Wenn der österreichische Autor Martin Birkner verkündet, »[d]ie Linke hat die besseren Analysen, die besseren konkreten Utopien und die besseren Vorschläge zu ihrer politischen Umsetzung, alleine: Sie wird nicht oder zu wenig gehört.«Martin Birkner, Aufhebung der Institutionen als konkrete Utopie, in: Alexander Neupert-Doppler (Hrsg.), Konkrete Utopien. Unsere Alternativen zum Nationalismus, Stuttgart 2018, 258., so möchte man dem entgegnen: Die Linke besitzt großenteils überhaupt keine Analysen und konkreten Utopien. Und besitzt sie doch konkrete Utopien, handelt es sich zumeist um autoritär-hierarchische Modelle einer etatistischen Avantgarde- Herrschaft, die für die Masse der lohnabhängigen Bevölkerung—die es zu überzeugen gälte—nicht attraktiv sind. Dass die Masse der lohnabhängigen Bevölkerung der Linken kein Gehör schenkt, liegt zum großen Teil an der inhaltlichen Ausrichtung der Linken selbst und der tatsächlichen historischen Erfahrung mit selbsternannten, autoritär agierenden »Avantgarden«.
Eine Neuausrichtung hin zu einem antiautoritären »Sozialismus von unten« (Hal Draper) kann nur das Resultat kollektiver Lern- und Selbstverständigungsprozesse sein. Daher ist der vorliegende Text nur als ein Vorschlag, als Anregung zu Diskussion, Kritik und Selbstverständigung zu betrachten. Die Bezugnahme auf die historische Entwicklungsgeschichte emanzipationstheoretischen Denkens seit Karl Marx und Michail Bakunin bleibt jedoch unerlässlich. Mein Buch Befreiung heute, auf dessen Schlusskapitel der vorliegenden Text beruht, versucht eine Nachzeichnung der historischen Genealogie emanzipationstheoretischen Denkens von Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart.Jan Hoff, Befreiung heute. Emanzipationstheoretisches Denken und historische Hintergründe, Hamburg 2016.
Das entscheidende Prinzip, das durch einen gesellschaftlichen Umwälzungsprozess verwirklicht werden kann, ist das einer möglichst weitreichenden Autonomie. Was heißt in diesem Zusammenhang Autonomie? Man könnte sich dieser Frage zunächst mit der Überlegung annähern, was unter Autonomie nicht zu verstehen ist: nämlich das, was André Gorz kritisch als »Autonomie innerhalb der Heteronomie«André Gorz, Arbeit zwischen Misere und Utopie, Frankfurt a.M. 2000, 58. bezeichnet hat. Letztere ist eine bloße Teil-Autonomie, eine etwas größere, mit der Charakterisierung post-fordistisch verbundene, »Freiheit« der ArbeiterInnen in den konkreten Arbeitsabläufen, die aber ganz im Rahmen des kapitalistischen Produktionsprozesses verbleibt. Im Gegensatz dazu muss es uns um eine wirklich umfassende Autonomie gehen, deren Realisierung an die emanzipatorische Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsform gebunden ist.
Dass im Mittelpunkt des freiheitlichen Sozialismus die Autonomie stehen sollte, bedeutet nichts anderes, als dass die Menschen in selbstbestimmter Weise »die bewussten Lenker ihres eigenen Lebens« (Cornelius Castoriadis) sein sollen. Dieses Prinzip schließt die partizipatorische Teilhabe aller Menschen ein, die Geschicke einer sozialistischen Gesellschaft auf allen den Einzelnen betreffenden Ebenen aktiv mitbestimmen zu können. Das Gegenteil dieses Prinzips sind Fremdbestimmung und Unterwerfung, die das Leben der Individuen beeinträchtigen und beschädigen. Sei es durch einen von den unmittelbaren ProduzentInnen zwar hervorgebrachten, ihnen aber entfremdeten und letztlich unkontrollierbaren gesellschaftlichen Zusammenhang; sei es durch den expansiven Akkumulationstrieb des Kapitals, der sich im Heißhunger nach einer möglichst großen Menge Mehrarbeit zeigt und den Individuen den zu freier, kreativer Selbstentfaltung nötigen zeitlichen Freiraum raubt. Sei es durch die autoritäre Kommandogewalt im Arbeitsprozess, die den Arbeitsplatz zur gemilderten Strafanstalt macht oder durch die staatstypische »Beherrschung der Massen von oben nach unten«, wie sie Bakunin, nicht zuletzt auch in der historischen Form eines etatistisch-autoritären »Sozialismus von oben«, kritisierte.
