In seinem 1891 erschienen Essay Der Sozialismus und die Seele des Menschen schreibt Oscar Wilde: »Einen kotigen Straßenübergang bei scharfem Ostwind acht Stunden im Tag zu fegen ist eine widerwärtige Beschäftigung. Ihn mit geistiger, moralischer oder körperlicher Würde zu fegen scheint mir unmöglich. Ihn freudig zu fegen wäre schauderhaft«. Oscar Wilde: Die Seele des Menschen im Sozialismus, Übers. Gustav Landauer u. Hedwig Lachmann, Zürich 1970, 33. Wildes Arbeitskritik, die zu einer Zeit formuliert wurde, in der sich Marxisten, Sozialisten und Kommunisten aller Couleur in ihrer Verherrlichung von (körperlicher) Arbeit einig waren, scheint heute zumindest in Teilen der Linken angekommen zu sein. Man findet, wie Wilde, an körperlicher Arbeit »ganz und gar nichts Würdevolles«. Ebd., 32f. Nun hat sich seit dem ausgehenden (19). Jahrhundert und der Hochphase des industriellen Kapitalismus einiges verändert. Die Gegenwartsgesellschaft ist zwar ökonomisch nach wie vor über Wert und Arbeit vermittelt, aber die Formen, in der die doppelten freien LohnarbeiterInnen an der Wertschöpfung werkeln, haben sich gewandelt. Körperliche Arbeit, wie sie zu Wildes Zeiten noch große ArbeiterInnenmassen quälte, ist zwar nicht verschwunden, jedoch auf einem scheinbar unaufhaltsamen Rückzug – zumindest im hoch technisierten »Westen«. Nichts destotrotz hat sich am universellen und internalisierten Arbeitszwang kaum etwas geändert, auch wenn dieser im Lichte der technologischen Entwicklung und der tatsächlich immer prekärer werdenden Möglichkeiten, sich durch Lohnarbeit zu reproduzieren, immer absurder erscheint. Diese Einsicht ist inzwischen auch in Kreisen diesseits radikaler Gesellschaftskritik angekommen wie z.B. die Forderungen mancher Vertreter der Unternehmerseite nach einem leistungsunabhängigen Grundeinkommen belegen.
Teile einer progressiveren Linken Wenn ich hier von der oder den »Linken« spreche, so ist das nicht im Sinne einer identitären Eigenzuschreibung zu verstehen, sondern als freilich recht abstrakte analytische Kategorie. haben darauf reagiert, als sie begannen, dem blinden Aktionismus der 1980er und 90er Jahre abzuschwören und sich stark auf Theoriearbeit zu fokussieren. Sie haben im Zuge dieser prinzipiell begrüßenswerten und historisch konsequenten Entwicklung auch eine Auseinandersetzung mit dem eigenen, sozialisationsbedingten Unterworfensein unter gesellschaftliche Imperative geführt – und sich kritisch vom traditionslinken Arbeitsfetischismus distanziert. Zugleich jedoch handelte es sich dabei vor allem um eine inhaltliche Distanzierung. Die Form der eigenen Tätigkeit wurde und wird eher selten reflektiert. Man ist nach den subkulturellen Erfahrungen und Debatten der vergangenen Jahrzehnte freilich schlauer geworden und macht sich weniger Illusionen über das eigene Nischendasein, das dem gesamtgesellschaftlichen Arbeitsimperativ eben genauso wenig zu entkommen vermag wie die einzelnen Individuen ihrer entsprechenden Sozialisation. Und doch reproduziert man die gesellschaftlich gültigen Muster von intellektueller Produktion häufig unreflektiert – sei es im Verfassen von Texten wie diesem, dem Editieren von Zeitschriften wie dieser oder der Organisation von Veranstaltungen. All dies konsumiert Zeit und menschliche Arbeitskraft, ohne dass über deren Entlohnung auch nur nachgedacht wird. Darüber hinaus entsteht ein »Arbeitsklima«, das klare Wertigkeiten bedingt: Es geht in letzter Instanz immer darum »Output« zu kreieren – d.h. zu produzieren – und die Individuen bewerten sich gegenseitig an der Quantität, manchmal auch an der Qualität des Geschaffenen. Natürlich gehen solche Tätigkeiten nicht im Begriff der Arbeit auf. Zugleich aber können sie unter bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen nicht als von selbigem getrennt gedacht werden. In gewisser Weise reproduziert sich so in linken Kreisen und im Bezug auf deren kritische Umtriebe derselbe Arbeitszwang und Leistungsdruck, der häufig Objekt der Kritik wird. Damit steht man vor einem Dilemma. Kritisches Verhalten ist unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen zumeist nur zum Preis von »Selbstausbeutung« und von entsprechender Mehrbelastung zur reproduktiven Lohnarbeit – oder zu deren postindustriellen Äquivalenten – zu haben. Doch kann es dazu Alternativen geben? Wäre dem Dilemma irgend zu entkommen, ohne sich in den affirmativen Selbstbetrug einer linken Subkultur, in der schon »alles ganz anders ist«, zurück zu begeben?
