Bakunin empfiehlt Marx

Der Anarchismus zwischen Kommunismus und Marktverherrlichung

Obwohl Ökonomie nicht zu den Kernkompetenzen des Anarchismus zählt, spalten Auseinandersetzungen um Wirtschaftsformen die Bewegung seit jeher in zwei Strömungen. Der sozialistische Anarchismus umfasst Kollektivismus, Kommunismus und Anarchosyndikalismus. Zwar mangelt es ihm an einer eigenständigen ökonomischen Theorie, aber die sozialistischen AnarchistInnen haben klare Vorstellungen: Sie lehnen Lohnarbeit als Ausbeutung und Privateigentum an Produktionsmitteln als deren Voraussetzung ab – genau wie Marx. Ihr Ziel ist eine Gesellschaft ohne Staat, in der die Menschen in Kollektiven und Kommunen leben und arbeiten. Sie sollen selbst in Versammlungen und Räten die vergesellschaftete Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen planen und koordinieren. Hingegen halten IndividualanarchistInnen die Marktwirtschaft für optimal, um die Freiheit zu maximieren. Sie wollen lediglich einige Monopole beseitigen und in der Regel auch die Macht der Banken und des Geldes. Angesichts der Konfusion in der Linken und des verbreiteten Unbehagens über die Finanzwelt erfreuen sich solche Ansätze einer gewissen Popularität. Dieser Richtung ist auch der Anthropologe David Graeber zuzurechnen, der als Mastermind von Occupy gepriesen wird und derzeit wohl der weltweit bekannteste Anarchist ist. Dagegen scheint sich das amerikanische Netzwerk CrimethInc. von seiner individualistischen Position weg zu entwickeln.

Marktgläubigkeit und Zinskritik

Wichtige aktuelle Einführungen in den Anarchismus im deutschsprachigen Raum vermitteln den Eindruck, individualistische Ansätze seien der einzig wahre Anarchismus. Im Sammelband Anarchismus 2.0, herausgegeben 2009 von Hans Jürgen Degen und Jochen Knoblauch in der Theoriereihe des Schmetterling-Verlages, bekommen sogenannte RevisionistInnen, also AnarchistInnen, die sich nach 1945 von antikapitalistischen Positionen verabschiedeten und für Marktwirtschaft und Eigentum eintraten, viel Raum. So verwirft Rolf Raasch in seinem Beitrag beispielsweise den Anspruch einer kohärenten Theorie als fundamentalistisch und totalitär, und richtet sich damit gegen sozialistische Klassiker wie Peter Kropotkin und Michail Bakunin. Herausgeber Knoblauch war Mitbegründer und Redakteur der individualistischen Zeitschrift Espero und Degen Autor des Blattes, in dem die Lehren von Silvio Gesell, Pierre-Joseph Proudhon und Max Stirner gepflegt wurden.

Der Begründer des reinen Individualismus, Stirner, entwickelte gar keine eigene Ökonomie, sondern allenfalls eine Theorie der Selbstbefreiung. Aus seiner Perspektive des Egoismus erschien selbst Proudhon als autoritärer Kommunist, der den Niedergang der Persönlichkeit beschleunigen würde. Proudhon wiederum wurde 1840 mit den Parolen »Eigentum ist Diebstahl! Gott ist das Übel! Die beste Regierung ist die Anarchie!« auf einen Schlag in ganz Europa berühmt. Selbst Marx war begeistert, und Proudhon genoss und kultivierte seitdem seinen Ruf als Umstürzler, obwohl er jene berühmten Sätze später als »fürchterliche Formeln« bedauern sollte. Ihr Duktus täuschte darüber hinweg, dass Proudhon Kommunismus und Sozialismus sogar entschieden ablehnte und Eigentum an Produktionsmitteln durchaus verteidigte.