Ein Denker, auf den man sich in diesem Zusammenhang stützen kann und sollte, ist immer noch Karl Marx. Davon, dass Marx dem Projekt der Autonomie nicht treu geblieben ist—wie dies Castoriadis behauptete—kann keine Rede sein. Dass der Autor des Kapital dieses emanzipatorische Projekt nicht systematisch ausgearbeitet hat, steht auf einem anderen Blatt. Umso mehr ist es heute nötig, in dieser Frage auf der Grundlage des marxschen Werks über Marx hinauszugehen und die von ihm entwickelten emanzipationstheoretischen Denkansätze weiter zu entwickeln und zu ergänzen.
Marx hat überzeugend gezeigt, dass das Telos der kapitalistischen Produktion in der selbstzweckhaften Akkumulation des Kapitals, in der möglichst immer weiter gesteigerten Selbstverwertung des Kapitals besteht. Der Akkumulationstrieb des Kapitals fordert die größtmögliche Verausgabung von Mehrarbeit und verhält sich daher rücksichtslos gegenüber der Lebenszeit der unmittelbaren ProduzentInnen und deren Bedürfnis nach möglichst viel frei verfügbarer Zeit außerhalb des Arbeitsprozesses. Diese frei verfügbare Zeit, ist der Raum des von Marx beschriebenen »wahren Reichs der Freiheit«, die Sphäre der Autonomie des Individuums—eine Sphäre der vollen und freien Selbstentfaltung und der selbstzweckhaften kreativen Tätigkeit von Körper und Geist. Auch wenn das materielle Massenelend in den Ländern des hochentwickelten Kapitalismus weitgehend beseitigt ist, bleibt das Desiderat einer befreiten Gesellschaft, in der die Individuen ein an frei verfügbarer Zeit reicheres und daher stärker selbstbestimmtes und erfüllteres Leben führen könnten als im hochentwickelten Kapitalismus. Die bei Marx zumindest komprimiert angelegten, wenn auch rezeptionsgeschichtlich oft übersehenen Ansätze zu einer Ethik der Autonomie der Individuen könnten sich hier als tragfähig erweisen.
Marx geht es aber nicht allein um die individuelle Autonomie, sondern auch um eine—deren Rahmen bildende—kollektive Autonomie, in der die assoziierten ProduzentInnen den gesellschaftlichen Produktionsprozess ihrer gemeinschaftlichen bewussten Kontrolle und Gestaltung unterwerfen, anstatt von ihm als einem ihnen entfremdeten, eigendynamischen Zwangszusammenhang fremdbestimmt zu werden. Der gesellschaftliche Produktionsprozess soll »als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewusster planmäßiger Kontrolle«Karl Marx, Das Kapital, Marx-Engels-Werke (MEW) 23, 94. stehen. Dabei ist das Gemeineigentum an den Produktionsmitteln, die gemeinschaftliche Verfügungsgewalt über sie, vorausgesetzt.
Die individuelle Autonomie der Einzelnen und die kollektive Selbstbestimmung der assoziierten ProduzentInnen über den gesellschaftlich-ökonomischen Gesamtprozess sind in einem engen Zusammenhang zu denken. Beide Aspekte zusammengenommen machen das marxsche Emanzipationskonzept aus. Es weist entschieden über den Kapitalismus hinaus und umfasst eine tiefgreifende Revolutionierung des Alltagslebens, die im Zentrum emanzipatorischer Theorie und Praxis stehen muss.
