Am 27. September 1998 stürmte die Revolution von `68 die letzte Bastion. 30 Jahre nachdem Rudi Dutschke den Massen zugerufen hatte, sie müssten den Marsch durch die Institutionen antreten, um die »formierte Gesellschaft« den Imperialismus und das Kapitalverhältnis zu Fall zu bringen, haben diese Massen ihren Weg nun endgültig abgeschlossen. Seit geraumer Zeit schon saßen sie in Rundfunk- und Fernsehredaktionen, gaben Zeitungen mit Millionenauflage heraus und besetzten im Kulturbetrieb die Schaltstellen. Politisch engagierten sie sich in Stadtregierungen und im Bundestag, in Bürgerinitiativen und sozialen Bewegungen. Kulturelle und politische Hegemonie im zivilgesellschaftlichen Diskurs - eine Voraussetzung für Revolution, schreibt der italienische Kommunist Antonio Gramsci - haben sie längst erreicht: Sie sind die Zivilgesellschaft.
Mit der Eroberung der Bundesregierung und dem Ende der Ära Kohl ist der lange Marsch nun abgeschlossen; alle Institutionen, die es zu unterwandern gab, sind unterwandert, gesichert und werden von den Kräften der Revolution gehalten. Von dem, was diese Kräfte allerdings einmal umsetzen wollten, ist nichts übrig geblieben. Der institutionelle Sieg der 68erInnen besiegelte die Niederlage ihrer emanzipativen Inhalte: Ihren ersten großen Auftritt in der Weltpolitik hatten die einstigen GegnerInnen des Vietnamkrieges mit der Bombardierung Belgrads.
Der Terror der Menschenrechte...
Unter Helmut Kohl hätte es das nicht gegeben: Während in seiner Ära die ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr eine innenpolitische Krise - zumindest einen Riesenkrach mit der 68erInnen-Opposition in den roten und grünen Parlamentsbänken mit sich gebracht haben, lässt Deutschland unter Rot-Grün mit bestem Gewissen durch seine Luftwaffe Jugoslawien unter Beschuss nehmen - und alle klatschen Beifall. Eine pazifistische oder antimilitaristische Friedensbewegung gab es plötzlich nicht mehr, als im Frühjahr 1999 der erste deutsche Angriffskrieg seit `45 begann. Im Gegenteil: Das, was früher die Friedensbewegung bzw. deren parlamentarischer Arm war, die Grünen, hat den Krieg maßgeblich forciert und vor der Bevölkerung gerechtfertigt.
Weil ein nationalistischer Diktator Krieg führt gegen eine Sezessionsbewegung im eigenen Land, kamen dort Menschen gewaltsam ums Leben oder mussten aus ihren Häusern fliehen. Ein zweifelsohne grausamer Vorgang, der in der kapitalistisch verfassten Welt aber zum Alltag gehört. Das Eingreifen des Westens, der sogenannten »Völkergemeinschaft« in diesen Konflikt wurde von der Linken, die noch etwas gegen den dadurch ausgelösten NATO-Angriffskrieg einzuwenden hatte, häufig in den herkömmlichen Kategorien der Imperialismusanalyse kritisiert. Angesichts der Argumentation, mit denen der NATO-Krieg in der BRD durchgesetzt und gerechtfertigt wurde, wird deutlich, dass diese Kritik in wesentlichen Punkten zu kurz greift. Der Rückgriff auf die Menschenrechte als Grund für die Zerstörung der Infrastruktur eines ganzen Landes ist keineswegs als bloße Lüge der Kriegstreiber zu bewerten, sondern zentraler Bestandteil derer Ideologie. Und in letzter Konsequenz schließen sich Angriffskriege und Menschenrechte tatsächlich keineswegs aus, sondern bedingen einander.