Proudhon verband mit dem Begriff des Eigentums zwei grundverschiedene Vorstellungen: Eigentum als Frucht eigener Arbeit und Eigentum als Aneignung fremder Arbeitsleistung, als Diebstahl. Das wirkt auf den ersten Blick plausibel und ist kein bisschen umstürzlerisch, sondern bewegt sich im Rahmen des polizeilich Erlaubten. Tatsächlich entwickelte er eine Perspektive, die die Nationalsozialisten später in der Formel vom schaffenden versus raffenden Kapital fassen sollten: Diebstahl begehen nach Proudhons Vorstellung diejenigen, die Geld geben und dafür Zinsen nehmen (= raffend), nicht aber die industriellen KapitalistInnen (= schaffend), die LohnarbeiterInnen beschäftigen.

So behauptete er: »Alle Krankheit, die heute den Sozialkörper heimsucht, lässt sich auf einen Stillstand, auf eine Störung der Zirkulationsfunktion zurückführen«. Die Zirkulation beruhe auf Bargeld, das Geld aber sei »ein Werkzeug der Spekulation, eine Fessel für die Freiheit des Handels«. Sein Vorschlag lautete, das Geld abzuschaffen: »Das Geld ist also ein Hemmnis für den Austausch, eine Fessel für die Freiheit des Handels und der Industrie; sowohl für sich genommen als überflüssiges Organ, als Schmarotzertätigkeit, als auch seinen Kosten nach, als Ursache von Verlust. Auf das Bargeld zu verzichten und den Zins für das Umlaufkapital zu beseitigen, das ist die erste Fessel der Freiheit, die ich durch die Gründung einer Tauschbank zu sprengen vorschlage«.

Nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit (Mutualismus) solle die Tauschbank den direkten Austausch aller Erzeugnisse zum Herstellungspreis unter den ProduzentInnen vermitteln und zinslose Kredite vergeben. Geld könnte durch Arbeitsscheine ersetzt werden. Alle würden die Produkte ihrer Arbeit zu einem gerechten und fairen Preis tauschen und der Zins auf null sinken. Dadurch, so prophezeite Proudhon, bekämen alle ProletarierInnen höhere Einkommen und könnten zu selbständigen HandwerkerInnen und KapitalistInnen aufsteigen, so dass das Proletariat abgeschafft werde.

Das Ideal Proudhons war also eine Gesellschaft aus lauter selbständigen ProduzentInnen, die untereinander Waren zum Selbstkostenpreis tauschen. Eine arbeitsteilige Produktion in Manufakturen und Fabriken wäre damit unmöglich – ein Umstand, den Kropotkin kritisierte. Auch Murray Bookchin warf Proudhon später vor, den beschränkten Horizont einer provinziellen und vorindustriellen Welt nie überschritten zu haben. Die Pseudokritik an den Geldsäcken verband sich schließlich bei Proudhon mit einem rabiaten Antisemitismus bis hin zu Vernichtungsphantasien.

Selbstverwaltung

Die Idee der Tauschbank oder Arbeitsbörse geht auf frühe englische und amerikanische Sozialisten zurück. Etliche Varianten dieses Konzepts beruhten auf Organisationsformen wie Kooperativen, Kollektiven oder Genossenschaften. Das war ein Fortschritt gegenüber Proudhon; es bleibt jedoch das Defizit, dass der gesellschaftliche Zusammenhang auch hier ausschließlich über den Markt hergestellt wird, denn Güter und Dienstleistungen werden wiederum als Tauschwerte und unter Konkurrenz hergestellt.

Über den Stellenwert selbstverwalteter Betriebe, Kommunen und Kollektive wird in der anarchistischen Bewegung bis heute gestritten. Während IndividualanarchistInnen sie für ein probates Mittel der Gesellschaftsveränderung halten, sind sie für AnarchosyndikalistInnen ein Mittel, um die soziale Revolution vorzubereiten, weil die ArbeiterInnen einen Betrieb zu führen lernen. Unstrittig ist, dass selbstverwaltete Betriebe ein Notbehelf in Krisenzeiten und eine Möglichkeit sein können, sich wenigstens teilweise dem kapitalistischen Alltag zu entziehen.