Dass nicht etwa die von Marx kritisierte »rohe Gleichmacherei«Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 489., sondern das Prinzip des freien, selbstbestimmten Lebens von Individuum und Gesellschaft den Kerngehalt des marxschen Emanzipationsdenkens bildet, wurde von verschiedenen Rezipienten mehr oder minder klar rekonstruiert. In den Hauptströmungen des Marxismus im späten 19. und im 20. Jahrhundert blieb diese Einsicht jedoch unter rezeptionshistorischen Verkürzungen und Umdeutungen verschüttet. In großen Teilen der traditionellen ArbeiterInnenbewegung wurde die Distributionsfrage mit den Kriterien der sozialen Gleichheit auf einseitige Weise in den Mittelpunkt gestellt. Liegt der Fokus jedoch nicht mehr auf der aktiven Teilhabe der Einzelnen an einer gemeinschaftlichen Selbstbestimmung im gesellschaftlichen Lebensprozess, sondern primär auf einer egalitaristischen Neuregelung der »Verteilungsfrage«, ist einer Auflösung des emanzipatorischen Potentials Tür und Tor geöffnet. Eine Gesellschaft, in der die Einzelnen zu zwar gut genährten, aber passiven und fremdbestimmten Objekten degenerieren, ist eine schlechte Karikatur des Sozialismus.
Eine Diskussion der Frage, wie genau die individuelle und die kollektive Autonomie innerhalb einer von Kapital, Wert und Warenform befreiten Gesellschaft aussehen könnte, darf sich nicht auf die notwendige Rekonstruktion, der im marxschen Werk verstreuten emanzipationstheoretischen Überlegungen beschränken. In diesem Punkt gilt es, über Marx hinauszugehen.
Bekanntlich bezeichnete Marx, in Reflexion auf die Etablierung und das Scheitern der Pariser Kommune 1871, diese als die »endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.«Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, MEW 17, 342. Diese Formulierung legt nahe, dass es erst der politischen Aktion der Pariser RevolutionärInnen bedurfte, um in der Praxis diese Entdeckung der politischen Form zu leisten. Man könnte die entsprechende marxsche Einsicht übertragen auf den »Verein freier Menschen, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewusst als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben.« Hiermit ist nicht die politische Form der Emanzipation gemeint, sondern die ökonomisch-gesellschaftliche. In diesem »Verein freier Menschen« soll das Prinzip der kollektiven Autonomie, der bewussten gemeinschaftlichen Gestaltung des ökonomischen Lebens zur Geltung kommen. Die spezifische Gestalt, die der »Verein freier Menschen« annehmen kann, ist ebenfalls in der Praxis zu entdecken.
Diese Aufgabe der Entdeckung in der Praxis ist nur durch die Träger des emanzipatorischen Prozesses selbst zu leisten. Doch dies bedeutet nicht, dass die Eule der Minerva erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug beginnt, dass die Theorie somit auf eine bereits vollzogene Praxis warten muss. Im Gegenteil, emanzipatorische Praxis ist durch theoretische Reflexions- und Selbstverständigungsprozesse vermittelt und wird durch Lernprozesse angeleitet. Eine tragfähige Vision von der befreiten Gesellschaft bleibt die notwendige Bedingung der emanzipatorischen politischen Praxis.
Kollektive Autonomie verweist in diesem Kontext auf das Prinzip der gemeinschaftlichen Selbstverwaltung seitens der unmittelbaren ProduzentInnen innerhalb einer sozialistischen Gesellschaft. Damit ist zugleich eine Alternative zur staatssozialistischen Kommandowirtschaft benannt. Ähnlich wie in der sozialistischen Selbstverwaltungsökonomie dem Produktionsmittel die Kapitalform als eine historisch-spezifische Formbestimmtheit abgestreift wird, verlieren die Funktionen der Leitung und Planung im Produktionsprozess ihren antagonistischen, gegenüber der Masse der Arbeitenden entfremdeten Charakter. Diese Funktionen der Leitung und Planung, die in der sozialistischen Selbstverwaltungswirtschaft in den Händen der assoziierten ProduzentInnen selbst liegen, betreffen indes nicht nur die betriebliche, sondern auch die gesamtgesellschaftliche Ebene. Das Selbstverwaltungsprinzip muss sich auf beide Ebenen erstrecken.