Die Menschenrechte bzw. ihre staatliche Umsetzung als Grundrechte stellten im politischen Bezugssystem der 68erInnen schon immer einen zentralen Begriff dar. Ähnlich wie Demokratie, Freiheit und Gleichheit wurden sie nicht als konstitutive Bestandteile des bürgerlichen Gesellschaftszusammenhangs analysiert, sondern als Errungenschaften der bürgerlichen Revolution, die in die befreite Gesellschaft hinüberzuretten, bzw. durch eine weitere Revolution erst tatsächlich zu realisieren seien. Doch auch wenn die kapitalistischen Metropolen sich an Menschenrechte nur halten, wenn es ihnen nützlich erscheint, ist die Forderung nach ihrer Durchsetzung doch immer kompatibel mit dem derzeit bestehenden kapitalistischen Herrschaftssystem. Historisch sind sie als wichtigster Bestandteil des allgemeinen Verrechtlichungsprozesses im Wechselspiel mit der Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft überhaupt erst entstanden. Durch gleiche Rechte, die allen Staatsangehörigen gleichermaßen zustehen, wurde das moderne bürgerliche Individuum mit seinem Eigentum und seiner Privatsphäre, seinem wirtschaftlichen und politischen Interesse geschaffen. Die Absehung von jeglichen individuellen Eigenschaften und Bedürfnissen, die jeden konkreten Menschen mittels »Vergleichung« zum Exemplar der Gattung »Mensch« degradiert, sind Voraussetzung für das Funktionieren des kapitalistischen Gesamtsystems. Indem der Staat seinen BürgerInnen Rechte wie das auf Eigentum zuteilt, zwingt er sie zugleich, diese Rechte auch anderen gegenüber anzuerkennen. Die abstrakte rechtliche Gleichbehandlung unterschiedlicher Individuen garantiert die Fortexistenz konkreter sozialer Ungleichheit. In der Regel ist das mit Menschenrechten ausgestattete Individuum dadurch gezwungen, seine Arbeitskraft zu Markte zu tragen oder - wahlweise, dies ist ein freies Land! - zu verrecken. »Das Gesetz in seiner majestätischen Gleichheit verbietet es den Reichen wie den Armen, auf den Straß en zu betteln, unter Brücken zu schlafen und Brot zu stehlen.«Anatol France.
Menschen- und Grundrechte sind Gewaltverhältnisse: von Rechten zu sprechen setzt bereits staatliche Herrschaft voraus, die diese Rechte als Allgemeines gegenüber den Einzelnen durchsetzt. Die Tatsache, dass die 68erInnen diesen Zusammenhang nicht gesehen haben als sie noch systemoppositionell waren, führt jetzt - da sie das System selber geworden sind - dazu, dass sie sich treu bleiben können. Für sie selbst wie auch für ihre AnhängerInnen hat sich im Verhältnis zu den Menschenrechten wohl nichts geändert. Was früher aber als Kritik an Folterstaaten gemeint war, wird jetzt zum Argument für den Angriffskrieg. Das politische Interesse nach Durchsetzung der Menschen- und Völkerrechte (bei gleichzeitigem Bruch des Völkerrechts durch die NATO selbst) auf dem Balkan ging beim Krieg gegen Jugoslawien Hand in Hand mit wirtschaftlichen Interessen der BRD. Der Balkan soll zum einen gründlich zivilisiert werden, zum anderen wird er so zum wirtschaftlichen und politischen Hinterhof der EU gemacht. Das Gewicht der imperialistischen Argumentation hat sich dabei von der ökonomischen auf die politische Seite verlagert. Vor allem ginge es darum, »freedom and democrazy« auf dem Balkan herzustellen. Dass eben dies nötig ist für die Eingliederung der Balkanstaaten in den kapitalistischen Weltmarkt, erscheint dabei fast als willkommener Nebeneffekt. Tatsächlich ist aber die Ausbreitung der kapitalistischen Wirtschaftsweise ohne das dazugehörende Rechts- und Herrschaftssystem gar nicht denkbar. Durchsetzung der Menschenrechte und imperialistische Machtpolitik sind auf dem Balkan das Gleiche.
