Debatten um Bioethik, Gentechnik und Reproduktionstechnologien sind ein gesellschaftlicher Dauerbrenner. Werden sie kritisch geführt, stehen oft Diskussionen um die zunehmend genetische Bestimmung von Verwandtschaft und die Warnung vor »Designbabys« im Vordergrund. Die Reproduktionstechnologien gewidmete Ausgabe von Das Argument (275/2008) thematisiert folgerichtig das Problemfeld »Pränataldiagnostik« und die Klonforschung aus verschiedenen Perspektiven. Am interessantesten ist aber Michi Knechts Versuch andere mögliche Antworten, als »ein klares Ja« (179) auf die Frage zu finden, ob sich »durch Reproduktionstechnologien das kulturelle Verständnis von Verwandtschaft und die Vielzahl gelebter und praktizierter verwandtschaftlicher Bindungen auf Formen reduziert, die auf genetischer Abstammung beruhen« (ebd.). Sein Artikel führt kurz in verschiedene medizinische und soziologische Studien zum Thema ein, illustriert aber seine Überlegungen auch mit einem konkreten Fallbeispiel, einer Familie, die sowohl ein Kind durch künstliche Befruchtung im Reagenzglas als auch durch Adoption bekommen hat. Daran zeige sich, dass »genetische Verwandtschaft und soziale Verwandtschaft [...] in gleicher Weise hergestellt« (192) sind.
Auch in Dorothee Brockhages Dissertation Die Naturalisierung der Menschenwürde in der deutschen bioethischen Diskussion nach 1945 finden sich einige lohnende Exkurse zum Thema Verwandtschaftsbeziehungen und dem Einfluss moderner Reproduktionstechnologien auf ebendiese. Ist auch der Titel der Arbeit sperrig und der Einstieg etwas trocken, so findet man doch einige interessante Stellen, in denen sie darlegt, wie ambivalent der Begriff der »Menschenwürde« genutzt wurde, um konventionelle (Klein-) Familienmodelle zu stärken. Vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren wurde von juristischer, medizinischer und theologischer Seite versucht, paternalistische Konzepte von Familie, Weiblichkeit und Elternschaft, Geschlecht und Sexualität festzuschreiben. So konnte sich etwa bei Impotenz die homologe Inseminiation (d.h. Befruchtung der weiblichen Eizelle durch Spermien des Partners) schon bis zum Ende der fünfziger Jahre und damit relativ schnell durchsetzen. Selbst Vertreter der Evangelischen Kirche erachteten sie bei familiärem Kinderwunsch als zulässig, insofern sie »eingebettet ist in eine Liebesbeziehung der Gatten« (23). Die heterologe Inseminiation (d.h. die Befruchtung der weiblichen Eizelle durch einen meist anonymen Spender) wurde hingegen selbst im Fall von Sterilität von den Vertretern aller Fraktionen durchgehend als »sittliches und religiöses Problem« abgelehnt. Wie Brockhage lakonisch feststellt, zeigten »die Beratungen der Großen Strafrechtskommission über die potenzielle Strafbarkeit der heterologen künstlichen Inseminiation [...] in exemplarischer und repräsentativer Weise die Gefühlslage der Beteiligten« (17). Diese Männer argumentierten, durch die Samenspende würden die »Fundamente unserer abendländischen Kultur« (18) angegriffen, sowie die guten Sitten und natürlich die »Menschenwürde« des auf diese Weise gezeugten Kindes und des (sozialen) Vaters.
