In den letzten 25 Jahren ist der Anarchismus zunehmend zu einer hegemonialen Strömung in vielen Teilen der globalen Linken geworden. Die Proteste gegen die Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle im Jahr 1999 markierten die dramatische Rückkehr des Anarchismus auf die Bühne des Weltgeschehens und die Entstehung von Occupy Wall Street im Jahr 2011 offenbarte, welch bedeutende Stellung er zumindest in der nordamerikanischen Linken hat. Heutzutage findet der Anarchismus Anklang in vielen verschiedenen linken Bewegungen auf der ganzen Welt, die eine Übernahme der Staatsmacht ablehnen – von den argentinischen Piqueteros über die spanischen Indignados bis hin zu jenen, die in Griechenland gegen die Sparmaßnahmen protestieren. In einem Zeitraum von gerade einmal 40 Jahren wurde die maoistische und marxistische Tradition, die innerhalb der Neuen Linken lange Zeit dominant war, von ihrem historischen Rivalen verdrängt: dem Anarchismus.
Dieser Artikel verfolgt drei Ziele: Zunächst wird die aktuelle anarchistische Politik kurz beschrieben. In einem zweiten Schritt soll ihre historische Entwicklung untersucht werden – hierzu gehört auch die Frage, inwieweit sie sich vom klassischen Anarchismus unterscheidet. In diesem Abschnitt wird Murray Bookchin, der wohl einflussreichste anarchistische Denker der Nachkriegszeit, eine zentrale Rolle spielen. Abschließend sollen die Theorie und Praxis des Anarchismus einer kritischen Analyse unterzogen werden. Es wird davon ausgegangen, dass sie in ein Zeitalter des Neoliberalismus eingebettet waren, das sich gegen exakt dieselben Phänomene richtete wie der Anarchismus selbst: den Marxismus ebenso wie den Fordismus der 1960er Jahre.
Vom Klassischen zum Neoanarchismus
Der zeitgenössische Anarchismus unterscheidet sich nicht nur wesentlich vom Marxismus, sondern auch vom klassischen Anarchismus und Syndikalismus, weswegen die Bezeichnung Neoanarchismus zutrifft. Neoanarchismus ist am besten als der Versuch zu verstehen, das revolutionäre Projekt angesichts des autoritären Erbes des Marxismus im 20. Jahrhunderts wiederzubeleben, es gleichzeitig zu erweitern und neu auszurichten, um so auch die Fragen und Kämpfe, die von der Neuen Linken angeregt wurden, zu berücksichtigen.
Es handelt sich um eine Politikform, die nicht nur die Abschaffung von Staat und Kapitalismus herbeiführen will, sondern alle Formen von Unterdrückung und Herrschaft ablehnt. Die Skepsis gegenüber Versuchen, schlicht eine Form der Herrschaft durch eine andere zu ersetzen, führt dazu, dass anarchistische AutorInnen wie David Graeber, Marina Sitrin und Simon Critchley »die Welt verändern« wollen, »ohne die Macht zu übernehmen « (John Holloway). So belebt der Neoanarchismus die radikale Linke wieder als ein Projekt, das der Macht widersteht und sich von ihr unabhängig macht, was Graeber als »das Entlarven, Delegitimieren und Auflösen von Herrschaftsmechanismen« zusammenfasst und gleichzeitig als »die Gewinnung immer größerer Autonomieräume« von selbigen begreift.
An die Stelle gemeinsamer politischer Ziele tritt im Neoanarchismus die pluralistische Entfaltung autonomer Projekte, Praxen, Kommunen und Institutionen – treffend zusammengefasst durch die Losung der Zapatistas: »Ein Nein, aber viele Ja’s!«. Der Neoanarchismus beruht auf einem »präfigurativen« Politikverständnis – eine Vorstellung von sozialem Wandel, die sich auf Bewegungsformen konzentriert, die im Hier und Jetzt bereits vorwegnehmen, was für die künftige gute Gesellschaft als erstrebenswert gilt.
Präfigurative Politik, von Graeber auch »Anarchismus mit kleinem a« genannt, wird als fundamental praktische Politik verstanden. Diese ist ihren inklusiven und partizipatorischen Praxen – wie den direkt demokratischen, vorgeblich führungslosen Generalversammlungen – immanent und umfasst typischerweise konsensbasierte Entscheidungsprozesse, eine ausdrucksstarke politische Rhetorik, antiautoritären Lifestyle, Sensibilität bezüglich interpersoneller Machtungleichgewichte (speziell in Bezug auf race und gender), ethisches Konsumverhalten und die Ablehnung klassischer Formen politischer Ideologie und Organisation. Da der Neoanarchismus die Sensibilität des klassischen Anarchismus bezüglich der Konsistenz von Mitteln und Zwecken zum Kernprinzip erhebt, verschmelzen diese nun oftmals – politische Ziele werden untrennbar von Bewegungspraxen, die Form ersetzt den politischen Inhalt. Doch wie wurde der Neoanarchismus zum politischen Standard in Nordamerika und an vielen anderen Orten in der Welt?