In Argentinien etwa besetzten ArbeiterInnen während der Krise 2001 zahlreiche Unternehmen und führten sie in eigener Regie fort. Auch in Spanien, Griechenland und Frankreich existieren solche Firmen, in Deutschland gab es den kurzlebigen Versuch mit der Fahrradfabrik Strike Bike im thüringischen Nordhausen. Der empirisch gestützte Haupteinwand gegen solche Besetzungen lautet jedoch, dass einzelne Betriebe, die wie Inseln im Kapitalismus bestehen wollen, sich den Mechanismen der Konkurrenz unterwerfen müssen oder untergehen. Es besteht ein permanenter Anpassungsdruck, zudem fehlt es an Kapital, da die Betriebe, wie der argentinische Sozialwissenschaftler Andres Ruggeri bemerkt, ja von ihren Eigentümern aufgegeben wurden. Die Vertreter-Innen des spanischen Instituts der Wirtschaftswissenschaften und der Selbstverwaltung (ICEA), das der syndikalistischen Gewerkschaft CNT (Confederación Nacional del Trabajo) nahesteht, sehen im Kapitalmangel hingegen kein Problem. Sie plädieren für eine sozial regulierte Marktwirtschaft, denn sie glauben wie die Liberalen, dass der Marktmechanismus eine optimale Verteilung von Gütern bewirke.

2011 schlug die Banken-Gruppe von Occupy Wallstreet den Aufbau einer alternativen Bank vor, die zinsfreie Kredite vergeben, das knappe Gut Geld allen zugänglich machen und Profit allenfalls zum Wohle ihrer Kunden oder gar nicht erwirtschaften sollte. Das Scheitern solcher Banken, zu beobachten bei Robert Owen und Proudhon, bei Gewerkschafts- und alternativen Banken bis hin zum Mikrokredit-System, das in Indien Frauen in den Ruin und zum Selbstmord treibt – scheinen die BefürworterInnen und Beteiligten zu ignorieren.

Geldanarchie, Schwundgeld und Menschenzucht

Die Vollendung der Lehren Proudhons wird von FreiwirtInnen oft Silvio Gesell zugeschrieben. Sowohl in dem oben genannten Buch von Degen und Knoblauch als auch in dem Sammelband Anarchistische Welten, 2012 herausgegeben von Ilja Trojanow, fungiert hingegen Gerhard Senft als Experte für anarchistische Ökonomie. Er lehrt am Wiener Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte und ist Anhänger der Freiwirtschaftslehre. Er hält die aktuellen Krisenerscheinungen der Weltwirtschaft für die Folge einer Geldknappheit. Das passt hervorragend zur Lehre des deutschen Kaufmanns Gesell, wonach »Geldbesitzer« Bargeld horten, um höhere Zinsen zu erpressen. Durch solche »Geldstreiks« würde der Geldumlauf verknappt und Krisen ausgelöst.

Die sozialdarwinistischen und rassehygienischen Intentionen Gesells werden jedoch von IndividualanarchistInnen in der Regel verharmlost, verdrängt und geleugnet. So plädierte der Erfinder der Freiwirtschaft für einen neuen Manchesterkapitalismus ohne jegliche soziale Absicherung. Nur so wäre sichergestellt, dass in einem erbarmungslosen ökonomischen »Kampf ums Dasein« die erbbiologisch wertvollsten Männer sich durchsetzen und eine maximale Anzahl von Frauen schwängern, um eine »Hochzucht« der Menschheit zu erreichen.