Dorothee Brockhage verfolgt die sich so zeigende medizinische, juristische und theologische Verwendung des Begriffs »Menschenwürde« in Bezug auf bioethische Diskussionen in Deutschland bis in die jüngste Vergangenheit. Dabei verbindet sie durchaus plausibel juristische Fakten, medizinische Ergebnisse und gesellschaftliche Diskurse, wie zum Beispiel die feministische Kritik, Reproduktionsmedizin sei Repression, oder die Debatten um Eugenik, Pränataldiagnostik, Wunschkindmentalität und reproduktive Klonierung zu einem dichten, informativen Ganzen. Da die Dissertation sich aber vorrangig philosophisch mit dem abstrakten Begriff der Menschenwürde auseinandersetzt, dient ihr zweiter Teil der Darstellung verschiedener Konzepte von Menschenwürde zur Untermauerung und als Erklärungsmodell für die untersuchten Ereignisse. Diesen Teil leitet Brockhage ein, indem sie sich theoretisch dem Gegensatz von Natürlichkeit und Künstlichkeit, d.h. dem paradigmatischen Gegensatzpaar bioethischer Debatten, widmet. Sie stellt fest: »Jeweils wird das Natürliche dem Künstlichen, das Vorgegebene dem Gemachten vorgezogen« (127). Dabei ist es die Aufwertung des Zufalls als Essenz von Natürlichkeit, die zur Tabuisierung technischer Eingriffe beiträgt, die steuernde Intervention zur Aufgabe haben. Gleichzeitig stellt sie auch heraus, dass sich die Toleranzgrenzen in puncto Künstlichkeit in individuellen Leidens- und Krankheitssituationen zugunsten der neuen Technologien verschieben, bzw. oftmals eine relativierende Differenzierung stattfindet, aber dass »kein massenhaftes Abwenden von der Natürlichkeit (zu) erwarten (ist)« (128).
Wie angesichts der bisherigen Entwicklung deutlich wird, ist mit erfolgreichen Ergebnissen oft eine relativ schnelle Liberalisierung der Haltungen zu Reproduktionstechniken zu erkennen. Sind die Reaktionen auf das erste durch In-vitro-Fertilisation (künstliche Befruchtung der Eizelle außerhalb des Uterus) gezeugte und zur Welt gebrachte »Retorten-Baby« Louise Brown auch nicht ungeteilt positiv, so wird »überwiegend [...] in der ersten geglückten In-vitro-Fertilisation selbst jedoch keine Grenzüberschreitung gesehen« (48), weil sich mit ihr für bis dato kinderlose Paare neue Perspektiven entwickeln, genetisch eigene Kinder zu bekommen. Auch die zunehmende Technologisierung der Gesellschaft mindert die Skepsis gegenüber den neu entwickelten Reproduktionsmethoden. Lediglich der Forschung und dem Experimentieren mit Embryonenmaterial wird mit dem »Lebensschutzgesetz« eine Grenze aufgezeigt. Dass trotz allen Fortschritts nicht davon abgesehen werden kann, dass der Staat restriktiv in die Familienplanung eingreift, zeigt sich in der Diskussion um Eizellenspende und Leihmutterschaft; Verfahren, die in Deutschland weiterhin verboten sind. Hier greift wieder das Natürlichkeitsargument, »während die Samenspende einen natürlichen Vorgang nachahmt, wird mit der Eispende ein Schritt getan, der sich von der natürlichen Fortpflanzung weit entfernt« (61). Des Weiteren ist, anders als zum Beispiel in den USA oder Holland, die Spende von Samen an alleinstehende Frauen und lesbische Paare in Deutschland verboten. Homosexuellen Paaren bleibt durch Verbot von Leihmutterschaft und Eizellenspende der Wunsch auf diesem Wege ein Kind zu bekommen verwehrt. Alles dient dem »Schutz von Ehe und Familie« (59). Deutlich wird, dass neue Verwandtschafts- und Familienkonzepte noch keinen Eingang in die Diskurse um Reproduktionstechnologien gefunden haben.
Während die Reproduktionstechnologien darauf zielen, Familie herzustellen, wo das ohne Technik nicht gelingen will, beschäftigt sich Luc Boltanksi mit dem entgegengesetzten Aspekt der Familienplanung: Der Abtreibung als Möglichkeit, den Zeitpunkt festzulegen, an dem eine Frau trotz Schwangerschaft keine Familie möchte. Die Thesen in Boltanskis Soziologie der Abtreibung werden von verschiedenen Fallbeispielen aus Frankreich begleitet, an denen sich u.a. zeigt, dass sich die Gründe, aus denen eine Abtreibung für die jeweiligen Frauen legitim war, sehr ähneln. Zum Teil auch gegen Boltanskis aus dem Material gewonnene Vermutungen. So nimmt er an, dass das Projekt der Zeugung eines Kindes auf der Übereinstimmung der Partner beruht – ungeachtet ihrer Beziehung zueinander, d.h. auch in einer Partnerschaft, die nicht auf Dauer angelegt ist. Hier zeigt die Mehrzahl der Beispiele, dass dies für einen Großteil der Frauen keine Option ist. Eines der häufigsten Argumente für den Schwangerschaftsabbruch ist vielmehr, dass das Kind nicht ohne Vater und ohne Familienanbindung aufwachsen soll.