Ein Kernbestandteil des emanzipatorischen Prozesses muss in der grundlegenden Umwälzung der gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse bestehen. Mit der Schaffung sozialistischer Produktionsverhältnisse verliert der ökonomische Gesellschaftszusammenhang seine naturwüchsige Unkontrollierbarkeit, die sich den ProduktionsagentInnen innerhalb der kapitalistischen Ökonomie in Gestalt von übermächtigen »Sachzwängen« entgegenstellt. Der ökonomische Lebensprozess der Gesellschaft verliert seinen eigendynamischen Zwangscharakter, er wird zu einem transparenten und in partizipatorischer Weise bewusst gestaltbaren Prozess. So kommt die kollektive Selbstbestimmung der assoziierten Produzent-Innen zur Geltung.
Die sozialistische Gesellschaft kann zugleich den Entfaltungsrahmen einer weitreichenden Autonomie auf individueller Ebene bilden. Eine befreite Gesellschaft besteht erst dann, wenn das Alltagsleben der Individuen durch eine möglichst weitreichende Selbstentfaltung geprägt ist. Hier kann man sich auf die marxschen Überlegungen zum Zusammenhang von Produktivkraftentwicklung und frei verfügbarer Zeit, zur »vollen und freien Entwicklung jedes Individuums«, stützen. Die Verkürzung der Arbeitszeit ist hier von entscheidender Bedeutung, denn erst sie schafft den für ausreichend Muße und individuelle Selbstentfaltung nötigen Freiraum. Diese individuelle Selbstentfaltung vollzieht sich hauptsächlich in Form selbstbestimmter kreativer Tätigkeit außerhalb des Arbeitsprozesses im eigentlichen Sinne. Doch sollte man illusionslos anerkennen, dass in der befreiten Gesellschaft ein »Reich der Notwendigkeit«, d. h. die »durch Not und äußere Zweckmäßigkeit« bestimmte Arbeit, erhalten bleibt. Natürlich muss versucht werden, den Arbeitsprozess in unterschiedlichster Hinsicht so wenig belastend wie möglich zu gestalten. Dennoch wird ein unverzichtbarer Rest von körperlich verzehrenden, monotonen oder sogar gefährlichen Arbeiten existieren, die nicht durch Maschinen übernommen werden können. Es ist indes nicht schwer, sich »Vereinbarungen vorzustellen, nach denen diejenigen, die die schwerste Arbeit verrichten, die kürzeste Arbeitszeit haben.«William Morris, Nützliche Arbeit oder nutzlose Plackerei, München 2013, 27.
Selbstverständlich wird sich der Durchschnittsmensch der Zukunftsgesellschaft nicht auf das geistig-schöpferische Niveau von Aristoteles, Goethe oder Marx erheben, wie Leo Trotzki es einst erhoffte.Problematisch an dieser Aufzählung ist, dass Trotzki in seinem Genie-Beispiel keine einzige Frau erwähnt. Aber die aktive Ausbildung und freie Entwicklung der kreativen Anlagen jedes Individuums kann zu einem erfüllteren Leben der Einzelnen beitragen. Die individuelle Autonomie kann jedoch nur infolge eines kollektiven Umwälzungsprozesses—d. h. durch die Abschaffung des kapitalistischen Systems—erreicht und gesichert werden. Denn nur dadurch kann der der Kapitalakkumulation innewohnende expansive Drang, das Leben und die Lebenszeit der Individuen der sich immer weiter steigernden Selbstverwertung des Kapitals unterzuordnen, ein für alle Mal beseitigt werden.
Weder ist die Verwirklichung einer befreiten Gesellschaft in einer sich gesetzmäßig vollziehenden historischen Entwicklungslogik mit Notwendigkeit angelegt, noch existiert ein klassenförmig definiertes Kollektivsubjekt, das dazu prädestiniert ist, den Übergang zum Sozialismus aktiv zu bewältigen und somit eine vorherbestimmte »historische Mission« zu erfüllen. Die entsprechenden Grundaxiome des traditionellen Marxismus haben sich als nicht haltbar erwiesen. Ähnliches gilt für die traditionsmarxistische Erwartung sozial-ökonomischer Verelendungsprozesse, die gegenwärtig in modifizierter Form wiederauflebt. Auch die Verschiebung der marxschen Akkumulations- und Krisentheorie in Richtung einer Lehre des Zusammenbruchs, die auf eine finale Krise hofft, darf als fragwürdig gelten.