...nicht trotz, sondern wegen Auschwitz
Die Rot-Grüne Regierung hat sich bei der Rechtfertigung des Krieges nicht auf das Argument der Menschenrechte beschränkt. Wichtiger noch für das uneingeschränkte Einverständnis der ehemaligen 68erInnen in Staat und Zivilgesellschaft war der von Joseph Fischer formulierte Anspruch, ein neues Auschwitz zu verhindern. Die Wahrnehmung des Krieges in der deutschen Öffentlichkeit nahm folgerichtig die Form einer kollektiven Wahnvorstellung an. Von Massenhinrichtungen an Intellektuellen war die Rede, die sich bis heute bester Gesundheit erfreuen, in Fußballstadien wurden angebliche KZs entdeckt, obwohl selbst albanische Nationalisten zu Protokoll geben, dort habe nie etwas anderes als Sport stattgefunden und in jeden Flüchtlingstreck wurde ein Transport in die Gaskammern projiziert. Gerade das Argument, ein neues Auschwitz müsse verhindert werden, gehört zum Selbstverständnis der 68erInnen, die für sich in Anspruch nehmen, Deutschland gegen ihre Nazi-Eltern zivilisiert zu haben. Mit der Rot-Grünen Bundesregierung ist eine Generation an die Macht gekommen, die sich über die Abgrenzung zum NS politisiert hat und nun meint, die Vergangenheit aufgearbeitet zu haben. Es wird nicht mehr verdrängt, sondern erinnert, was das Zeug hält. Mit der Vorstellung, das Land erst wirklich demokratisiert zu haben, geht der Anspruch einher, jetzt mit Deutschland die zivilste Zivilgesellschaft von allen zu schaffen. Mit dem Terror des notorisch guten Gewissens soll dieses »Modell Deutschland« exportiert werden und nicht trotz, sondern wegen Auschwitz führen die 68erInnen wieder Angriffskriege. Am Rot-Grünen deutschen Wesen soll die Welt genesen.
Ideologie der Verwertbarkeit - Arbeitswahn und Rassismus
Was die Rot-Grüne Bundesregierung auf dem Balkan erst unter Zuhilfenahme der Luftwaffe durchsetzen musste, findet sie in der BRD bereits vor: einen Staat, der als »freiheitlich-demokratische Grundordnung« fungiert, die Menschenrechte somit anerkennt. Als Subjekt dieser Rechte macht die BRD ihre Staatsangehörigen zu Objekten. Verpflichtet sind sie zunächst nur sich selbst und ihrem privaten Fortkommen unter Herrschaft des Rechts. Das heißt - wie oben schon erwähnt - sie dürfen und müssen mit ihren Ressourcen machen, was sie wollen, ohne dabei die Interessen eines oder einer anderen zu schädigen. Wenn kein größeres Eigentum vorhanden ist, heißt das: Arbeiten. Für diejenigen, die dies nicht können, weil ihre Arbeitskraft nicht gefragt ist, hält der Staat Unterstützung bereit: Verrecken sollen sie nicht. Dies blüht tendenziell nur denen, die nicht arbeiten wollen: Stärker als unter schwarz-gelb folgen Grüne und Sozialdemokraten der Ideologie der Verwertbarkeit: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. Mit seiner Feststellung, es gäbe in Deutschland kein Recht auf Faulheit, hat Schröder diese existentielle Drohung den Erwerbslosen ins Stammbuch geschrieben. Im Klartext heißt das: Wer nicht ständig unter Beweis stellt, dass er dem kapitalistischen System zur Verfügung steht, den lässt die Volksgemeinschaft fallen.
Auch diesem reaktionären Projekt kommt die Vergangenheit der Regierung als Linke zugute. Im gegen das liberale Konkurrenzprinzip eingeforderten Gemeinschaftsdenken ist der Zwang, dem Kollektiv, das einen füttert, auch dienen zu müssen, immer schon enthalten. Als »Bündnis für Arbeit« holt der Kanzler alle Interessensvertretungen dieser Gemeinschaft an einen Tisch und fordert sie auf, die eigenen Interessen im Sinne de Ganzen, des Standorts also, hinten an zu stellen. Das trotzdem auch die Konkurrenz unter Rot-Grün neue Blüten treibt, ist dazu nur scheinbar ein Widerspruch. Das liberale Recht des Stärkeren ist nur die andere, privatwirtschaftliche Seite des bürgerlichen Kollektivdenkens, dass seinen realen Ausdruck in der Nation findet. Historisch reinste Form dieses Kollektivs war die nationalsozialistische Volksgemeinschaft; die Vernichtung der Juden schärfster Ausbruch der Verwertbarkeitsideologie gegen angeblich »arbeitsunwillige Schmarotzer« .