Zur Entstehungsgeschichte des Neoanarchismus
Klassische AnarchistInnen wie Bakunin, Kropotkin und Goldmann betrachteten den Staat als Herrschaftsinstrument, und glaubten nicht wie ihre marxistischen Zeitgenossen daran, dass man ihn als Instrument der sozialen Revolution einfach übernehmen könne. Dennoch waren sie weit davon entfernt, jedweden Zwang abzulehnen. Der Staat spielte implizit in den anarchistischen Forderungen nach Klassenkampf und Doppelherrschaft, den Überlegungen der Industrial Workers of the World (IWW) zum Aufbau einer »einzigen großen Gewerkschaft« sowie in der »Propaganda der Tat« – sprich: politisch motivierten Attentaten – eine wichtige Rolle.
Auch wenn der klassische Anarchismus sich in erster Linie mit Staat und Kapitalismus auseinandersetzte, gab es hier bereits antirassistische, feministische und ökologische Tendenzen, die sich beispielsweise in der offenen Mitgliederpolitik der IWW, in Emma Goldmans Anarcho-Feminismus oder auch Kropotkins aufkeimendem Umweltbewusstsein niederschlugen. Dennoch blieben diese Aspekte sowohl im Anarchismus als auch innerhalb der breiteren Linken dem Klassenkampf untergeordnet. Emma Goldmans Haltung zur sexuellen Emanzipation wurde beispielsweise von ihrer anarchistisch-kommunistischen Genossin und woman of color Lucy Parsons harsch als spalterisch und bürgerlich kritisiert.
Die Bandbreite der politischen Themen änderte sich jedoch in den 1960er Jahren, als die gewaltigen historischen Veränderungen der Nachkriegszeit – der zuvor ungekannte Wohlstand der Arbeiterklasse, die Geopolitik des Kalten Krieges, antikoloniale Strömungen, die schwarze Befreiungsbewegung sowie der Massenzugang zu höherer Bildung – eine neue Linke hervorbrachten, die in vielen Teilen der Welt rigoros mit der Kultur, dem Lebensstil und den politischen Zielen der marxistischen alten Linken brach. Der zuvor vorherrschende Fokus auf die ökonomische Ausbeutung der Arbeiterklasse wurde in einem Zeitalter, in dem diese durch den Nachkriegswohlstand befriedet und die Forderungen der klassischen Sozialkritik zumindest teilweise durch die Sozialdemokratie erfüllt worden waren, für unzureichend befunden. Die noch junge Neue Linke kritisierte stattdessen die Entfremdung, den Konformismus und die moralischen Widersprüche in der Gesellschaft, die hauptsächlich von Studierenden und Angestellten wahrgenommen wurden, und wandten sich statt Marx, Lenin oder Mao lieber der beat culture, dem Existentialismus und antiautoritären Denkern wie dem Soziologen Charles Wright Mills und dem Anarchisten Dwight McDonald zu.
Für die jungen AktivistInnen war statt der Kommunistischen Partei die radikale demokratische Kultur der frühen Bürgerrechtsbewegung in Gruppen wie dem Student Nonviolent Coordinating Committee die prägende politische Erfahrung. Die Neue Linke erweiterte das Spektrum linker Politik maßgeblich und widmete der Kultur und außerökonomischen Kämpfen die gleiche, wenn nicht sogar die größte Aufmerksamkeit. In den Vereinigten Staaten fanden diese Veränderungen vor allem in der Port-Huron-Erklärung der Students for a Democratic Society (SDS) aus dem Jahr 1962 ihren Ausdruck, in der eine radikal demokratische Gesellschaft entworfen wurde, der das Prinzip der Selbstverwaltung in allen gesellschaftlichen Bereichen zugrunde lag – ein Modell, das als »partizipatorische Demokratie« bezeichnet wurde.