Gesell betrachtete den Zins als leistungsloses Einkommen, mit dem GeldbesitzerInnen die UnternehmerInnen und ArbeiterInnen ausbeuten. Gesells Alternative bestand in dem sogenannten Schwundgeld – gemeint sind Geldscheine, die in regelmäßigen Abständen einen Teil ihres Wertes verlieren, so dass es ökonomisch sinnlos wäre, sie zu horten, ganz wie es heute die Regionalgeld-Initiativen praktizieren, die auf dieser Lehre aufbauen. Den Staat wollte Gesell wie die AnarchistInnen abschaffen, allerdings mit Ausnahme eines Währungsamts, das die Ausgabe von Schwundgeld regulieren sollte.

Die GesellianerInnen ignorieren, dass Geld nicht wertbeständig ist. Im Regelfall herrscht Inflation, die Europäische Zentralbank peilt zwei Prozent an. Faktisch haben wir längst Schwundgeld. Obendrein spielt Bargeld in einer Welt des Online-Banking und Internethandels selbst für EndverbraucherInnen längst keine große Rolle mehr. Es müssten gigantische Mengen Bargeld gehortet werden, um die Wirtschaft zum Einsturz zu bringen, vielleicht in gewaltigen Geldspeichern wie in Entenhausen, wo Dagobert Duck seine Fantastilliarden vor den Panzerknackern bewacht.

Gerhard Senft wiederum propagiert eine »Geldanarchie« mit Bezug auf Benjamin Tucker, einen Klassiker des Individualanarchismus; ähnliche Ideen finden sich bei neoliberalen Vordenkern. Die staatlichen Zentralbanken sollen aufgelöst und jeder Mensch beliebig Geld herstellen und in Umlauf bringen dürfen. Solche Vorschläge haben im Zuge der Wirtschaftskrise von 2008 unter dem Schlagwort Free Banking eine gewisse Resonanz erzeugt. Sie finden sich im Umfeld der Alternative für Deutschland (AfD), bei der rechtslibertären Partei der Vernunft (PdV) oder Ron Paul, einem ehemaligen Abgeordneten der Republikaner im US-Parlament und Galionsfigur der Rechtslibertären.

Geldanarchie bedeutet, dass mehrere Währungen innerhalb eines Territoriums gelten. Da jede funktionierende Währung vom Vertrauen in deren Kaufkraft abhängt, würden über kurz oder lang stabilere und kaufkräftigere Währungen die schlechteren Versionen verdrängen, bis nur noch eine übrig bleibt. In der Ökonomie ist dieser Mechanismus als Gresham’sches Gesetz bekannt. Die Alternative wäre eine Geldanarchie mit festen Wechselkursen. Jedoch macht dies die ganze Operation sinnlos, weil dann eine einzige Währung besser, weil weniger aufwändig, wäre. Obendrein müssen feste Wechselkurse von Institutionen beschlossen und ihre Einhaltung garantiert werden, notfalls mit Zwang, was am Ende auf eine staatliche Struktur hinausläuft. Für AnarchistInnen sollte sich Geldanarchie damit erledigt haben.

Schulden als Dreh- und Angelpunkt der Weltgeschichte

In einigen wichtigen Punkten argumentiert der Autor David Graeber wie ein Individualanarchist: Geld und Zins stehen in seinen Überlegungen im Mittelpunkt, er ignoriert die Produktionsverhältnisse und begnügt sich mit der Forderung nach einem Schuldenerlass nach antikem Vorbild. In seinem monumentalen Werk Schulden presst Graeber 5000 Jahre Menschheitsgeschichte in ein manichäisches Schema von »humanen Ökonomien« versus »Militärische-Münzgeld-Sklaverei-Komplexe«: Demnach wechseln sich finstere Zeitalter, in denen Staaten gestützt durch mit gemünztem Geld bezahlte Söldner herrschen, mit lichten Epochen staatsfreier, überschaubarer Marktwirtschaften ab. In letzterer werden Güter und Dienstleistungen auf Kredit oder gegen »soziale Währungen« wie Muscheln getauscht. Laut Graeber begann vor etwa 3500 Jahren der Aufstieg der ersten Imperien mit Münzgeld, gefolgt von einem Mittelalter mit staatsfreier Marktwirtschaft ohne Gold- und Silbermünzen, das gierige Banker und skrupellose Konquistadoren im 15. Jahrhundert beendeten, um eine neue Phase der Geldherrschaft zu errichten. Das kommende Zeitalter des Friedens leitete nach Graebers Schema US-Präsident Richard Nixon ein, als er 1971 die Konvertibilität des Dollar in Gold aufhob.