Unter Rot-Grün geht der Zwang zur Verwertbarkeit andere, pragmatischere Wege. Wie schon zu Zeiten der GastarbeiterInnenwerbung wurde der Verwertungsrassismus zum staatlichen Projekt erkoren. Ausländische Arbeitskräfte, die für den Erfolg der Nationalökonomie im »Krieg der Standorte« gebraucht werden, werden angeworben. Für deren Bereitschaft, Deutschland zu dienen, erhalten sie unter Umständen - und das ist neu - die deutsche Staatsbürgerschaft, werden also mit dem Vollprogramm an Menschenrechten ausgestattet und sind nicht mehr der rassistischen Ausländergesetzgebung unterworfen. Der Rot-Grüne Staat macht in dieser Frage das »Deutsch-sein« nicht mehr an völkischen Blutskriterien fest, sondern an der Verwertbarkeit. Das hat nichts mit einer menschlichen Geste für die Verfolgten der Welt zu tun. Im Gegenteil: die Unverwertbaren sind immer stärkerer Repression unterworfen. Als Deutsche der Gefahr, dass ihnen die Stütze gestrichen wird, als Ausländer der Ausweisung oder dem Tod an der hermetisch abgeriegelten Ostgrenze der »Festung Europa«.
Auch die Staatsantifakampagne des letzten Sommers ist unter dem Gesichtspunkt des Verwertungsrassismus zu betrachten. Im Gegensatz zum Staat ist der völkische Mob nicht bereit, objektive Kriterien wie berufliche Qualifikation gelten zu lassen, wenn es darum geht, was deutsch ist. Wenn Nazis also versuchen, das Land nach ethnischen Gesichtspunkten zu säubern, ist dies ein eklatanter Eingriff in die Definitionsmacht des Staates, was zu tolerieren ist, und was nicht. Wenn die BRD gegen ihre Nazis vorgeht tut sie dies nicht aus Mitleid für die Opfer des faschistischen Terrors, sondern um ihr oberstes Gut zu wahren: Das Gewaltmonopol.
Joseph Fischer und die Gewalt: Die Abwicklung der linken Opposition
Die 68erInnen und nachfolgend die Neuen Sozialen Bewegungen haben ein ganzes Spektrum verschiedener Protest- und Widerstands formen entwickelt. Vom Sit-In über`s Steinewerfen bis hin zum bewaffneten Kampf: Entscheidend für die Wahl der Formen war immer deren Legitimität, die - geleitet von der Erkenntnis, daß das System seinen Insassen die Mittel zu seiner Veränderung nicht per Gesetz in die Hand geben würde - nicht deckungsgleich sein musste mit ihrer Legalität. Ob eine Protest- oder Widerstandsform legitim ist, wurde also nicht an einer durch Gesetze definierten Grenze entschieden, sondern allein daran, ob sie als Mittel dem zu erreichenden Zweck entsprach und den eigenen moralischen Grundsätzen genügte. Joseph Fischer zum Beispiel sah es bekanntermaßen als legitim an, im Frankfurter Häuserkampf der 70er Jahre seinen Zielen mit Steinen und Mollis Nachdruck zu verleihen. Durch die Domestizierung eines großen Teils der Neuen Sozialen Bewegungen durch die Grüne Partei wurde die Wahl der Mittel aus freien Stücken zwar stark eingeschränkt - »gewaltfrei« wolle man sein, schrieben sich die Grünen auf ihre Fahnen - grundsätzlich aber blieb das Spannungsverhältnis zwischen Legalität und Legitimität bis zum Machtwechsel 1998 bestehen. Auch beim Castortransport ein Jahr davor haben sich Grüne Spitzenleute noch für - zweifellos illegale - Sitzblockaden auf der Strecke ausgesprochen, ohne sich um die Rechtslage zu scheren.
