverachtung anzusiedelnden Glaubens an einen positiven Effekt sich weiter verschärfenden Elends, die ihn zu dem Schluss kommen lassen, bis zur Revolution sei nur eine aufgeklärte Position möglich, die auf gesellschaftlicher Solidarität beharrt. Ohne zum einen in den Wahn von Volksgemeinschaft und Nation zu verfallen, oder zum anderen zu glauben, die Appelle an den Sozialstaat könnten jemals die Überwindung des Kapitalismus als Ziel obsolet werden lassen.
Dieses Streben nach dem Bestmöglichen im Falschen scheint mit der reinen marxistischen Lehre zu kollidieren, wie sie etwa Heiner Müller 1987 in einem Interview mit der Zeitschrift Die Zeit vertrat: »Nein, ein Marxist ist kein Wohltäter, sondern freut sich zum Beispiel über den Zuwachs der Kriminalitätsrate, weil sich dadurch die Chancen auf eine Revolution erhöhen. Engels war selig, als in Wuppertal die Zahl der Einbrüche und Diebstähle zunahm. Sie dürfen von einem Kommunisten keine Almosen erwarten.« Heiner Müller, Dichter müssen dumm sein, in: Die Zeit vom 14. August 1987, 30 (online: http://www.zeit.de/1987/34/dichter-muessen-dumm-sein).
Dem hält Walter Schrotfels entgegen: »Armut macht nicht nur wütend, sondern auch borniert.« Sein Text in dieser Ausgabe rekonstruiert die Gründe und Abgründe der Verelendungstheorie, die ihm ganz grundsätzlich zu scheitern scheint: am leider bloß angenommenen automatischen Übergang von einer Kritik schlechter Verhältnisse zu ihrer praktischen Veränderung.
Die Zurückweisung des Kurzschlusses von der Schlechtigkeit der Verhältnisse auf das Streben nach ihrer Veränderung mag zwar für den Ruf nach einer reflektierten Position sprechen, die Verbesserungen im Bestehenden fordert und es trotzdem nicht als die beste aller Möglichkeiten gelten lassen will, aber die Reflexion selbst ist damit noch nicht geleistet. Doris Liebschers Text »Im Prokrustesbett mit dem Verfassungsschutz« zeigt anhand des Beispiels der Antinazipolitik die Grenzen des staatlichen Engagements auf. Es ist dabei kein böser Wille, der verhindert, dass die seit 2001 kontinuierlich durchgeführten Bundesprogramme gegen »Rechtsextremismus« durchschlagende Erfolge zeigen. Vielmehr verhindert die dem staatlichen Handeln eigene Logik, dass die dem Erfolg der Nazibewegung zugrunde liegenden Probleme analysiert und angegangen werden. Die Konsequenz, die Doris Liebscher aus dieser Beobachtung zieht, ist, dass es auch weiterhin darauf ankommen wird, dass Antifas und andere dissidente Gruppen die Defizite im gesellschaftlichen Umgang mit Nazis skandalisieren.
Übertragen auf die Gesamtheit der Zumutungen, die der Kapitalismus zwangsläufig produziert, begründet dieses Argument die Notwendigkeit von Gruppen, die tatsächlich »bis zur Revolution« wollen, um eine Dynamik in Gang zu halten, die dem vom Kapitalismus produzierten Elend tatsächlich etwas entgegensetzt. Für Jörn Schulz wiederholt sich in »Guter Rat ist teuer« an diesem Punkt das Problem einer Bestimmung linksradikaler Politik. Denn was bedeutet es heute noch, revolutionär zu sein? Der Bezug auf das Proletariat jedenfalls, einst Ausweis der revolutionären Haltung, wurde gründlich missverstanden. Statt in die Auflösung der unterdrückten Klasse führte er zu ihrer Vergötzung im Proletkult.
Der Ausweg aus dieser Sackgasse ist bis heute nicht ganz klar, aber die Konzepte der Emanzipation und der partizipativen Demokratie deuten zumindest die Defizite der gescheiterten Sozialismuskonzepte an. Ob dabei die Ansätze für einen »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« tatsächlich in die richtige Richtung weisen, bezweifelt nicht nur Jörn Schulz. Auch Julian Bierwirth ist skeptisch, was die neu ausgetüftelten Sozialismusversionen betrifft. Nicht nur in ihren Schwundstufen, die sich als linke Krisenbewältigungskonzepte der ökologischen Umgestaltung des alten Kapitalismus verschrieben haben, auch in den auf Sozialismus zielenden Theorien einer alternativen Wirtschaftsweise findet er die wesentlichen Elemente des Kapitalismus. In der Konsequenz ist das, was als links und revolutionär angepriesen wird, vom selben Arbeits- und Konkurrenzfetisch geprägt, den Jasper Nicolaisen schon im ersten Text des Schwerpunkts bei den Lifestyle-Linken der »Digitalen Boheme« diagnostizierte.
Bliebe noch der Rückzug aus den praktischen Zusammenhängen ins Reich der reinen Kritik, aus dem heraus sich ein Abschlag auf das gewünschte gute Leben ab und an in einer hedonistischen Party gegönnt wird. Nicht die schlechteste Idee, findet Sebastian Tränkle. Auf den zweiten Blick verlangt die Kritik jedoch Reflexion auch in Bezug aufs Feiern. Wird der Abschlag nämlich fürs Ganze genommen, dann ist auch die Suche nach dem guten Leben nur die Einrichtung in den jämmerlichen Gegebenheiten des Kapitalismus.
~Von Phase 2 Berlin.