Während Graeber »soziale Währungen« preist, weil sie auf gegenseitigem Vertrauen und gemeinsamen Wertvorstellungen basieren würden, verwirft er Münzgeld und in Geld ausgedrückte Schulden als korrumpierend, denn durch sie würden Schulden messbar und die Schuldner versänken in Scham und Elend. Unser Gefühl für Moral und Gerechtigkeit werde auf die Sprache des Geschäfts, moralische Verpflichtungen gegenüber Mitmenschen auf Schulden reduziert. Moral verwandele sich in eine »unpersönliche Arithmetik«, sodass Menschen sich plötzlich schlimme Dinge antun, wie die Sklaverei. Graeber blendet aus, dass auch nicht quantifizierbare, nicht in Geld ausgedrückte Verpflichtungen auf Gewalt beruhen können und umgekehrt eine in Geld ausgedrückte Verpflichtung angenehmer sein kann, gerade weil sie quantifiziert und somit auch begrenzt ist. Die Rede von sozialen Währungen überspielt, dass es völlig unerheblich ist, ob Muscheln, Vieh, Gold oder Papier eine Geldfunktion haben. Entscheidend ist, ob der gesellschaftliche Zusammenhang zwischen den Menschen und die Herstellung und Verteilung der Lebensmittel kollektiv und demokratisch geregelt oder über einen Markt vermittelt werden.

Sogar den Kauf von Frauen mit Muscheln verharmlost der Anthropologe als »Regulierung«, denn durch die folgende Heirat übernehme der Mann genauso viel Verantwortung wie die Frau. Die Kaurimuschel symbolisiere in einer humanen Ökonomie, dass eine Schuld bestehe, die man nicht bezahlen könne, denn jeder Mensch sei einzigartig und damit unbezahlbar. Darum könne man mit Geld »nicht wirklich die Rechte an einer Frau erwerben«. Der Mann kaufe nicht die Frau, sondern bloß das Recht, ihre Nachkommen als seine Kinder zu bezeichnen. Der Anthropologe Graeber zerredet hier den patriarchalen Kontext: Männer handeln mit Frauen wie mit Vieh. Der Ehemann kauft vom Vater ein sprechendes Werkzeug, eine Gebärmaschine und ein Sexualobjekt.

Die ideale Ordnung ist für Graeber eine Marktwirtschaft ohne Staat, in der Währungen ohne Zinsen den Austausch vermitteln. Als historische Referenzen präsentiert der Ethnologe das chinesische Kaiserreich und seine konfuzianischen Beamten sowie die Kalifen und Sultane des Mittelalters, die gestützt auf den Koran das Zinsverbot durchgesetzt, die Schuldknechtschaft unterbunden und sich ansonsten nicht in die Wirtschaft eingemischt hätten. Für einen Anarchisten ist das eine ziemlich bizarre Weltsicht. Das alte China war eine brutale Ausbeutergesellschaft, in der BäuerInnen immer wieder rebellierten, die islamischen Staaten waren Diktaturen, deren Herrscher sich untereinander massakrierten und Expansionskriege führten. Selbstverständlich nahmen Geldverleiher in islamisch geprägten Ländern Zinsen für Kredite, bezeichneten sie aber wie im modernen Islamic Banking als Gebühr oder Aufwandsentschädigung.