Hingegen muss festgehalten werden, dass der gesellschaftliche Emanzipationsprozess nur kollektiv, d. h. durch Vereinigungen von gemeinsam handelnden Individuen, und nur in Gestalt sozialer Auseinandersetzungen durchgesetzt werden kann. Ob die Überwindung des Kapitalismus und die Errichtung des sozialistischen »Vereins freier Menschen« gelingt, ist genauso wenig voraussehbar wie die konkreten Formen, in denen sich ein sozialer Transformationsprozess vollziehen könnte. Doch ist gemeinsames Handeln nicht möglich ohne verbindliche gemeinsame Zielvorstellungen.
Die Frage nach dem konkreten Ziel der emanzipierten Gesellschaft ist alles andere als illegitim, hier muss Theodor W. AdornoVgl. Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt a.M. 2003, 177f., 299. widersprochen werden. Die hier favorisierte Antwort weist in Richtung einer möglichst weitreichenden Realisierung individueller und kollektiver Autonomie. Dieser Begriff bezeichnet ein fundamentales emanzipatorisches Grundprinzip, an dem sich die auf die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise ausgerichteten Bewegungen orientieren sollten. Eine derartige Neuorientierung kann nur ein Resultat intensiver Diskussions- und Selbstverständigungsprozesse sein.
Auch wenn die ArbeiterInnen-exklusivistischen Prämissen des traditionellen Marxismus kritisch zu hinterfragen sind, so muss es dennoch einen aktiven Träger des umfassenden Transformationsprozesses mit dem Ziel der befreiten Gesellschaft geben. Wer zu diesem »Subjekt« zählt, ist indes eine Frage des politischen Denkens und Handelns, d. h. die Antwort ist—hier ist Johannes Agnoli rechtzugeben—nicht a priori aus der abstrakten Analyse der kapitalistischen Produktionsweise und der entsprechenden Klassentheorie zu gewinnen.
Die Praxis der Befreiung ist »als Selbertun der sich Befreienden« aufzufassen. Zu dieser emanzipatorischen Selbsttätigkeit gehört auch das Selberdenken und Selberdiskutieren der sich Befreienden. Politisch-theoretische Lern- und Selbstverständigungsprozesse—speziell die gemeinsame Erarbeitung eines adäquaten Kapitalismusverständnisses sowie einer Vision der postkapitalistischen befreiten Gesellschaft—müssen einen integralen Bestandteil dieses kollektiven Prozesses des Selbertuns darstellen.
Welchen Problemen und Herausforderungen steht die Schaffung einer befreiten Gesellschaft gegenüber? Hier möchte ich mich auf zwei Punkte beschränken. Erstens die komplexe und schwierige Organisation einer sozialistischen Ökonomie, die tatsächlich der Verwirklichung der kollektiven planvollen »Bemeisterung« (Marx) des ökonomischen Gesamtprozesses durch die assoziierten Arbeitenden entspricht und der Verwirklichung möglichst weitreichender individueller Autonomie dient. Zweitens die Gefahr einer möglichen Usurpation des gesellschaftlichen Umwälzungsprozesses durch eine selbsternannte Avantgarde.
Zum ersten Punkt. Die Herausforderungen sind enorm: Marx will den Kapitalismus abschaffen, und zwar mit dem Ziel einer »freien menschlichen Gesellschaft«. Zugleich sind für ihn mit Blick auf die sozialistische Wirtschaft nicht zuletzt auch »gesellschaftlich planmäßige Verteilung« der Arbeitszeit auf unterschiedliche Produktionszweige sowie gesellschaftliche »Buchführung als Kontrolle und ideelle Zusammenfassung« ökonomischer Prozesse wichtig.Marx, Das Kapital, MEW 23, 93; Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW 42, 105; Marx, Das Kapital, MEW 24, 137. Zudem gilt in jeder Gesellschaftsform (daher auch im Sozialismus), dass die Arbeit fortgeführt werden und—sofern es sich um kooperative Arbeit handelt—»einer Direktion« bedarf, »welche die Harmonie der individuellen Tätigkeiten vermittelt«Marx, Das Kapital, MEW 23, 350. Im Zusammenhang mit Leitungs- und Aufsichtsfunktionen spricht Marx von »eine[r] produktive[n] Arbeit, die verrichtet werden muss in jeder kombinierten Produktionsweise.«Ebd., 397 Also auch im Sozialismus.
