Nachdem im Schwerpunkt der vorletzten Ausgabe die Leipziger Redaktion der Phase 2 in den Archiven der Ich-AG wühlte, um den Individualismus als bürgerliches Phänomen zu entlarven, behauptete Thomas Hauke in der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift, der Kommunismus werde das Individuum wohl überwinden müssen. Die Antwort darauf erschien nicht in Phase 2, sondern im Kino. Dort wo der Ort ist, die Konsequenzen sozialer Überlegungen schon vor ihrer Verwirklichung deutlich zu machen, untersucht Lars von Trier mit seinem neuen Film Dogville das Verhältnis von sozialer Bestimmtheit und Individualität und kommt dabei zu gänzlich anderen Ergebnissen als die beiden zitierten Beiträge.
Dogville, der Ort, an dem Lars von Trier sein Drama über die Rolle persönlicher Verantwortung stattfinden lässt, ist ein leerer Raum, womit die Rolle der Imagination für seine Überlegungen augenscheinlich wird. Es ist keine wahre Geschichte, die es zu erzählen gilt und auch kein realer Ort, an dem sie stattfindet. Es gibt keine historische Zeit, die das Geschehen kontextualisiert, außer dem groben Bezug auf die historische Epoche des Kapitalismus, in der wir uns befinden. Und doch ist das hier vertretene Kino eine Fiktion, die sich dem Realismus verschrieben hat. Sie bezieht ihre Überzeugungskraft daraus, dass alles was sich im Film abspielt, dem Publikum als menschliches Verhalten absolut einsichtig ist. Wir mögen uns zwar vorbehalten, die eine oder andere Reaktion nicht gezeigt, die eine oder andere Entscheidung in einer ähnlichen Situation ganz anders getroffen zu haben, aber deshalb wird keine der handelnden Personen unglaubwürdig. Alles was sich im Film zuträgt, könnte sich zweifelsohne so zugetragen haben. Und so will die Abstraktion, die Dogville so augenscheinlich darstellt nur eines sagen. Dogville ist der in unserer Epoche überall gültige Zustand, die Menschen sind die Menschen unserer Zeit: Jedermanns aus Überall. Wenn sich die Ereignisse von Dogville nicht überall in unserer Epoche abspielen, dann muss das Gründe haben, von der in der Dogvillesituation abgesehen wurde.
Abhängigkeit und Herrschaft
Was in Dogville geschieht, ist die gemeinschaftliche Unterdrückung, Ausbeutung und Erniedrigung eines Menschen. Grace kommt hilflos in die Stadt. Die Bedrohung, die außerhalb Dogvilles auf sie lauert, ihrer Verfolgung durch eine Bande von Gangstern und den Staat, ist in der Stadt nicht unmittelbar präsent. Doch in der Stadt selbst kennt sie niemanden. Sie ist auf die Gnade der BewohnerInnen von Dogville angewiesen, ja auf deren Großmut, für eine Unbekannte ein nicht genau kalkulierbares Risiko auf sich zu nehmen. Ein solches Wohlwollen ist keine Selbstverständlichkeit und wird von Grace auch nicht als so wahrgenommen. Die Dynamik des Filmes entwickelt sich aus der Art, in der Grace zu den BewohnerInnen Dogvilles zugleich eine Beziehung aufbauen und ihren Dank ausdrücken will. Sie bietet Hilfe an, Arbeit zum konkreten Wohl der Einzelnen und tritt so – unmerklich zunächst – in ein Tauschverhältnis ein: Arbeit gegen Schutz.
Was Dogville sehr anschaulich macht, ist die Wandlung der gesellschaftlichen Bedeutung von Arbeit durch deren Ausführung. Graces Dienste sind für die Bevölkerung Dogvilles nicht notwendig. Es wurde auch vor ihrer Ankunft gelebt und getan, was getan werden musste. Ein Platz in den Beziehungen der Menschen entstand für Grace erst dadurch, dass sie Aufgaben übernahm, die eigentlich nicht getan werden mussten. Ihre zusätzliche Arbeit bildete so reinen Luxus. Zeit für die affektiven Bedürfnisse, ein komfortableres Leben, eine Verbesserung der Bildung für die Kinder, Verständnis für die Unverstandenen – es sind hauptsächlich die Tätigkeiten weiblicher Fürsorge, denen sich Grace in Dogville zum Wohle aller, abgesehen von ihr selbst, zuwenden muss. Das Ergebnis dieses Handelns ist zunächst die deutliche Verbesserung des Lebens der Menschen in Dogville durch Grace. Sie erhält als Quelle des Wohlbefindens Anerkennung, Achtung und Zuneigung.