Doch diese Vision einer partizipatorischen Demokratie geriet in den späten 1960er Jahren ins Wanken, da das schleppende Tempo der Reformen und die extreme Schwerfälligkeit der liberalen Nachkriegsordnung gegenüber jedwedem Wandel die utopischen Hoffnungen enttäuschte. Während der Vietnam-Krieg sich – gestützt durch eine breite Masse – immer weiter hinzog, wechselten viele der Neuen Linken »vom Protest zum Widerstand«: Sie verabschiedeten sich von der Idee der partizipatorischen Demokratie und wandten sich wiederum dem Marxismus und Maoismus zu. Den wichtigsten politischen Rahmen bildete nun eine Art revolutionärer Antiimperialismus, der die Möglichkeit der Revolution im Herzen des »Empires« weitgehend ausschloss und stattdessen verschiedene Bewegungen in der dritten Welt in ihrem Kampf gegen den amerikanischen Imperialismus unterstützte. Diese politischen Entwicklungen spitzten sich während der letzten Konferenz der SDS im Jahr 1969 zu, bei der die Organisation in konkurrierende maoistische Sekten oder bewaffnete Gruppen wie die Weathermen (»The Weather Underground«) zerfiel, die später in der Bedeutungslosigkeit versanken und deren Mitglieder im Gefängnis landeten oder starben. Jene Erfahrung formte die in den 1970ern und 1980ern entstehenden »Neuen Sozialen Bewegungen« zutiefst: Mit einem Erbe aus Sektierertum, Gewalt und politischer Isolation konfrontiert, verfolgten die AktivistInnen ihre Politik nun in steter Auseinandersetzung mit dem Scheitern der Linken im Allgemeinen und des Marxismus im Besonderen. Sie kehrten zum zuvor verworfenen Utopismus und dem Ethos der partizipatorischen Demokratie zurück und wandten sich anderen radikalen Traditionen wie dem Anarchismus, dem Feminismus, der Umweltbewegung oder alternativer Spiritualität zu. Die daraus hervorgehende politische Gemengelage war eine Synthese aus direkter Demokratie, Gewaltfreiheit, Ökologie, Feminismus, Antirassismus und Gegenkultur. Aufgrund der autoritären historischen Folgen der marxistisch-leninistischen Trennung von Mitteln und Zwecken waren sie von der Notwendigkeit eines neuen Modells gesellschaftlicher Veränderung überzeugt.
Darüber hinaus widmeten die sozialen Bewegungen ihre Aufmerksamkeit weniger der Klassenproblematik und dem zweckrationalen Handeln, sondern einer ganzen Bandbreite postmaterieller Themen, denen sie sich hauptsächlich mit kulturellen und außerinstitutionellen Mitteln annäherten. Sie waren skeptisch gegenüber politischer Ideologie und theoretischer Abstraktion geworden, und betonten nun Werte wie Gemeinschaft, politischen Lifestyle und Aktivismus. Sie lehnten den Ökonomismus, Gewaltverherrlichung und das oftmals in marxistischen Gruppen auftretende Sektierertum offen ab und versuchten, ihre politische Vision in eine antihierarchische, direkt demokratische und gewaltfreie Bewegungskultur einzubetten, in der Form, Prozess, Organisation, Praxen und Beziehungen die wesentlichen Bezugsgrößen waren. Lebhafte interne Diskussionen über persönliche Verhältnisse, Konsumverhalten, Sexualität und Entscheidungsprozesse inspirierten die AktivistInnen der Neuen Sozialen Bewegungen genauso oder sogar mehr als klassische Politik, gleichzeitig verblasste der marxistische Weitblick auf die politische Ökonomie. Das Ergebnis war ebenjene »präfigurative Politik«, die versuchte, in der unmittelbaren Gegenwart die sozialen Beziehungen so zu gestalten, wie sie einmal in der künftigen guten Gesellschaft aussehen sollten. Obwohl sie sich im Geiste noch als anarchistisch betrachteten, blieb der Anarchismus der neuen sozialen Bewegungen durch die Ablehnung ideologischer Auseinandersetzungen und programmatischer Politik eher implizit. Zur selben Zeit war der Marxismus in der nordamerikanischen Linken bereits größtenteils kollabiert und existierte schon lange vor dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus im Jahr 1989 nur noch in der akademischen Welt oder in bedeutungslosen sektiererischen Splittergruppen.
In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren vermischten sich schließlich die Überbleibsel der Neuen Sozialen Bewegungen mit aufkommenden Strömungen wie der radikalen Umweltschutzbewegung, der Tierbefreiungsfraktion und dem auch in der Punkszene wiedererwachenden Anarchismus. Der Anarchismus wurde nun immer mehr zum bestimmenden politischen Koordinatensystem, in dem sich unterschiedlichste Interessengruppen und Organisationsformen zusammenfanden – nicht zuletzt, da sich nun auch Bewegungen wie Earth First!, die Animal Liberation Front und feministische Gruppen offen als anarchistisch definierten. In der Tat bestand die Attraktivität des Neoanarchismus darin, dass er einen flexiblen und pluralistischen politischen Rahmen bot, in dem sich die in der Folge der Neuen Linken zersplitterten und disparaten Einzelinteressen zumindest lose verknüpfen ließen. Den vielfältigen politischen Kämpfen kam die gleiche Aufmerksamkeit zu, und den verschiedenen Formen der Unterdrückung wurde mit einer umfassenden Kritik an jedweder Hierarchie und Herrschaft begegnet.