Populär ist im Anarchismus die Vorstellung, der real existierende Kapitalismus sei in zwei Paralleluniversen gespalten – die Finanzmärkte und die Realwirtschaft –, und dass gierige BankerInnen, skrupellose BörsianerInnen und andere »Heuschrecken« ehrliche und fleißige UnternehmerInnen und ArbeiterInnen ausbeuten. Dass menschliche Arbeitskraft im Produktionsprozess einen Mehrwert in Gestalt von Gütern und Dienstleistungen schafft, die auf dem Markt verkauft werden müssen, hält Graeber wie viele GlobalisierungskritikerInnen für nicht ausschlaggebend. Unter Ausbeutung versteht er in erster Linie Machenschaften einer Finanzelite, die uns Kredite aufschwatzt und in eine moderne Zinsknechtschaft manövriert. Dabei beinhalten die Papiere der Finanzmärkte Ansprüche, die sich jedoch in letzter Instanz auf Profite beziehen, die mit Gütern und Dienstleistungen erwirtschaftet werden müssen. Die Aktienmärkte im real existierenden Kapitalismus beziehen sich auf Autos, Computer, Smartphones, Flugreisen, Halbleiter, Häuser, Textilien, Arzneimittel, Stahl, Aluminium, Getreide, Soja oder Rindfleisch.

Der Anthropologe übergeht, dass Kapitalakkumulation eine stoffliche Seite hat und nicht einfach aus Geld mehr Geld wird. Eng mit dieser falschen Vorstellung ist eine zweite verknüpft, die besagt, Kapitalismus und Marktwirtschaft wären zwei grundverschiedene Wirtschaftsformen. Diese Ansicht findet sich bei den AnhängerInnen Gesells, bei der Galionsfigur der Linkspartei Sarah Wagenknecht, aber auch bei Marxisten wie Elmar Altvater. Sie wird in den Medien verbreitet und hat – zumal in Deutschland, wo dafür der Begriff der sozialen Marktwirtschaft geprägt wurde – vor allem die propagandistische Funktion, aufkommendes Unbehagen zu kanalisieren, in dem dieses auf scheinbare Auswüchse gelenkt wird, während der Kern kapitalistischen Wirtschaftens der Kritik entzogen bleibt. Für Graeber bedeutet Kapitalismus Börsenspekulationen, undurchsichtige Bankgeschäfte, Monopole und Konzernmacht, Zins und Wucher. Marktwirtschaft hingegen verbindet er mit ehrlicher Arbeit und fairem Tausch.

Zwischen Party und Klassenkampf

Neben Graeber dürfte die Gruppe CrimethInc. international einer der wichtigsten Repräsentanten des Anarchismus sein. Es handelt sich um ein Netzwerk, das in den USA entstanden ist, aber weltweit AnhängerInnen hat. Lange Zeit propagierte die Gruppe lediglich Diebstahl und Betrug, negierte aber einen organisierten Kampf gegen die Produktionsverhältnisse: »Wir weigern uns, in den Kampf um Trivialitäten wie Eigentum und Autorität einzutreten«, heißt es in dem Text Für unser Leben kämpfen (2002), der angeblich in einer Auflage von einer halben Million Exemplaren verbreitet wurde. Sie seien keine »Egalitaristinnen im herkömmlichen Sinn«, im Gegenteil: »Wir haben genau genommen auch nichts gegen das Eigentum, sondern wenden uns nur gegen die Albernheit, sich über Eigentum zu streiten«. Laut CrimethInc. existieren angeblich längst anarchistische Ökonomien. Als Beispiele nennen sie kommunale Gartenarbeit, Ladendiebstahl oder Containern. Eine Party im Haus der Eltern zu feiern oder einen Basketball für ein Spiel mit anderen im Park mitzubringen, gelten ihnen als Belege für eine nichtkapitalistische Ökonomie.