Mit dem Regierungsantritt von Rot-Grün hat sich dies entscheidend geändert. Nach dem Selbstverständnis der neuen Herren sind die Forderungen der ehemaligen linken Opposition nun regierungsamtlich geworden - kein Grund also, noch Widerstand zu leisten. Schließlich vertritt die Regierung die Ziele der Linken ja jetzt selbst und setzt zumindest alles durch, was machbar ist - den Atomausstieg bis 2050 zum Beispiel. Protest oder gar Widerstand ist da nicht mehr nötig, findet die Regierung und reagiert um so allergischer auf alle, die das anders sehen. Denn natürlich hat sich durch den Regierungsantritt nichts geändert an den falschen kapitalistischen Verhältnissen in der BRD; und angesichts der realen Zustände erscheint Widerstand angebracht. Dass man sich dazu nicht an der Realität zu orientieren hat, wie Rot-Grün das tut, legt schon der Untertitel dieser Zeitung nahe. Vor dem Hintergrund einer - wenn auch auf Sparflamme - fortexistierenden radikalen Linken hat sich eine große Koalition der DemokratInnen gebildet, die die öffentliche Debatte um Legalität und Legitimität beenden will. Legitim soll wieder - wie zu Adenauers Zeiten - genau das sein, was gesetzlich auch gestattet ist. Geburtsstunde dieser Koalition ist der scheinbare Streit zwischen Rot-Grüner Regierung und konservativ-liberaler Opposition um die Vergangenheit des Außenministers. Deutlich wurde, daß ihre Differenzen 20 Jahre zurückliegen, man sich jetzt aber in allen Punkten einig ist. Die Opposition spielt die Rächer der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die den Ex-Linken die »Fehler« ihrer Vergangenheit vorrechnet. Die Koalition bezieht sich positiv auf ihre Geschichte, insistiert darauf, dass es die gesellschaftliche Lage »damals« erforderte, auch mal jenseits des legalen Rahmens zu handeln, sich diese historische Konstellation aber spätestens seit dem 27. September `98 erledigt hat: Die freiheitliche Demokratie, um die es damals gegangen sei, sei nun durchgesetzt - vergleiche auch: Zivilgesellschaft. Da die nun erreicht ist, erscheint die radikale Linke von heute in den Augen der Linken von einst als reinster Anachronismus. Dass es den SteinewerferInnen von damals subjektiv um viel mehr ging, als um die eigene Regierungsbeteiligung, fällt bei dieser Lesart der BRD-Geschichte unter den Tisch. Und damit auch, dass durchaus viel mehr legitim ist, als um Regierungsmacht zu kämpfen.
Abgewickelt werden in dieser Debatte die Positionen, denen es immer noch um mehr geht. Selbst die ehemals als zivilcouragierte Paradebürger gefeierten SitzblockiererInnen von Gorleben wurden beim Castortransport 2001 nur noch als Chaoten und Randaliererinnen wahrgenommen; denjenigen, die tatsächlich randalieren, wird unterstellt, es könne ihnen um nichts anderes mehr gehen, als um Chaos. Das erzreaktionäre Klischee vom »Politrocker« wird ausgerechnet von denen bemüht, die es von anderer Seite selbst angehängt bekommen haben. Toleriert wird nur noch die Latschdemo: Wer sich mindestens zweihundert Meter vom Geschehen aufhält und Friedenslieder singt, wird von den Grünen nach wie vor gelobt.
Dass Gewalt Konstitutionsbedingung der bürgerlichen Gesellschaft ist, haben die jetzigen Regierungsmitglieder einmal gewusst. Mittlerweile nehmen sie sie nur noch als abweichendes individuelles Verhalten wahr, dass mit Gesellschaft nichts zu tun habe: nur ein Störfaktor, den man ausschalten kann. Die strukturelle Gewalt des Kapitalverhältnisses oder die daraus resultierende staatliche Herrschaft qua Gewaltmonopol sind ihnen keine Begriffe mehr. Diese Entwicklung haben die Grünen mit ihrem Bekenntnis zur persönlichen Gewaltfreiheit und damit zu einem individualisierten Gewaltbegriff Anfang der 80er selbst eingeläutet. Ergebnis ist, dass sie die Gewalt der Gesellschaft jetzt selbst mit exekutieren, die Gewalt dagegen ideologisch aber entschiedener bekämpfen als irgendeine Regierungspartei vor ihnen.
Formierter als die »formierte Gesellschaft«
Hauptgegner der 68erInnen war, als sie sich auf den Marsch gemacht haben, die »formierte Gesellschaft« der frühen BRD. Wessen Haare die Schultern berührten, bekam keinen Job und zwei Gitarre spielende Studenten lösten Mitte der 60er auf einem Platz in München eine Straßenschlacht aus, weil es als unerträglich galt, einfach herumzusitzen und Gitarre zu spielen.