Während der Proteste gegen die WTO in Seattle verstand sich auch die Organisation, die die Blockade initiierte, das Direct Action Network (DAN), ebenso wie ihr durch den schwarzen Block repräsentierter militanter Flügel explizit als anarchistisch. Der später als globalisierungskritische Bewegung (alterglobalisation) bezeichnete Zusammenschluss markierte die Ankunft neoanarchistischer Politik in der Realität; ein Jahrzehnt später bestimmten dieselben Organisations- und Entscheidungsformen und die gesamte politische Kultur auch die Occupy-Wallstreet-Bewegung.
Murray Bookchin: Theoretische Grundlagen des Neoanarchismus
Obwohl der Neoanarchismus eine praktische und unideologische Politik sein wollte, wurden seine Ideen doch zutiefst von Murray Bookchin geprägt, dem wohl wichtigsten anarchistischen Theoretiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch wenn er von seinen Zeitgenossen kaum wahrgenommen wurde, sollte sich die von ihm über 50 Jahre hinweg entwickelte anarchistische Vision als zukunftsweisend herausstellen. Heute sind seine wichtigsten politischen Positionen – direkte Demokratie, Ökologie und die Kritik an Hierarchie – common sense innerhalb der Linken und stellen die Basis des aktuellen Neoanarchismus dar.
Als »red diaper baby« in der kommunistischen Jugendkultur des migrantischen New York großgeworden, entwickelte sich Bookchin in den 1930ern zunächst zum Trotzkisten und einem scharfen Kritiker des Stalinismus. Nachdem er in den 1940er Jahren in der Gewerkschaft aktiv war, wurde er jedoch aufgrund des zunehmenden Konservatismus der Arbeiterbewegung immer desillusionierter. Er begann in dieser Zeit die Zusammenarbeit mit dem deutschen Emigranten Josef Weber und der Zeitschrift Contemporary Issues (auf Deutsch als Dinge der Zeit erschienen), in der politischer Utopismus, Kritische Theorie und Ökologie als Grundlagen für neue radikale Ideen ausgelotet wurden. Bookchin war schließlich auch unter den ersten kritischen Denkern, die sich mit Umweltschutz auseinandersetzten, und schrieb bereits in den 1950ern und 1960ern über den Klimawandel, den Einsatz von Pestiziden und Ernährungsfragen. Ab Ende der fünfziger Jahre verstand er sich als Anarchist und entwickelte ein Theoriegebäude, in dem sich ökologischer Dezentralismus und direkte Demokratie auf einzigartige Weise vermischten. Diesen Ansatz bezeichnete er als »Post-Mangel-Anarchismus« (post-scarcity anarchism).
Die plötzliche Renaissance der schlimmsten autoritären Züge der Alten Linken in Gestalt der Neuen Linken war für Bookchin nicht nur befremdlich, sondern auch unerträglich. Auf der letzten SDS-Konferenz 1969, bei der die Organisation implodierte, verteilten er und eine Gruppe junger AnarchistInnen ein Flugblatt, das unter dem Titel »Hergehört, Marxisten!« (Listen, Marxists!) gegen die Wendung der Neuen Linken zum orthodoxen Marxismus und Maoismus polemisierte.
Obwohl seine Warnungen damals noch ignoriert wurden, erwies sich Bookchins heterodoxe Synthese aus sozialem Anarchismus, Ökologie und Kritischer Theorie als zukunftsweisend und beeinflusste maßgeblich die in den 1970ern und 1980ern entstehenden Neuen Sozialen Bewegungen. In dieser Phase entwarf er auch ein anarchistisches Gegenprojekt zum Marxismus. Er vertrat die Ansicht, dass der Marxismus – da in einer längst vergangenen historischen Epoche entstanden – veraltet und den Problemen der 1960er Jahre nicht mehr angemessen war, und dass seine wesentlichen Prämissen und Vorhersagen sich als falsch erwiesen hatten. Statt der Annahme zweier opponierender Klassen – von der eine durch brutale Verelendung radikalisiert wird – zu folgen, verwies Bookchin auf die Entradikalisierung der Arbeiter und die grundsätzliche Auflösung der Klassentrennung, die unter anderem auch durch den Erfolg der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie zustande gekommen waren. Die gleichzeitig stattfindenden Automatisierungsprozesse und technischen Entwicklungen ließen das Potential einer Post-Mangel-Gesellschaft aufscheinen und die alte Einteilung in Klassen obsolet wirken. An die Stelle der Klassenfrage waren für Bookchin neue klassenübergreifende, qualitative Fragen getreten, die er für wichtiger hielt als die quantitativen Verteilungsfragen, mit denen man die Arbeiterklasse so leicht hatte befrieden können. Bookchin befand, dass die marxistischen Kernbegriffe – Klasse und Ausbeutung – in Bezug auf Rasse, Geschlecht, Sexualität und Ökologie unzureichend waren. Er entwarf sein Gegenprojekt in Post-Scarcity Anarchism (1971) – ein alternativer Öko-Anarchismus, dessen Hauptaugenmerk auf direkter Demokratie, Dezentralisierung und alternativen Öko-Technologien lag und alle Formen von auf Hierarchie beruhender Unterdrückung und Herrschaft kritisierte.
