Der Tag der Bestürzung ist vorbei, der Abend der Stammtische angebrochen. Das gilt auch für die wohl einflussreichste Stammtisch-Philosophen-Organisation der Gegenwart: Für Hollywood. Das betretene Schweigen der ersten Wochen nach dem 11. September 2001 ist gewichen: Da hatte noch so mancher Regisseur verschämt-betroffen das Haupt gesenkt, dessen Zerstörungsvisionen den vielfachen Mord scheinbar vorwegnahmen. Bruce Willis verkündet, nach dem realen schnellen Tod mehrerer Tausend amerikanischer Mitbürger aus Pietätsgründen demnächst nicht mehr virtuell langsam sterben zu wollen. Die Vergleiche der Bilder einstürzender Hochhäuser mit "Independence Day"-Szenarien ließ die Kino-Warlords vor der Realitätsmacht der eigenen Vision erschauern. Der Verdacht, das Terrorungetüm selbst miterschaffen zu haben, muss sich auch bei Produzenten wie dem Mega-Amerikaner Armageddon-Pearl-Harbor-Jerry-Bruckheimer eingeschlichen haben. Doch hat ein solches Erschauern auch immer etwas wohliges, ist es doch eines vor der eigenen dämonischen Größe und Macht. Der schwere Schlag, den Hollywood moralisch wegstecken musste, ist zugleich Bestätigung seiner übermenschlichen, überhistorischen Größe und Wahrheitstiefe. Doch bevor die Verliebtheit ins teuflische Selbst aus guten Amerikanern den entfesselten Doktor Frankenstein (nicht sein Monster, das ist ins WTC gekracht) machen oder seine schöpferische Kraft aus lauter Angst vor der eigenen Courage lähmen konnte, griff der politische Aufruf zu humanistischer Linientreue und Moral durch. Was Bush von der Filmindustrie forderte, war nicht Pietät durch Schweigen sondern ein Beitrag im "Krieg gegen den Terror". Dass das als Aufruf zu billiger Propaganda verstanden werden kann, haben einige der aufgeforderten Schauspieler und Regisseure durchaus kritisch thematisiert. Konsens in Hollywood scheint jedoch zu sein, dass eine kritische Auseinandersetzung mit "Terror" und ähnlich schwerwiegenden Themen mehr denn je gefordert ist - und sei es nur deshalb, weil man sich den eigenen way of life nicht durch ein paar dahergelaufene fundamentalistische Flugzeugentführer verderben lassen darf. In der reformierten Wiederaufnahme des Normalbetriebs liegt der Verdienst Hollywoods um den "Krieg gegen den Terror": Mit ihm kehren Krieg und Gewalt auf die Leinwand zurück - zu dem Ort, wohin der bürgerliche Humanismus sie nicht nur exportiert hat, sondern wo er ihre Visionen erschaffen hat. Heute können Jerry Bruckheimer, James Cameron und Ridley Scott ("Die Akte Jane") geläutert aus der Katharsis des 11. September 2001 hervorgehen und aufrecht Seite an Seite mit der Zivilgesellschaft einherschreiten.
Das Tier im Manne
Um das Schlingern der Hollywood Warlords durch die Gewaltdiskurse nachzuvollziehen, ist ein Blick auf ein paar ideologische Grundlagen der "westlichen Demokratie" hilfreich. Deren aufgeklärtem Humanismus war Gewalt schon immer fremd und gleichzeitig unabdingbare Vorraussetzung ihrer selbst - und das nicht nur praktisch, sondern insbesondere ideologisch. Die Demokratie ist angetreten mit dem Versprechen, eine menschliche Natur zu zügeln, die sie selbst als egoistisch und gewalttätig festgeschrieben hat. Der Zügelhalter des menschlichen Ur-Ungetüms ist die menschliche Kultur, die in der Lage ist, Natur zu erkennen und geeignete Maßnahmen zu ihrer Lenkung zu ergreifen. Das Bild vom wilden, zu zähmenden Urwesen Mensch ist Ergebnis vielfacher Diskurse, die vom "Männer sind so"-Slogan des FHM rangieren bis zur naturwissenschaftlichen Theorie vom "egoistischen Gen". Die Legitimation der bürgerlichen Gesellschaften ist es, menschlichste Repräsentation der ultimativen, gnadenlosen Wahrheit des Fressen und gefressen Werdens zu sein - eine Wahrheit, die sie freilich selbst erfunden hat. Je vermittelter, indirekter diese Wahrheit in einer Gesellschaft zum tragen kommt, als desto zivilisatorisch fortgeschrittener wird sie betrachtet.
