In dem Aufsatz »Antisemitismus und Nationalsozialismus«(1) von 1979 plädiert Moishe Postone für eine Erklärung des Antisemitismus in Form »einer materialistischen Erkenntnistheorie«. Wir dokumentieren Auszüge zur Bedeutung des ökonomischen Fetisch für den Antisemitismus:
»Ausgang einer solchen Erklärung wird Marx’ Begriff des Fetischs sein, den er nur in Bezug auf die Ware entwickelt hat. Diesem Begriff liegt Marx’ Analyse der Ware, des Geldes und des Kapitals als gesellschaftlichen Formen und nicht bloß ökonomischen Begriffen zugrunde. In seiner Analyse erscheinen die kapitalistischen Formen gesellschaftlicher Beziehungen nicht als solche, sondern sie drücken sich in vergegenständlichter Form aus. Diese vergegenständlichten Formen gesellschaftlicher Beziehungen führen, als Ausdruck von Entfremdung, ein verselbständigtes Dasein und bestimmen rückwirkend sowohl gesellschaftliches Handeln als auch gesellschaftliches Denken. [...]
Es kommt hier darauf an aufzuzeigen, daß eine sorgfältige Untersuchung der modernen antisemitischen Weltanschauung sich als eine Form des Denkens enthüllt, in dem die rasche Entwicklung des industriellen Kapitalismus mit allen ihren gesellschaftlichen Folgen im Juden personifiziert und mit ihm identifiziert wurde. Das heißt, daß die Juden nicht nur als Geldeigentümer betrachtet, sondern für wirtschaftliche Krisen verantwortlich gemacht und mit der gesellschaftlichen Umstrukturierung und Verschiebung identifiziert wurden, die mit der raschen Industrialisierung einherging [...].
Genau an diesem Punkt müssen wir uns dem Fetischbegriff zuwenden. Die Merkmale, der den Juden vom modernen Antisemitismus zugeschriebenen Macht – Abstraktheit, Nicht-Faßbarkeit, Universalität, Mobilität – sind alles Merkmale der Wertseite. Diese Dimension erscheint niemals als solche, vielmehr immer in der Form eines stofflichen Trägers. Der Träger, z.B. die Ware, hat insofern ›Doppelcharakter‹: Wert und Gebrauchswert. Die Wertform macht es jedoch erforderlich, daß der Doppelcharakter sich entäußert – in diesem Fall als Geld und Ware. Das Resultat dieser Entäußerung besteht darin, daß die Ware, obwohl sie gesellschaftliche Form ist, als rein gegenständlich und ›dinglich‹ erscheint, während das Geld sich als Manifestation des bloß Abstrakten, als die ›Wurzel allen Übels‹ darstellt und nicht als die entäußerte Erscheinungsform der Wertseite der Ware selbst. Proudhon, der in diesem Sinne als geistiger Vorläufer des modernen Antisemitismus angesehen werden kann, meinte daher, daß die Abschaffung des Geldes – der erscheinenden Vermittlung – genügen würde, um die kapitalistischen Beziehungen abzuschaffen. [...]
Ein Aspekt des Fetisch besteht nun darin, daß kapitalistische gesellschaftliche Beziehungen sich selbst als widersprüchlich, als Gegensatz von Abstraktem und Konkretem darstellen. [...] Formen antikapitalistischen Denkens, die innerhalb der Unmittelbarkeit dieses Widerspruchs verfangen bleiben, tendieren dazu, den Kapitalismus nur unter der Form der Erscheinung, der abstrakten Seite des Widerspruchs wahrzunehmen. Die bestehende konkrete Seite wird ihr dann als das ›Natürliche‹ oder ontologisch Menschliche positiv entgegengesetzt. [...] Mit der weiteren Entwicklung der Kapitalform und ihres begleitenden Fetisch wird die Naturalisierung, die dem Warenfetisch innewohnt, zunehmend biologisiert. [...]
Diese Form des Antikapitalismus erscheint nur so, als ob sie sehnsüchtig rückwärts gewandt ist. Als Ausdruck des Kapitalfetischs geht ihr wirklicher Vorstoß nach vorne: Sie ist in einer strukturell krisenhaften Situation ein Hilfsmittel im Übergang zum Quasi-Staatskapitalismus. Diese Form des Antikapitalismus beruht also auf dem einseitigen Angriff auf das Abstrakte [...] auf die abstrakte Vernunft, das abstrakte Recht oder, auf anderer Ebene, auf das Geld- und Finanzkapital. Dieser Angriff bleibt jedoch nicht auf den Angriff gegen die Abstraktion beschränkt. Selbst die abstrakte Seite erscheint vergegenständlicht. Auf der Ebene des Kapitalfetischs ist es nicht nur die konkrete Seite des Widerspruchs, die naturalisiert und biologisiert wird. Auch die erscheinende abstrakte Seite wird biologisiert – die Juden. [...]
Eine kapitalistische Fabrik ist ein Ort, an dem Wert produziert wird, der ›unglücklicherweise‹ die Form der Produktion von Gütern annehmen muß. Das Konkrete wird als der notwendige Träger des Abstrakten produziert. Die Ausrottungslager waren demgegenüber keine entsetzliche Version einer solchen Fabrik, sondern müssen eher als ihre groteske ›antikapitalistische‹ Negation gesehen werden, Auschwitz war eine Fabrik zur ›Vernichtung des Werts‹, d.h. zur Vernichtung der Personifizierung des Abstrakten.«
Fußnoten:
(1) Postones Text erschien erstmals auf deutsch in: Diskus 28 (1978) 3, 4.
Phase 2 Leipzig