Die US-amerikanische Linke zeigt sich zuweilen offen für antisemitische Denkmuster. Zwischen antirassistischer, antikapitalistischer und antiimperialistischer Kritik entdecken manch amerikanische Intellektuelle und AktivistInnen wie etwa Judith Butler die reaktionäre Hamas als Teil der globalen Linken wieder. Zwar stößt die Solidarisierung mit antisemitischen Gruppierungen bisweilen auf Kritik, doch die ungebrochen hohe Anerkennung Butlers deutet auf Widersprüche linker Theorietradition und Praxis hin. Entgegen Butlers Erklärungsversuchen waren ihre Positionen nämlich nicht unglücklich formuliert, sondern Ausdruck eines lange ignorierten Missstandes in der US-amerikanischen Linken.
Sina Arnolds Studie zum Antisemitismus der Linken in den USA nach dem 11. September 2001 soll die Hintergründe dieses Widerspruchs erhellen. Die Autorin analysiert die Geschichte der hiesigen Linken, ordnet sie in die kontemporäre politische Kultur ein und schließt daraus auf Traditionslinien, die antisemitische Ressentiments ermöglichen und perpetuieren. Dabei arbeitet sie eine soziale Morphologie des Linksseins in den Vereinigten Staaten heraus, das im Zusammenspiel mit US-amerikanischen Idealen wie Gleichheit, Freiheit und Individualität kaum ein Problembewusstsein für Antisemitismus aufweist. Besonders über die seit dem 11. September verstärkt identitätspolitisch begründete Positionierung gegen Rassismus fördert laut der Autorin ein linkes Selbstverständnis ein stereotypes Denken, ohne darin einen Widerspruch zu erkennen. Primär kann das US-amerikanische Verständnis von ›Rasse‹ entlang der color line als mögliche Ursache für dieses »unsichtbare Vorurteil« identifiziert werden. Ihr sozialer Aufstieg im zwanzigsten Jahrhundert markierte viele Jüdinnen und Juden gesellschaftlich als ›weiß‹ und, dieser Logik folgend, damit als Nichtbetroffene von Diskriminierung.
Durch rund 30 Interviews mit AktivistInnen und ExpertInnen zeigt Arnold, wie im linken, antirassistischen Diskurs Jüdinnen und Juden mit dem Privileg des »Weißseins« besetzt und eher als Ursache statt Betroffene sozialer Widersprüche identifiziert werden. Hierbei stach vor allem ein Interview heraus, in dem die nationalsozialistische Rassenideologie als amerikanische Erfindung deklariert wurde. Diese komme, meint der New Yorker Interviewpartner, über den Einfluss jüdischer ZionistInnen wieder nach Amerika zurück. Bezeichnend sind derart haarsträubende Äußerungen, weil sie eine kategorische Ablehnung Israels mittels des Begriffs der ›Rasse‹ demonstrieren. Ein antiimperialistischer Manichäismus sowie linke Reflexe, die Verbundenheit der Vereinigten Staaten zu Israel zu kritisieren, produzieren einen Antizionismus, der als Kampf gegen den globalen Rassismus imaginiert wird. Sowohl die Feindschaft gegenüber Israel als auch die Solidarität mit ›nicht-weißen‹ Minderheiten sind, das zeigt Arnolds Analyse, zentrale identitätsstiftende Momente in der US-amerikanischen Linken. So erklären sich der positive Bezug auf die Hamas und die Reproduktion antisemitischer Bilder.
Arnold erkennt darin einen »Wandel im Charakter des Antisemitismus«, denn die Weitergabe vereinzelter antisemitischer Stereotype sei nicht mehr auf ein geschlossenes Weltbild zurückzuführen, sondern lediglich Nachhall des modernen Antisemitismus. Es handle sich um einen Antisemitismus ohne Jüdinnen und Juden, der zwar zum Beispiel auf »jüdische Banken« Bezug nimmt, jedoch weder auf »den Geldjuden« verweist noch weltanschaulich soziale Widersprüche im Kapitalismus auf diesen zurückführt. Eine solche Einsicht ist nicht unbedingt neu. Zudem bleibt bei der Lektüre undeutlich, wie die Autorin zwischen strukturellem Antisemitismus und der von ihr beschriebenen unkritischen Reproduktion antisemitischer Bilder ohne direkten Verweis auf Jüdinnen und Juden unterscheidet, warum also »ideologische Fragmente« nicht als Facette eines globalen Antisemitismus in modernen Gesellschaften verstanden werden sollten.
Sina Arnolds Buch hat einen explizit politischen Anspruch. Durch die nuancierte Analyse linker Denktraditionen, politischer Realitäten der USA und des Nachwirkens des modernen Antisemitismus im 20. Jahrhundert leistet die Studie einen wichtigen Beitrag zum Verständnis linker Diskurse in den Vereinigten Staaten. Vor allem mit dem Verweis auf das »unsichtbare Vorurteil« treibt Arnold eine lange überfällige Auseinandersetzung mit Widersprüchen in der US-amerikanischen Linken voran und trägt maßgeblich dazu bei, antisemitischen Ressentiments in der dortigen Linken entgegenzutreten.
Eric Fraunholz
Sina Arnold: Das Unsichtbare Vorurteil. Antisemitismusdiskurse in der US-amerikanischen Linken nach 9/11, Hamburger Edition, Hamburg 2016, 488 S., € 38,00.