Zwar war Marx mit seinem Sozialismus- und Emanzipationsverständnis für die Ausdehnung der frei verfügbaren Zeit, doch war ihm auch klar, dass—wie er in einem anderen Kontext schreibt—»jede Nation verrecken würde, die, ich will nicht sagen für ein Jahr, sondern für ein paar Wochen die Arbeit einstellte«.Karl Marx, Brief an Kugelmann, MEW 32, 552.
Libertäre SozialistInnen müssen sich die Frage stellen, wie diese komplizierten Aufgaben gemeistert werden können: Die planmäßige Organisation und Koordination der gesellschaftlichen Produktion mit ihren verschiedenen Zweigen, Aufrechterhaltung der Arbeitstätigkeit der unmittelbaren Produzenten, gesellschaftliche Buchführung, Leitung ökonomischer Prozesse, der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft ohne Staat und vor allem ohne Zwang, stattdessen auf der Basis von Freiwilligkeit mit möglichst geringer Einschränkung individueller Freiheit.Es ist schauderhaft, dass selbst ein sich als »antitotalitär« darstellender Rätekommunist und Marx-Biograph wie Otto Rühle für die postrevolutionäre Gesellschaft die Einführung von Zwangsarbeit forderte: »Da die Diktatur proklamiert und durch Dekret allgemeine Arbeitspflicht eingeführt ist, ist jeder genötigt, sich in dem Werk, zu dem er früher gehört hat oder in dem er zuletzt beschäftigt war, einzufinden. Wer keine Werkszugehörigkeit besitzt [...] hat sich dem Arbeitsamt zur Verfügung zu stellen.« (Otto Rühle, Baupläne für eine neue Gesellschaft, Reinbek 1971, 209.) Spätestens an diesem Punkt muss über Marx hinausgegangen und Neuland beschritten werden.
An dieser Stelle ist der zweite Punkt zu ergänzen. Der rätekommunistische Theoretiker Anton Pannekoek hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Subjekte des emanzipatorischen Umwälzungsprozesses—ganz im arbeiterInnenexklusivistischen Marxismus seiner Zeit befangen, redet er hier nur von den ArbeiterInnen—für ihre Befreiung »nicht nur gegen die Bourgeoisie, sondern auch gegen die Feinde der Bourgeoisie« zu kämpfen haben. »Das ist kein Kampf nur zwischen zwei Klassen, sondern zwischen drei, den Arbeitern, ihren alten Ausbeutern und denjenigen, die ihre neuen Ausbeuter werden wollen.«Anton Pannekoek, Die Arbeiterklasse und die Revolution [1940], in: Anton Pannekoek, Arbeiterräte. Texte zur sozialistischen Revolution, Fernwald 2008, 580-588, 584. Herv. im Orig.Es müssen daher anhand historisch-praktische Lernprozesse effektive Mittel und Wege gesucht und gefunden werden, die das Aufkommen letztgenannter Usurpatoren zu verhindern. Auch hier brauchen die TheoretikerInnen nicht passiv auf vollzogene Praxis zu warten, sondern können selbst aktiv ihren Teil beitragen, indem sie dafür sorgen, dass emanzipatorische Theorie niemals mehr zu einem »Vanguard-Marxism«Zu diesem Begriff: »Vanguard-Marxism is deformed Marxism [...]. Vanguard Marxism is the theoretical perspective of a conductor who believes that the working class must be led to the Promised Land [...]. How can we go beyond Vanguard Marxism? We do that by restoring Marxism as a philosophy of praxis and freedom.« (Michael Lebowitz, The Contradictions of »Real Socialism«. The Conductor and the Conducted, New York 2012, 173, 184, 186. umgeformt wird.
Jan Hoff
Der Autor ist Historiker und Politikwissenschaftler. Sein aktuelles Buch ist Befreiung heute (VSA Verlag, 2016).