Doch der Moment der glücklichen Lösung währt in Dramen nur kurz. Scheint Grace im ersten Augenblick die Freundin der Menschen in Dogville zu sein, setzt sich gegen diese Art einer menschlichen Beziehung das durch, was eigentlich die Beziehung zwischen Grace und der Bevölkerung von Dogville bestimmt, ihr Angewiesensein auf Schutz und der Pakt, in dem das affektiv-sorgende Engagement die Gegenleistung für die Gewährung der Zuflucht ist. Und so wird aus dem freundschaftlichen Umgang unter Menschen ein von Ansprüchen bestimmtes Dienstverhältnis. Aus der von Grace gewährten Zuneigung wird eine zu erbringende Leistung, für die es keine Grenzen gibt, weil ihre Abhängigkeit und die Möglichkeit des Verrates es ihr nicht erlauben auf Grenzen definitiv zu beharren. Und so kommt es, dass erst einzelne und fortschreitend immer mehr Menschen in Dogville die Macht erkennen, die sie über Grace ausüben können. Jetzt kann sie nicht mehr Zuneigung gewähren, sondern wird unter Hinweis auf ihre bedrohte Existenz vergewaltigt, erniedrigt und ausgebeutet.
Es ist nicht erst an diesem Punkt, da für die BewohnerInnen von Dogville Graces Dienste nicht der einstige Luxus sind. Sie entsprechen ihren Bedürfnissen und die Dinge, die einst nicht getan werden mussten, gehören jetzt zum Leben. Ihr Fehlen würde eine Lücke reißen, die nicht einfach zu schließen wäre. Dogville braucht Grace – und doch kehrt sich mit dieser Bedürftigkeit das Abhängigkeitsverhältnis nicht um. Denn längst ist es in Dogville Common sense, dass sich die gemeinsame Ausbeutung der Elenden lohnt.
Lieber zehn Untermenschen zur Arbeit zu zwingen ...
Es könnte die Versuchung bestehen, die konkret-abstrakte Abhängigkeit, die Grace der Ausbeutung unterwirft, der kapitalistischen Ökonomie gleichzusetzen, von der die Menschen in Lohn und Brot gezwungen werden. Doch in Dogville herrschen nicht einfach nur kapitalistische Zustände. Was dort gelernt wird ist eher jene Lektion, die auch die Deutschen im Nationalsozialismus so bereitwillig aufnahmen, dass es nämlich besser sei zehn Untermenschen mit Gewalt zur Arbeit zu zwingen, als selbst zu arbeiten. Auch Grace ist für Dogville kein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Aus der Fremden wird mehr und mehr ein Paria, der zwar nicht der Vernichtung anheim gegeben, aber jenseits der bloßen Existenz nur auf die reine Ausbeutbarkeit reduziert wird. Jedes reale Widerstandspotential wird ihr geraubt. Auf ihren Versuch zu entkommen, folgt nicht Strafe, sondern eine technische »Errungenschaft«, die ihr die Möglichkeit zur Flucht ein für allemal nehmen soll.
Wenn Menschen wie in Dogville ihre Kreativität einsetzen, um Techniken der Herrschaft zu verfeinern, wenn sie das Leid von Mitmenschen vergrößern, um ihre überlegene Position zu festigen, dann sind es nicht in erster Linie die Verhältnisse, die sie dazu zwingen. Sie sind es selbst, die sich vergewaltigend, erniedrigend und ausbeutend ihre Vorteile sichern. Was für den Nationalsozialismus unbestritten ist, dass es die Deutschen waren, die in ihrer übergroßen Mehrheit die »Arisierungen«, die Ausbeutung von »Untermenschen« und schließlich auch die Vernichtung wollten, dass sie Quälerei, Folter und Mord individuell und zurechenbar ausübten, gilt auch für die demokratischen Verhältnisse im Kapitalismus. Es sind oft individuelle Menschen, die aus den Verhältnissen der Abhängigkeit und Unterlegenheit die Situationen der Unterdrückung noch erschweren.