Heute erhebt CrimethInc. den Anspruch, eine anarchistische, explizit nichtmarxistische Analyse der Ökonomie zu entwickeln. Kapital und Lohnarbeit werden als Basiskategorien und Angriffspunkte benannt, ebenso verschiedene Organisations- und Aktionsformen. Außerdem bezieht sich CrimethInc. positiv auf die syndikalistische Gewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW). Allerdings übernimmt die Gruppe in ihrem neuen Buch Work, in dem es um Kapitalismus, Wirtschaft und Widerstand geht, auch gängige Vorstellungen der globalisierungskritischen Bewegung, wonach eine spekulative Finanzsphäre die Wirtschaft dominiert und wir in einem Kasinokapitalismus leben. Dabei lässt ihre Ansicht – Profite entstünden dadurch, dass ArbeiterInnen nicht der volle Wert ihrer Arbeit als Lohn ausgezahlt werde, während KonsumentInnen mehr für ihre Einkäufe bezahlen müssen, als die Produktionskosten ausmachen – grundsätzlich eher auf ein proudhonistisches Verständnis von Wirtschaft schließen.

Gegen Lohnsystem, Konkurrenz und Markt

AnarchokommunistInnen und revolutionäre Marx-istInnen haben gemein, dass sie das Privateigentum an Produktionsmitteln aufheben, das Lohnsystem zerschlagen, die Wirtschaft nach kollektiven und demokratischen Prinzipien neu organisieren und an der Herstellung von Gebrauchswerten ausrichten wollen. Das Grundprinzip des anarchistischen wie des Marx’schen Kommunismus lautete: Jeder Mensch sollte nach seinen Fähigkeiten arbeiten und ganz nach seinen Bedürfnissen konsumieren.

Der freiheitliche Kommunismus prägte die anarchistischen und anarchosyndikalistischen Massenbewegungen, die in Europa und Lateinamerika zwischen 1890 und 1939 existierten. Manche spanischen AnarchosyndikalistInnen gingen jedoch davon aus, dass nach der Revolution die Arbeit für längere Zeit noch eine Pflicht und der Konsum beschränkt bleiben würden. Das ist bemerkenswert, weil AnarchistInnen das Konzept einer Übergangsperiode üblicherweise als Vorwand der MarxistInnen zur Errichtung einer Diktatur brandmarken. Im Unterschied zu anderen AnarchistInnen aber erlebten die spanischen GenossInnen 1936 eine Situation, in der eine soziale Revolution wirklich greifbar schien und mussten sich daher mit den realen Schwierigkeiten einer solchen Situation auseinandersetzen.

Linken AnarchistInnen gelten Arbeitsteilung und moderne Industrie, im Gegensatz zu Proudhon, als ein Segen. Die höhere Produktivität würde der Plackerei ein Ende machen und es wäre mehr als genug für alle da. Auch Peter Kropotkin verwarf individualistische Ansätze als historische Relikte, als »Überbleibsel aus vergangenen Zeiten«. Die Produktionsmittel waren jedoch noch nicht weit genug entwickelt, um eine kommunistische Gesellschaft zu erreichen, die auf Überfluss basieren musste – eine Vorstellung, die er mit Marx teilte. Soziale und globale Arbeitsteilung sollten die Grundlage der modernen Industrie bilden, argumentierte Kropotkin, denn dadurch sei die Leistung der einzelnen gar nicht mehr feststellbar. AnarchokommunistInnen lehnen auch den Kollektivismus ab, der auf Bakunin zurückgeht, und vorsieht, dass die Menschen zwar gemeinsam produzieren, aber individuell nach Maßgabe ihrer Arbeit konsumieren sollen. Für Kropotkin war Kollektivismus eine unhaltbare Mischform zwischen Individualismus und Kommunismus, die er in erster Linie Proudhon und seine AnhängerInnen zuschrieb. Arbeitsscheine seien nichts anderes als ein Lohnsystem, womit eine Grundlage von Herrschaft aufrechterhalten werden würde. Scharf kritisierte Kropotkin auch, dass kompliziertere Arbeit besser bezahlt werden sollte als einfache Tätigkeiten.