Bookchins Opus magnum, The Ecology of Freedom (1982), interpretiert den Marxismus nicht als universelle Geschichtsphilosophie, sondern lediglich als Analyse einer ganz spezifischen Ausprägung eines historischen Kräfteverhältnisses, das wesentlich wirkmächtiger ist als das der Klasse – Hierarchie. Seinem historischen und anthropologischen Ansatz nach ist Geschichte nicht nur durch Ausbeutung und Klassenkampf geprägt, sondern durch verschiedene gesellschaftliche Formen von Hierarchie, deren Wurzeln in der Gerontokratie (der Herrschaft der Alten) und der ungleichen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern zu finden sind. Für Bookchin beinhaltet der Hierarchiebegriff »die Marx’sche Definition von Klasse«, geht aber über »dessen beschränkte Bedeutung als eine hauptsächlich ökonomische Form der Stratifizierung hinaus«. Folglich wurden in Bookchins Sozialtheorie, die er als Soziale Ökologie bezeichnete, Hierarchie und Herrschaft die neuen Hauptkategorien und ersetzten die Marx’schen Begriffe Klasse und Ausbeutung.
Ein Ergebnis hierarchischer sozialer Beziehungen ist laut Bookchin auch die menschliche Herrschaft über die Natur. In dem Bestreben, die unüberwindbare Marx’sche Krisendynamik aus Verelendung und fallender Profitrate neu zu bestimmen, wurde er zu einem Vordenker der ökologischen Kritik des Marxismus, da er die Umwelt nicht nur als ultimative Grenze des Kapitalismus verstand, sondern auch als gemeinsame Grundlage zur Überwindung der Klassentrennung. Die Soziale Ökologie insistiert darauf, dass ökologische Krisen gesellschaftlich und nicht biologisch bedingt seien, und stellt sich somit gegen menschenfeindliche Positionen und das Malthusianische Diktum der Bevölkerungsfalle. Ökologische Krisen, so Bookchin, entwachsen vielmehr dem unauflösbaren Gegensatz zwischen Natur und Kapitalismus, und zeigen, dass eine »auf Wettbewerb und Wachstum als Selbstzweck beruhende Gesellschaft die natürliche Welt unweigerlich zerstören muss, so wie ein unbehandeltes Krebsgeschwür unweigerlich seinen Träger tötet«. Diese ökologisch motivierte Kapitalismuskritik wurde zum Schlüsselmoment für den wiederauflebenden Radikalismus der globalisierungskritischen Bewegung der 1990er Jahre, die ihre Energien und Strategien hauptsächlich aus der früheren Earth First!-Bewegung schöpfte.
Das politische Konzept der Sozialen Ökologie, die libertäre Selbstverwaltung, wollte die Fallstricke der anarchistischen Organisationslosigkeit ebenso vermeiden wie den statischen Autoritarismus des Marxismus. Freiheit als zentraler Grundwert sollte mittels des Zusammenschlusses direkt demokratischer Volksversammlungen institutionalisiert werden. Die zahlreichen polemisch geführten Debatten um die individualistischen und misanthropischen Tendenzen im anarchistischen Milieu der 1990er Jahre frustrierten Bookchin zunehmend, bis er sich schließlich im Jahr 1999 vom Anarchismus abwandte – ironischerweise genau in jenem Moment, als die seinen eigenen Vorstellungen sehr ähnliche anarchistische Politik innerhalb der globalisierungskritischen Bewegung vorherrschend wurde. Er entwickelte sich zum scharfen Kritiker des neoanarchistischen Hangs zum Konsens, seiner Feindschaft gegenüber politischen Organisationsform sowie den individualistischen Tendenzen dessen, was er als »Lifestyle-Politik« bezeichnete. Er beklagte nun mit einiger Nostalgie den Verlust der revolutionären Werte der Alten Linken, wie beispielsweise Universalismus und Organisationsstärke.