Was Dogville demonstriert, ist dieses unterdrückende Engagement, dass sich nicht allein aus den gesellschaftlichen Verhältnissen in dieser kleinen Stadt erklären lässt. Es sind die bewußten Entscheidungen, die aus der Abhän-gigkeit von Grace ihre Entwürdigung werden lassen. Es sind nicht die Gangster und es ist nicht der Staat, der Grace vergewaltigt und ausbeutet, obwohl die Drohung gegen sie als Ursache ihrer Abhängigkeit analysiert werden kann, die ursächlich für ihre Schwäche angesichts der Übergriffe ist. Es sind aber die BürgerInnen Dogvilles, die einzig und allein das Elend erzeugen, ohne Befehlsnotstand, ohne jede Not.
Schutz der Menschenrechte und Papa Staat
Damit ist Dogville ein Film, der Fragen an eine linke Vorstellung vom menschlichen Zusammenleben und die Bedeutung des Sozialen als Grundlage des individuellen Handelns formuliert. In einer Reflexion wendet der Film an seinem Ende den Blick vom Leiden Graces ab und beginnt die in Dogville ansässigen Menschen zu betrachten. Als wären sie Hunde, lebten sie zwar zusammen, doch hätten ihre Bedürfnisse keine menschliche Regulation, die jenseits von Strafe und Repression funktioniere. Ihr Umgang mit Grace soll beweisen, dass ihnen die Humanität als moralische Kategorie nicht eigen sei. Doch anders als bei Tieren kann weder die Natur, noch die soziale Ordnung als Grund herhalten, der zu entschuldigen vermag. Gerade weil in Dogville nur der tatsächliche Hund im Schema von Aktion-Reaktion seinen Instinkten gehorcht hat, zeigt sich die Schuld der Menschen um so deutlicher. Sie haben aus ihren individuellen Motiven individuelle Entscheidungen getroffen und sind deshalb individuell verantwortlich für ihre Taten.
Dass diese individuelle Verantwortung nur in einem gesellschaftlichen Rahmen aufgefunden werden kann, thematisiert der Film explizit. Doch ist es nicht, so lautet die Frage Lars von Triers, eine Form der Arroganz, aus der Eingebundenheit in eine soziale Wirklichkeit selbst die Spielräume, die Menschen offensichtlich haben, zu negieren? Wenn niemand quälen, erniedrigen und vergewaltigen muss, wenn niemand gezwungen ist, Abhängigkeiten auszunutzen, dann ist neben der Verantwortung für die Gesamtsituation auch nach individueller Verantwortung zu fragen. Dogvilles Menschen sind in ihrer Schuld genauso ernst zu nehmen, wie Nazis, die ihre menschenverachtenden Ziele nicht nur haben, weil sie eigentlich am Kapitalismus leiden und wie die AnhängerInnen des Islamismus, die weit davon entfernt sind, einfach Opfer des Weltmarkts zu sein, auch ein politisches Programm verfolgen, für das sie sich individuell entschieden haben. All das ist mit der Analyse der sozialen Grundlagen und Kontexte der konkreten Handlungen nicht vollständig erfasst und wenn es gar als wahnsinnig denunziert wird, tendenziell schon verharmlost.
Dogville richtet sich explizit gegen jede Entschuldigung, die ansteht, die individuelle Verantwortung zu verwischen. Die Alternative, die der Film bietet, ist Papa Staat, mit seiner überlegenen Gewalt, der bestimmt, was zulässig ist und bei Übertretung die Schuldigen richtet. Diese Lösung ist nicht ungewöhnlich, hatte doch schon die Betrachtung des Schicksals der Displaced Persons, jener Staatenlosen für die sich nach dem Zweiten Weltkrieg kein Staat zuständig fühlen wollte, verdeutlicht, dass es auch Menschenrechte nur für diejenigen gibt, denen sie garantiert werden. Und wer, so fragt Dogville, könnte denn Rechte garantieren, wenn nicht eine äußere Macht, die über den Individualinteressen die Gewaltmittel hat, die Zivilisation immer wieder durchzusetzen?