Zumindest hier scheinen die 68erInnen ganze Arbeit geleistet zu haben. Aus der Subkultur, die sie aufgemacht haben, sind so viele Subkulturen entstanden, das der Begriff keinen Sinn mehr macht. Erlaubt ist alles. Das Fernsehen zeigt S/M-Sex verbunden mit der Aufforderung, das doch einmal zu probieren, und die Hauptstadt macht Werbung mit dem alljährlichen Aufmarsch von anderthalb Millionen Techno-Jüngern und Ecstasy-Usern. Schöne neue Welt.
Aber die ganze Arbeit, die hier geleistet wurde, ist mal wieder ganze Arbeit im Sinne des Kapitals. Alles, was als oppositionelle Haltung seit `68 aufgetreten ist, ist fester Bestandteil der Gesellschaft geworden. Popmusik, in den 60ern noch von Sittenwächtern aus dem Radio verbannt, ist heute Träger der Kulturindustrie, und die Öko- und Biofraktion der 70er schickt sich heute als Vollkornbourgeoisie an, die Lebensmittelversorgung nach Marktkriterien neu zu organisieren. Ob Glatze oder Haare bis zum Arsch: Aussehen und kulturelle Codes transportieren keinen politischen Inhalt mehr . Eine Mainstreamkultur gibt es anno 2001 ebenso wenig, wie es Subkulturen gibt. Es gibt nur noch Parallelkulturen, und alle tragen sie ihren Teil bei zum Standort D.
Dieser Tatbestand macht die diversifizierte Gesellschaft des neuen Jahrhunderts formierter, als es die formierte `68 war. Heute gibt es keinen Code mehr, der eine oppositionelle Haltung zur Gesellschaft demonstrieren könnte, weil er sich gegen den Markt stellt. Weil es zur Voraussetzung gehört, »anders« zu sein um dazuzugehören, lässt sich durch das »Anderssein« keine politische Position mehr vermitteln. Den Lebensentwürfen sind scheinbar keine Grenzen mehr gesetzt; die bürgerliche Gesellschaft erscheint nicht mehr als Gefängnis, aus dem es auszubrechen gilt. Wenn alles akzeptiert ist, zwingt nichts zur Rebellion. Die Freiheitlichkeit, die Joseph Fischer in seinen wilden Jahren angeblich durchsetzen wollte, meint genau das.
Tatsächlich ist aber nur die Produktpalette größer geworden, unter der man wählen muss. Immer noch gilt es, sich zu verkaufen, um am Reichtum der Gesellschaft teilhaben zu können und immer noch wird dieser Reichtum nicht produziert um Bedürfnisse zu befriedigen, sondern Bedürfnisse werden geschaffen, um kapitalistischen Reichtum als Mehrwert realisieren zu können. Die Möglichkeit, mehr und freier zu konsumieren wird zum Zwang, auch produzieren zu müssen. Arbeitswahn, Verwertbarkeit und die »wunderbare Welt der Warenform« greifen ineinander und machen noch die rührendste Utopie zum Mittel der Verwertung. Das postmoderne »anything goes« ist nur ein anderer Name für den ständig wachsenden Druck, den die Gesellschaft auf ihre Insassen ausübt: die Gefängnismauern stehen fester denn je.