Gleichwohl sein Denken sich mindestens genauso gewandelt hatte wie die anarchistische Bewegung selbst, blieb Bookchins theoretischer Rahmen und sein grundsätzlicher politischer Zugang – Hierarchie- und Herrschaftskritik, Anti-Marxismus, Umweltschutz sowie die Verpflichtung zur direkten Demokratie – zentral für die neoanarchistische Theoriebildung. Er verbrachte die letzten Jahre vor seinem Tod 2006 damit, ein Konzept genauer zu bestimmen, das er in Anlehnung an die Pariser Kommune als »Kommunalismus« (communalism) bezeichnete und von dem er glaubte, dass es die besten Versatzstücke des Anarchismus, Marxismus, Feminismus, der Ökologie und des bürgerlichen Republikanismus zusammenführte. In der jüngeren Vergangenheit wurde Bookchins politischen Ideen durch ihre Aneignung im kurdischen Widerstandskampf in Syrien und der Türkei wieder vermehrt Aufmerksamkeit zuteil. Der PKK-Führer Abdullah Öcalan entdeckte seine Schriften Anfang der 2000er Jahre – in der Folge wandte sich die Gruppierung vom traditionell marxistisch-leninistisch geprägten nationalen Befreiungskampf ab und verfolgte nun die Idee des »demokratischen Konföderalismus«.
Neoanarchimus, Neoliberalismus und der neue Geist des Kapitalismus
Bookchin war sich der besonderen Beschränkungen – aber auch Möglichkeiten – bewusst, die bestimmte historische Epochen denen auferlegen, die in ihnen leben. Gleichwohl verhinderte dieselbe historische Bestimmtheit, die ihn zum scharfsinnigen Kritiker der politischen Landschaft seiner Zeit machte, dass seine Kritik auch in einer radikal durch den Neoliberalismus veränderten Gesellschaft ihre Kraft behielt. Die wichtigsten Kernideen Bookchins sind gegen zwei Hauptziele gerichtet, die heute so nicht mehr existieren: den fordistischen Kapitalismus und den Marxismus-Leninismus der Neuen Linken.
Da seine Ideen während einer stabilen Phase des staatsgelenkten Fordismus entstanden, beruht der Kern seiner gegen den Marxismus gerichteten Theorie – das Konzept der Hierarchie – auf einem räumlichen und personenbezogenen Konzept von Macht, das nicht mehr zu den horizontalen und netzwerkartigen Formen des neoliberalen Kapitalismus passt. Die Schlüsselaspekte von Bookchins politischer Alternative – demokratische Selbstaktivierung, Dezentralisierung, eine »moralische« Wirtschaft und ökologische Effizienz – passen sogar ausgezeichnet zu einer neoliberalen Kritik des Marxismus und Fordismus. Einige seiner wichtigsten Ideen, die noch in den 1960ern und 1970ern als Avantgarde galten, allen voran direkte Demokratie, Ökologie und die Kritik an Hierarchie und Herrschaft, sind heute zu allgemein verbreiteten Positionen innerhalb der Linken geworden, auch wenn jene Versatzstücke von Bookchins »altlinker« Haltung zu politischer Macht und Organisationskraft hierbei herausgekürzt werden.