Doch indem Lars von Trier den Staat tatsächlich personalisiert, erweist sich diese bürgerliche Lösung, die er als unausweichlich darstellt, zugleich als fragwürdig. Stellt sich in Dogville der Staat noch als äußere Instanz dar, die über das Geschehen nach ihren Maßstäben richtet, so verbindet sich mit ihm doch die Frage, was dort geschieht, wo der Staat nicht nur ausnahmsweise auftaucht, sondern permanent präsent ist. Dort erweist sich sein Recht genauso als bestimmte Position, die sich nur herausnimmt, als über den sozialen Konflikten stehend zu erscheinen. Die Arroganz einer sich über die wirklichen Menschen hinwegsetzenden Interpretation ihrer Handlungen und der Durchsetzung, eines bestimmten Standpunktes ist auch dem Staat eigen, selbst wenn er individuelle Verantwortung zuschreibt. Mit der ihm eigenen Gewalt richtet sich der Staat nicht nur gegen jene, die aus seiner Position heraus Schuld auf sich geladen haben, er schießt auch auf jene, die ihm seine Arroganz vorwerfen und deshalb sich seiner Ordnung verweigern.
Weil Lars von Trier den Staat trotz seiner Partikularität und Gewalttätigkeit als einzige Möglichkeit darstellt, die individuelle Entscheidung zur Missachtung der Menschenwürde zu verhindern, ist Dogville ein Film, der zwar die richtigen Fragen an linke Utopien und Gesellschaftsanalysen stellt, aber selbst nichts zu deren Lösung beiträgt. Dogville kann nur warnen und warnt eindringlich vor der sozialrevolutionären Erhebung über die Gesellschaft, die aus einer Warte der Überlegenheit das Funktionieren der Gesellschaft demonstrieren will. Dieses überlegene Demonstrieren des intellektuellen Reformers, der sich als Menschenfreund fühlt, trägt viel zur Unmenschlichkeit Dogvilles bei. Es ist dem Film anzumerken, wie sehr die Figur des Idealisten verachtet wird, der sein Leben fristen kann, ohne einer Tätigkeit nachgehen zu müssen. Diese/r »studentische« Intellektuelle will, statt selbst gesetzte Ziele zu verwirklichen, lieber in das Leben anderer eingreifen, um aus dem Leid, das seine Experimente erzeugen, schließlich die Inspiration für »sein« Buch zu saugen. Solche Menschen, sagt Lars von Trier, dürfen nicht staatlicher Gerechtigkeit überlassen werden, es ist besser, sie eigenhändig zu erschießen. Wozu er Papa Staat nur bemerken lässt: »Wenn Du meinst.«
Obwohl Dogville selbst ein soziales Experiment ist, handelt es sich bei der Kritik des intellektuell-utopischen Weltenplaners um keine Selbstkritik Lars von Triers. Auch wenn die Grace-Darstellerin Nicole Kidman bei den Dreharbeiten durchaus Parallelen entdeckt haben mag, schützt von Trier gerade der leere Raum, in dem er sein Experiment in Szene setzt. Es sind keine wirklichen Menschen, denen geschieht, was er geschehen lässt. Das Kino und die Imagination bilden so einen geschützten Raum, in dem sich Experimente vollziehen lassen, ohne dass Schuld am produzierten Leid entsteht. Doch mit diesem Sprung aus der Welt der Verantwortlichkeit nimmt Lars von Trier seinem Kino auch die Spitze, die das Brechtsche Theater, mit dem es verglichen wurde, hatte. In der Imagination, die sich nur in der Reproduktion des Realen aufhält, die nicht aufrufen will, sondern nur warnen, liegt nichts außerhalb der Anregung zur Reflexion über tatsächliche Handlungen. Einem Publikum, dass sich in seinem Leben ohnehin mit dem Status quo abgefunden hat, ist das Kino in dieser Form, die reine Besinnungsanstalt. Es erzeugt nur die fortgesetzte Versöhnung mit dem Staat, der durch die Demonstration von Dogville vor dem Hintergrund seiner imaginären Abwesenheit als in jeder Form legitim dargeboten wird.