Trotz solcher Widersprüche bleibt Boltanskis Anspruch, auf seinem Gebiet Pionierarbeit zu leisten. Die Methode der Abtreibung war nie Gegenstand einer Darstellung, da sie zwar toleriert, aber gleichzeitig auch missbilligt wurde. Zudem existierte der Embryo in der Menschheitsgeschichte lange Zeit überhaupt nicht, was zu einer weiteren These Boltanskis führt: Der Fötus werde erst durch die »Adoption« durch die Mutter zum Teil der Gesellschaft, und also zum Menschen. Das heißt, die Mutter erklärt den Fötus »in ihr« mit einem Sprechakt zu einem Teil bestehender Verwandtschaftsverhältnisse. (88ff./95) Erfolgt dieser Sprechakt nicht, »ist im Uterus nichts«. (229ff.) Die entsprechende Erklärungsmacht unterliegt, laut Boltanski, prinzipiell allein der Autorität der Mutter. Allerdings kann diese Autorität durch äußere Umstände untergraben werden. Im Kapitel über die Konstruktion fötaler Kategorien zeigt Boltanksi, dass nur im positiven Fall – also im Fall einer »Adoption« – von einem Baby gesprochen wird. Nach dem Beschluss zur Abtreibung ist von »Fötus«, »Embryo« oder »Dottersack« die Rede, wird also der Embryo wiederum durch einen anderen Sprechakt determiniert.
Auch Barbara Orland fragt in dem Sammelband Sexualität als Experiment: »Wie lebt es sich eigentlich als Embryo?« Das zielt auf die Identität des Embryos, der schon längst »ein Politikum« (311) geworden sei. Denn im Gegensatz zur Medizin, in der die Bezeichnung »Embryo« nur etwa die ersten acht Wochen in der Entwicklung eines Menschen beschreibt, ist der Begriff »Embryo« eine »Art Name« im gesellschaftlichen Diskurs, »der ein biologisches Wesen subjektiviert« (315). »Der Embryo wird zur Person, zum Individuum, dem je nach politischem Standort eine entsprechende Wertschätzung entgegengebracht wird« (315). Aber auch weitere Beiträge in Sexualität als Experiment sind lesenswert, so beschäftigt sich Eva-Maria Knoll in ihrem Text mit den Schwierigkeiten, mit denen alleinstehende Frauen zu kämpfen haben, wenn sie ein Kind ohne dazugehörigen Vater wollen. Eine Problematik, die uns schon bei Brockhage begegnet ist, da es für alleinstehende Frauen in Deutschland fast unmöglich ist, Samenspenden zu bekommen. Weitere Abschnitte beschäftigen sich mit Frigidität und Lustgewinn, Körpermodifikation und (vermeintlichem) Hermaphroditismus. Die Beiträge sind so geschrieben, dass sie sich als Einstieg zum gewählten Thema gut eignen.
Luc Boltanski: Soziologie der Abtreibung. Zur Lage des fötalen Lebens, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007, 541 S., € 29,80.
Dorothee Brockhage: Die Naturalisierung der Menschenwürde in der deutschen bioethischen Diskussion nach 1945, LIT-Verlag, Münster u.a 2007, 248 S. € 24,90.
Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften: Reproduktionstechnologien, 50. Jg., Heft 275, 2/2008, Argument-Verlag, Hamburg 2008, S. 179–240, € 11,00.
Nicolas Pethes und Silke Schicketanz (Hrsg.): Sexualität als Experiment. Identität, Lust und Reproduktion zwischen Science und Fiction, Campus, Frankfurt/Main und New York 2008, 417 S., € 34,90.
MARIA MÖRIKE