Darum ist es nicht überraschend, dass der Neoanarchismus, dessen theoretische Grundlage Bookchin geliefert hatte, in die Ideologie des Neoliberalismus integriert werden konnte – dieses Phänomen wird auch als »Rekuperation« (recuperation) bezeichnet. Auch wenn sie im linken Gewand daherkommen, spiegeln sich viele Elemente des Neoliberalismus im Neoanarchismus wider. Beide eint die Forderung, die Staatsgewalt abzuschaffen: Auf der einen Seite soll dies durch die Schaffung autonomer Räume geschehen, auf der anderen durch Privatisierung und freie Marktwirtschaft. Auch die Verpflichtung zum Konsens und die Skepsis gegenüber politischen Ideologien stehen im Einklang mit den post-politischen Verlautbarungen eines »Endes der Geschichte« (Francis Fukuyama); die Logik des »Abhauens« und »Aussteigens« ahmt die Geste des fait accompli der Kapitalflucht nach; freiwillige soziale Dienste wie beispielsweise Food Not Bombs füllen das Vakuum staatlicher Leistungen mit Ehrenamt; linke Projekte wie IndyMedia verlassen sich auf den Do-It-Yourself-Ethos der Freiwilligkeit, dem bereits die Überführung professioneller Beschäftigungsverhältnisse in Bereichen wie dem Journalismus in die demokratische, aber unbezahlte »Blogosphäre« vorausging. Sowohl im Neoliberalismus als auch im Neoanarchismus gilt für das Subjekt eine Ethik der »unendlichen Verpflichtung« (Simon Critchley); die daraus resultierende Mikropolitik freiwilliger Bescheidenheit und ethischen Konsums eröffnet ein Koordinatensystem aus Schuld, Askese und teuren, weil »ethischen« Waren, die ihrerseits eine profitable Form linker Entbehrungslogik darstellen. Neo-anarchistische Politik definiert sich darüber hinaus hauptsächlich in Opposition zu einer Staatsmacht, der das Kapital allerdings längst die ökonomische Grundlage entzogen und sie somit förmlich unschädlich gemacht hat. Wenn selbst Staaten mit all ihren Vollzugsgewalten sich nicht nur als unwillig, sondern auch als unfähig erwiesen haben, die kompetitive Logik der Kapitalakkumulation zu zähmen, bleibt unklar, warum dezentralisierte autonome Projekte diese Aufgabe besser bewerkstelligen sollten. Dennoch stehen alternative ökonomische Projekte hoch im Kurs innerhalb des anarchistischen Diskurses: Kooperativen, Mikrokredite, kommunale Gärten und gemeinschaftliche Landwirtschaft werden als Alternativen zum neoliberalen Kapitalismus gehandelt. Ziel ist eine illusorische Autonomie, die innerhalb des Kapitalismus schlicht unmöglich ist und ihn mit diesen vermeintlichen Modernisierungsversuchen lediglich reproduziert.
Aus der Seattle/Genua-Generation linker AktivistInnen kamen auch die Vorkämpfer des ethischen Konsums: Boykotte, Veganismus, Bio- und regionale Ernährung, Kleidung aus fairer Produktion, DIY und Handgemachtes, Biosprit und ein fast schon militanter Wiederverwertungszwang sind prominent vertreten im Repertoire der Bewegung. Jenseits des Antikapitalismus innerhalb des explizit anarchistischen Flügels blieb die Bewegung insgesamt enorm fixiert auf persönlichen Konsum, direct action und andere präfigurative Praxen, die stets einhergehen mit einer auf »Autonomie« fokussierten Politik. Heute, nur zehn Jahre später, sind die von den sozialen Bewegungen ersonnenen Ideale, wie ein bewusst einfach gehaltener Lebensstil, alternative Energien, die Bestimmung des eigenen CO2-Fußabdrucks, regionale und biologische Ernährung sowie slow food zum Mainstream im politischen Diskurs und dem allgemeinen Konsumverhalten geworden.
Parallele Entwicklungen können in der Arbeitswelt beobachtet werden, wo die linke Kritik an der grauen Konformität der fordistischen Fronarbeit durch dezentralisierte, netzwerkartige Arbeitsplätze, flexible Lohnarbeit, Teilzeit- und Projektbeschäftigung, Informalität und wachsendes Selbstmanagement der Beschäftigten in die neoliberale Reorganisation der Produktion integriert wurde. Zusätzlich wurde die Verpflichtung zu nachhaltigen Investitionen und ein unternehmerischer Verhaltenskodex im Sinne der sozialen Verantwortung verankert. All diese Entwicklungen zielen auf einen neuen Idealtypus wirtschaftlicher Normativität ab, der Eigeninteresse und Gemeinwohl nicht mehr als Gegensätze, sondern als harmonisches Zusammenspiel inszeniert – heraus kommt eine Wirtschaft, die kreativ, informationell, postmaterialistisch, ökologisch, affektiv, nachhaltig und ethisch ist. Von Occupy-Wall-Street einmal abgesehen, ereigneten sich diese Veränderungen in Kultur und Wirtschaft zur selben Zeit wie der Niedergang der sozialen Bewegungen. Ich gehe davon aus, dass diese Gleichzeitigkeit nicht zufällig zustande kommt, sondern dass die neoanarchistischen Versuche einer Politisierung des Konsums und der Produktion ironischerweise dazu beigetragen haben, die Politik zu kommerzialisieren und die Nachfrage nach einer ethischen Lebensführung zu generieren, die besser von einer gerissenen Ökonomie als von politischen Bewegungen gestillt werden kann. Heutzutage sind linke Fragen wie Umweltschutz, Arbeitswelt und Menschenrechte Teil einer wiederaufflammenden Diskussion um einen ethischen Kapitalismus, in dem die KonsumentInnen auf einem scheinbar zwangsbefreiten und demokratischen Markt, der ihnen die Erfüllung ihrer Bedürfnisse suggeriert, mit ihrem Geld abstimmen können – ohne dafür das schmutzige Geschäft der Politik auf sich nehmen zu müssen. Das Ergebnis ist eine durch das Zusammenspiel mit dem Diskurs der Wirtschaftswelt stumpf gewordene Form der Kritik und die gleichzeitige Schwächung der Linken als Triebfeder gesellschaftlicher Veränderung.