In diesem Punkt wandte sich Kropotkin allerdings gegen Marx. Er hielt die Werttheorie für reine Ideologie, eine Erfindung, um Ungerechtigkeiten wie unterschiedliche Löhne zu verteidigen. In Wahrheit resultierten höhere Einkommen aus staatlich garantierten Privilegien, in diesem Fall dem Zugang zu höherer Bildung etwa von Ingenieuren und Ärzten. Auch der Profit der FabrikantInnen basiert nach Kropotkin auf einem Eigentumstitel. Eine im engeren Sinn ökonomische Erklärung für Ausbeutung entwickelte er also nicht.

Leider setzen sich die wenigsten AnarchistInnen ernsthaft mit Marx auseinander. Sie unterscheiden nicht zwischen Marx und dem Marxismus, letzteren verstanden sie als ein Dogmengebäude, als eine Rechtfertigungsideologie von sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien. Sie arbeiten sich manisch an Marx als dem großen Schurken ab, der Bakunin übel mitgespielt hat, oder lesen dessen Werk durch die Brillen von Lenin und Stalin. Typisch dafür sind Lucien van der Walt und Michael Schmidt. In ihrem Standardwerk Schwarze Flamme schreiben sie vom »klassischen Marxismus«, der bei ihnen eine Melange aus Marx, Engels, Kautsky und Lenin darstellt. Den fundamentalen Unterschied zwischen Proudhon und Marx, der schließlich zum Bruch zwischen beiden Theoretikern führte, begreifen sie nicht: Van der Walt und Schmidt unterstellen, beide hätten die gleiche Arbeitswertlehre verfochten, dabei übernahm Proudhon die Annahme mancher bürgerlicher Ökonomen, wonach der Wert einer Ware durch die konkrete Arbeit bestimmt sei, die zu ihrer Herstellung aufgewandt wurde. Nach Ansicht von Marx hingegen ist der Tauschwert einer Ware, vermittelt durch die Konkurrenz, durch die zur Herstellung im gesellschaftlichen Durchschnitt notwendige Minimum an Arbeitszeit bestimmt. Damit verwarf Marx die Idee eines »gerechten Lohns«, einer Tauschbank oder Arbeitsbörse, die auf der Gleichung basierten, der Wert einer Ware sei durch die konkret geleistete Arbeit bestimmt, der Lohn müsse darum dem Preis der Ware entsprechen.

Die Stärke der sozialistischen AnarchistInnen liegt demnach auch nicht in der Ökonomie, wenngleich sie Kapitalismus als totalitäres System begriffen, während IndividualanarchistInnen durch engstirnige Attacken auf Geld, Zins und Monopole jedes Verständnis blockierten und reaktionären bis faschistischen Tendenzen Vorschub leisteten. Dafür entwickelten linke AnarchistInnen ein umfassenderes Verständnis von Herrschaft, als es Marx und der Marxismus aufbrachten. Kropotkin wandte sich gegen Sozialdarwinismus und Eugenik, damals in der Linken durchaus verbreitet, heute im Gefolge von Gen- und Reproduktionstechniken sowie in den Bestsellern des Sozialdemokraten Thilo Sarrazin und des Tierrechtlers Peter Singer wieder salonfähig. Als nahezu die gesamte Linke dem Produktivitätsfetischismus huldigte, thematisierten Kropotkin und später Bookchin, dass der Kapitalismus nicht bloß Produktiv-, sondern auch Destruktivkräfte entwickelt, die die Umwelt zerstören. Das sind die Vorzüge des Anarchismus. Was die Ökonomie betrifft, kann die Linke getrost Bakunins Empfehlung folgen: Die Marx’sche Kritik liefert dafür das beste Handwerkszeug.

Peter Bierl

Der Autor arbeitet als freier Journalist und publiziert u.a. in Jungle World, Konkret und Rechter Rand.