Mitten durch die Institutionen in den Sachzwang
Das Wort vom Verrat ist schnell an der Hand, wenn die verbliebene Restlinke den ehemaligen Genossinnen und Genossen beim Herrschen, Abschieben und Kriegführen zuschaut. Es erklärt aber nichts von dem gesellschaftlichen Vorgang, dem die jetzigen Herren Deutschlands sowohl ihren formalen Sieg als auch ihren inhaltlichen Bankrott zu verdanken haben. Verrat ist eine subjektive und moralische Kategorie - der eine wird halt zum Verräter, die andere nicht. Was der 68erInnen-Bewegung und ihren Verlaufsformen, den Neuen Sozialen Bewegungen, widerfahren ist, ist aber nicht subjektiv begründet, sondern objektiv in den gesellschaftlichen Verhältnissen des Kapitalismus. Die Entwicklung war von dem Augenblick an klar, als Dutschke die Linke dazu aufgerufen hat, in den Institutionen auf diese einzuwirken, statt sie von außen zu bekämpfen. Wer ernsthaft versucht, diese Gesellschaft zu verändern, statt sie abzuschaffen; wer sich also hineingibt in das demokratische Spiel der Kräfte und den Staat als neutrales Mittel auffasst, das es zu besetzen und nach seinen Interessen zu nutzen gelte, der hat schon verloren. Die Vorstellung, der Staat sei ein Agent der Bourgeoisie, es gehe aber darum, ihn zu einem des Proletariats zu machen, war schon immer falsch. Er ist nicht der Staat der Kapitalisten, sondern der des Kapitals. Und das ist ein gesellschaftliches Verhältnis, das nicht nur die Interessen der UnternehmerInnen, sondern das aller Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft bedingt. Auch ArbeiterInnen sind nur TrägerInnen der abstrakten Arbeit, einer Funktion des Kapitals also, und die Durchsetzung der Partikularinteressen dieser Klasse gegen die der Kapitalisten ist unerlässlich für das Funktionieren des Ganzen. Bürgerliche Demokratie, Pluralismus, setzt die sich widersprechenden Interessen mittels Diskussion, Abstimmung und Durchsetzung um in das bürgerliche Allgemeinwohl, das nichts zu tun hat mit dem Wohl des oder der Einzelnen, sondern nur mit dem der »abstrakten Allgemeinheit«: dem Kapitalverhältnis. Die 68erInnen haben in diesem Prozess, wie die sozialdemokratischen Parteien vor ihnen, Position für die Sache der Unterdrückten bezogen und sich damit gleichzeitig auf die Umsetzung jenes Allgemeinwohls verpflichtet. Damit waren sie aber auch gezwungen, sich auf die Sachzwänge einzulassen, die diese Aufgabe mit sich bringt. Im Kapitalismus herrschen nicht die vermeintlich Herrschenden, sondern der »stumme Zwang der Verhältnisse« (Marx), dem auch sie neben allen anderen unterworfen sind. Die politische Entwicklung, die das »Projekt 68« nehmen musste, war damit vorgezeichnet. Die alten Forderungen nach Emanzipation mussten den Akteuren notwendig als utopisch erscheinen, weil sie den Rahmen, in dem sie tatsächlich utopisch sind, zu ihrem eigenen gemacht hatten. Der große gesellschaftliche Entwurf, der das Ende der Herrschaft bringen sollte, wurde ersetzt durch kleine pragmatische Forderungen an die Herrschaft, die umzusetzen immerhin besser sei, als gar nichts zu erreichen. Selbst das war noch zu hochgegriffen: Als die HerrschaftskritikerInnen Schritt für Schritt selbst zu Herrschenden wurden, verschwanden sogar noch die Minimalforderungen: Atomausstieg, Friedenspolitik, soziale Gleichheit, Umweltschutz.
Was geblieben ist, ist linke Phraseologie. Ein Wortgeklingel, das im Rahmen der Zivilgesellschaft zum Getöse anschwillt, aber nur noch Form ist, keinerlei realen Inhalt mehr hat. Die sozialen Bewegungen sind entweder damit befriedet, weil sie den Weg nachvollzogen haben, oder desillusioniert verschwunden. Für den verbliebenen Rest der radikalen Linken lässt sich aus alldem aber immerhin die Lehre ziehen, das der Weg der Anpassung, des Politikmachens als Mitwirken in der Gesellschaft, wie es etwa dem Konzept des »revolutionären Reformismus« vorschwebt, mit `68 endgültig gescheitert ist. Was der Arbeiterbewegung durch die Sozialdemokratie widerfahren ist, ist den 68erInnen mit den Grünen und der »neuen« SPD genauso passiert. Auch die PDS hat ihren Weg an die Schaltstellen der Macht und die Leerstellen der Kritik an dieser zu drei Vierteln beendet. Will die Restlinke nicht ebenfalls in den Strudel von Verbesserung der bürgerlichen Realität und Anpassung an diese geraten, muss sie sich jenseits des Kapitalismus verorten; ein Ort, den es im Hier und Jetzt nicht geben kann und der durch Revolution erst zu schaffen wäre. Durch diese Zielsetzung wäre das Abgleiten in den Reformismus und das Mitmachen in den gegebenen Verhältnissen ausgeschlossen.
Phase 2 Göttingen