Neoanarchismus als Modernisierungsmotor
Abschließend ist festzuhalten, dass sowohl der Kapitalismus als auch die gegen ihn agierende Linke in den letzten 20 Jahren wichtige Veränderungen durchlaufen haben. Die Schwächung der traditionellen Arbeiterbewegung und der Aufstieg der Neuen Linken eröffneten für Denker wie Murray Bookchin den Raum, eine vom Marxismus abweichende anarchistische Politik zu entwickeln. Nachdem sie durch den Zusammenbruch der Neuen Linken ins Schwanken geraten waren, entwickelten die sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre anarchistische Wertevorstellungen vor allem im Hinblick auf kulturelle und weniger bezüglich politischer Fragen – diesen nicht-marxistischen revolutionären Ansatz bezeichneten sie als »präfigurative Politik«. Die geschilderten Strömungen gingen schließlich in die sozialen Bewegungen der 1990er und 2000er Jahre über, wie beispielsweise der globalisierungskritischen Bewegung und Occupy-Wall-Street, in denen eine moralisch eingefärbte, in einen Diskurs über Autonomie und ethischen Konsum eingebettete Kritik an Unternehmen populär wurde. In dieser Kritik spiegelten sich zahlreiche Aspekte genau jener Marktideologie wider, gegen die sie sich eigentlich positionierte. Es ist daher kaum verwunderlich, dass linke Aktivistinnen zwar Unternehmensstrukturen veränderten, nicht aber die Welt. Heute spricht man in der Geschäftswelt die Sprache sozialer Bewegungen, und greift ethische Fragen auf, um sich von Kritik abzuschotten. Dieser Prozess wurde durch den Aufstieg der neuen politischen Konstellation des Anarchismus ermöglicht. Hier wurde eine Politik des autonomen Pluralismus formuliert, die nicht nur den Staat, sondern auch Herrschaft an sich ablehnt, und stattdessen alternative Institutionen, die Unmittelbarkeit präfigurativen Handelns und individuelle ethische Wahlmöglichkeiten betont. Doch dieser Diskurs der Autonomie beruht auf einer Reformulierung negativer Freiheit, die eine starke ideologische Parallele zum Pluralismus der Marktwirtschaft aufweist, und sich so als anschlussfähig an die herrschende gesellschaftliche Ordnung erweist. Aktuelle politische Bewegungen agieren so oft unwissentlich als Unternehmer, die nicht nur eine ethische Legitimation, sondern gar den eigentlichen Motor eines Neuen Geistes des Kapitalismus liefern. Als Resultat wird gesellschaftlichen Problemen mit aufgeklärtem Konsum begegnet, und seelentötende Lohnarbeit wird in »bedeutsame«, flexible und selbstgesteuerte (Teilzeit-)Arbeit umgedeutet.
Anarchistische Projekte befinden sich heute in direkter Konkurrenz mit Unternehmen und NGOs, die als soziale Projekte wahrgenommen werden. Obgleich zeitgenössische neoanarchistische Strömungen althergebrachte Formen des Parlamentarismus, der Parteienbildung und der Einsetzung von Führungsorganisationen weitestgehend ablehnen, da diese sich als ausschließend und ineffektiv für die Herbeiführung sozialen Wandels erwiesen haben, verdeutlicht die kurze Lebensdauer von Strömungen wie Occupy-Wall-Street die Notwendigkeit einer ernsthaften Reflexion darüber, vor welche neuen Herausforderungen uns diese alternativen politischen Bewegungen stellen und vor allem, welche Versäumnisse ihnen anzulasten sind. Heute ist der Neoanarchismus die hegemoniale Ideologie innerhalb der nordamerikanischen Linken, auch wenn seine theoretischen und praktischen Defizite weiterhin das Projekt einer radikalen gesellschaftlichen Veränderung vereiteln. Aller Rhethorik – Nachhaltigkeit, Teilhabe, Fairness – zum Trotz brechen sich ein immer schärfer werdender Wettbewerb und die Politik der Austerität weiter ungehindert Bahn.
G.B. Taylor
Der Autor lebt in Berlin, wo er gerade seine Doktorarbeit zu Sozialen Bewegungen, Kapitalismus und dem Phänomen der Integration radikaler Ideen in die herrschende Ideologie abschließt.
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Susan Wille.