Schuld, Unschuld und der Wert eines Menschenlebens
Dass Lars von Trier trotzdem das Gefühl der von der Revolution inspirierten Brechtschen Radikalität zu simulieren vermag, hängt mit dem von ihm gewählten Mittel der Personalisierung zusammen. Nicht nur Ausbeutung und Demütigung werden in ihrer individuellen Dimension in den Vordergrund geschoben, auch die Bestrafung ist ihm – anders als es die ideologische Praxis des bürgerlichen Staates nahe legt, die diese durch das rechtsstaatliche Verfahren gerade über die individuellen Interessen erheben will – individuelle Tat. Der Moralismus, der mit dieser Personalisierung einher geht, verwechselt Recht mit Gerechtigkeit und ist deshalb so verführerisch. Zugleich wird damit aber ein Überschreiten der bürgerlichen Ordnung erträumt, das es den Individuen erlaubt, für ihre Demütigungen Rache zu nehmen.
Die so propagierte Transformation zur revenge society, in der dem zu schwachen Staat von den bürgerlichen Individuen, einzeln oder in der Bürgerwehr zusammengeschlossen, die Bestrafung abnimmt, ist die übelste Form dessen, was in Dogville eigentlich kritisiert werden soll. Die Herrschaft einer community über die Einzelnen. Doch weil mit der Personalisierung und den Folgen des Gerechtigkeits- und Rachedurstes die Kriterien für die Strafe wieder im Unmittelbaren liegen, kann der Film nur an die moralischen Überzeugungen seines Publikums appellieren, ohne deren Grundlagen zu verdeutlichen oder Kritik an diesen zuzulassen. Die Ebene der Konstitution individueller Verantwortung, mit denen sich die zu Beginn genannten Artikel in den letzten Ausgaben von Phase 2 beschäftigten, vermag der Film deshalb nicht zu thematisieren. Sie gilt ihm als unhinterfragbar.
So steht am Ende von Dogville eine Ambivalenz, die in blanke Raserei umschlägt. Ein Menschenleben zählt Lars von Trier auf seinem Rachefeldzug nichts mehr. Wurden Grace die Früchte ihrer Arbeit zerschlagen, aus denen sie sich ihr Leben in Dogville aufgebaut hatte, gelten Kinder jetzt umstandslos als Äquivalent für dessen Stücke. Das Massaker an der Bevölkerung Dogvilles schlägt sich mit der als Arroganz denunzierten Gnade nicht mehr herum. Der Mensch ist identisch mit seiner Schuld. Die Unschuld, die der Potentialität seiner Zukunft zugesprochen werden müsste, interessiert nicht mehr. Aus dem Ernstnehmen der Einzelnen wird die Rechtfertigung für ihre Auslöschung. Wohl gemerkt, dabei geht es nicht um die Verhinderung von Taten. Wenn Dogville von der Erde verschwinden muss, dann wegen der Art, wie es nach dem Beweis durch die abgelaufene Demonstration Lars von Triers ist.
Die Fiktion Dogville lässt sich nicht als misanthropische Vision abtun, die mit der Realität nichts zu tun hat. Ihr einfach das Bild einer Utopie entgegenzustellen, in der die Menschen einander einfach nur lieb haben, wie die Geschöpfe auf den Paradiesdarstellungen im Wachturm, heißt die Augen vor der Epoche und sich selbst verschließen. Grace aber am Ende des Filmes zuzustimmen, die Welt sei besser ohne Dogville, hieße dafür zu sorgen, dass Dogville tatsächlich überall entsteht. Wenn die Rückkehr in den naiven Zustand der Gnade verstellt ist, kann das nur heißen, dass die Bedingungen der individuellen Verantwortlichkeit doch in den Fokus der Kritik geraten müssen, ohne dies mit der Leugnung ihrer Handlungsspielräume zu verwechseln.
Mnogo Büchsenbier
Der Autor ist Assistent des BGR Leipzig