Zivilisation kann damit niemals ihr Endziel erreichen, nämlich die von ihr imaginierte gewaltsame Natur des Menschen aufzuheben - denn erstens ist sie Natur und damit qua definitionem wesenhaft und unaufhebbar, zweitens müsste eine solche Aufhebung die des Marktes einschließen als vermittelte Instanz des Naturprinzips. Wenn der Markt nicht mehr da wäre, um dieses Prinzip zu zügeln, müsste es dem aufgeklärten Glaubenssystem zufolge aufs neue gewaltsam hervorbrechen. Wieder bei den Stammtischen angelangt manifestiert dieser Glaube sich in der Weisheit "Der Mensch ist nicht fürs Paradies gemacht". Wie wahr - die Frage ist nur: Was hat ihn nicht fürs Paradies gemacht? Der Stammtischphilosoph beißt sich selbst in den Schwanz (leider nicht wörtlich), denn, platt gesprochen: Er war's, zugegebenermaßen stellvertretend für den ideologischen Diskurs Neuzeit.
Und das Kind im Manne
Damit sind wir beim Dilemma der bürgerlichen Gesellschaft angekommen: Glaubt sie an ihre eigene Analyse des Natur/Kultur-Verhältnis, muss sie die Gewalt in sich haben. Glaubt sie an das eigene Versprechen der Aufklärung, muss sie die Gewalt aus sich verbannen. Wären solche inneren Widersprüche ein Indiz für den Untergang einer Gesellschaftsordnung, dann hätten die gewalttätigen Hände der Aufklärung ihrem vernünftigen Kopf schon in der Wiege das Blut abgedrückt (Das hätten wir wohl bemerkt). Gerade die innere Ambivalenz zur Gewalt gibt der westlichen Demokratie ihre Fähigkeit, diese glaubhaft bis zur Selbstüberzeugung zugleich abzulehnen und zu praktizieren. Vermittelte Gewalt zügelt unvermittelte Gewalt. Was als vermittelt gilt und was als unvermittelt, hat dabei weniger mit der realen Ausübung zu tun als mit dem Grad an Zivilisation, der den Ausübenden zugesprochen wird.
Doch letztlich kann auch größte "Zivilisiertheit" nicht darüber hinwegtäuschen, dass die bürgerliche Gesellschaft sich Prämissen gesetzt hat, die ihr auf ewig das selbstgesetzte Ziel des Ausstiegs aus der eigenen Unmündigkeit verwehren. Die Demokratie kann nie ganz erwachsen werden, und deshalb braucht sie Hollywood. "Mediengewalt" ist ein Erinnerungsanker - der dem aufgeklärten Individuum sagt, dass Gewalt eben nicht nur da draußen bei den Arabern ist, die noch nicht ausreichend mit Zivilisation ausgestattet sind, sondern doch auch im eigenen Inneren - abgelehnt, ungeliebt, aber nicht zu leugnen. Die Gewalt ist das Versprechen, das die wohligen Schauer erzeugt - die scheinbare Erkenntnis des schlummernden, tierischen Selbst und die Bestätigung, es zu kontrollieren. Dieses Selbst ist nicht vor der Zivilisation, sondern ist von ihr auf Leinwänden, zwischen Buchdeckeln, in Wissensproduktion und in sozialen Praxen hergestellt. So war auch der Anschlag aufs WTC kein rückständiger Akt einer Gesellschaft vor der Zivilisation, sondern kam direkt aus ihrem schwarzen (weil fremden) Herzen.
Alles wird wahr
Doch obwohl der Exzess der Gewalt in der aufgeklärten Ideologie seinen Platz hat als menschliches Ursinnen (das durchaus praktisch ausagiert werden kann und wird), war der Anschlag auf das WTC ein Schock für ihr Selbstverständnis. Nicht, weil seine Opfer Amerikaner waren, sondern weil er eine Symbolsprache genutzt hat, die bislang Kennzeichen der als aufs äußerste vermittelten, im Hollywood-Kino exerzierten virtuellen Gewalt war. Letztlich war es die Ahnung von der Wirkmächtigkeit der eigenen Vision, die die Filmindustrie erschreckt nach Luft schnappen ließ. Das Gewaltspektakel am 11. September 2001 war insofern beispiellos, dass seine Spektakularität bislang nur in "Independence Day" & Co. Vorbilder finden kann. Das unschuldig inszenierte, tierhafte Selbst ist blutig aus der Leinwand getreten.
Aber die bürgerliche Gesellschaft wäre nicht so erfolgreich wie sie ist, wenn sie sich vor den Geistern, die sie rief, fürchten würde. Hollywoods Mission im Krieg gegen den Terror ist klar: Die Flasche wieder verkorken, das Gespenst zurück auf die Leinwand schleudern. Im Zuge dessen mag es zu symbolischen Umdeutungen kommen, die sich in "kritischer Auseinandersetzung" der Regisseure mit dem Terror manifestieren. Eins dürfte jedoch gesichert sein: Die Demokratie wird sich ihr unschuldiges Gewalt-Selbst nicht durch die als Gewalt-Anderen definierten beflecken lassen.
Phase 2 Berlin