Hedonismus: »Freiheit als Wein für alle«? Vgl. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Band 2, Berlin 1955, 44f.
Oscar Wilde weigert sich im oben zitierten Essay, das Wesen des Menschen positiv zu bestimmen – und stellt sich damit auch gegen die anthropologische Auffassung vom Menschen als »tätigem Wesen«, aus welcher der traditionelle Marxismus eine Arbeitsontologie ableitet. Einzig zu einer Bestimmung lässt Wilde sich hinreißen: »Muße, nicht Arbeit ist das Ziel des Menschen«. Wilde, Die Seele, 34. Glück, Lust und Genuss werden Wilde zum Telos menschlichen Handelns. Damit evoziert Wilde die philosophische Tradition des Hedonismus. Nun reicht diese Tradition bis in die griechische Antike zurück und ist selbst höchst vielschichtig. Im deutschen Gebrauch des Begriffs jedoch hat sich historisch gegen die universelle Bedeutung, der zufolge der Hedonismus Glück bzw. Glückseligkeit als höchstes Ziel menschlichen Handelns proklamiert, eine verengte Bedeutungsvariante durchgesetzt. Hedonismus meint in diesem Sinne das Streben nach momentaner sinnlicher Lust. Die schon in der Antike entstandene »Glückseligkeitslehre«, für die Kant den Begriff des »Eudämonismus« prägte, bildet die (moral)philosophische Grundlage für den Hedonismus, dessen Begriff ein moderner ist. Vgl. den Eintrag »Hedonismus« von J. Ruhnau, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Hrsg. von Joachim Ritter, Basel / Stuttgart 1974, 1023ff.
Das gegenwärtige Alltagsverständnis des Begriffs weiß freilich nichts von solchen Differenzierungen. So dient der Begriff des Hedonismus auch einer »(Pop)Linken« zur Identifikation und zur Umschreibung des eigenen Lebenswandels, der sich u.a. durch eine exzessive Feierkultur, häufigen Drogenkonsum und ein damit einhergehendes subversives Selbstverständnis auszeichnet. Dem oben angesprochenen Arbeitszwang und seinen in die eigene »kritische Praxis« hinein verlängerten Formen soll durch ein solches, »hedonistisches« Selbstverständnis der Boden entzogen werden. Das gegenwärtige Revival der Feier- und Techno-Subkultur hat auch Teile der Linken umgewälzt: Gerade eine Generation, die durch eine tendenziell asketische, links-autonome Antifa-Sozialisierung geprägt wurde, scheint darin einen kathartisch anmutenden »zweiten Frühling« zu erleben. Die nicht mehr neuen Debatten um linke Lustfeindlichkeit und Selbstkasteiung haben offensichtlich Früchte getragen. Die durch Konsumverzichtsideologien wie Straight Edge, Veganismus oder DIY im weitesten Sinne und einen rigiden Political-Correctness-Diskurs zugerichteten Individuen können endlich aufatmen, gilt es doch nun selbst als subversive Strategie, oder zumindest als mit linkem Selbstverständnis kompatibel, eine an unmittelbarem Lustgewinn orientierte Existenz zu führen. Natürlich ist das im Vergleich zur linken Tradition von autonomem AZ-Mief und martialischer Sportgruppen- und Parteidisziplinpolitik zunächst begrüßenswert und sympathisch. Vor allem, weil neben und mit dem auf Feiern abonnierten linken »Hedonismus« sich eine ebenfalls als »hedonistisch« verstehende linke Position entwickelt hat, die darunter die Affirmation eines genussorientierten Lifestyles in weiterem Sinne versteht. Die linke Verzichtsethik wird mit der bedingungslosen Forderung nach dem »guten Leben«, nach kulinarischem, ästhetischem etc. Luxus und Genuss, nach »Pralinen und Palästen für Alle« kontrastiert. Damit wird immerhin eine Forderung artikuliert, die aus dem weit in die Linke hinein reichenden gesamtgesellschaftlichen Konsens der Arbeitsfixiertheit, dem zufolge man sich Luxus und maßvollen Genuss erst verdienen müsse, ausbricht.
Zugleich aber stellt sich die kritische Frage nach der gesellschaftlichen Funktion, der Form und dem tatsächlichen Gehalt dessen, was sich der zum Schlagwort avancierte »Hedonismus« auf die Fahnen schreibt.
Seit Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in den Kulturindustriethesen der Dialektik der Aufklärung den komplementären Zusammenhang von Arbeit und Freizeit aufgezeigt haben, Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Adorno GS Bd. 3, Frankfurt a. M. 2003, 158f. ist es fraglich, wie viel darüber hinaus gehendes Potential man einer jeglichen allein auf subjektiven Lustgewinn und »Amusement« orientierten Ideologie zusprechen kann. Deren gesellschaftliche Funktion lässt sich leicht als die von Adorno und Horkheimer beschriebene Melange aus normierter regenerativer »Freizeit« und zwanghafter Aktivität als Fortsetzung des Funktionieren-Müssens auch jenseits der Arbeitszeit erkennen. Der Erfahrungsarmut und Eintönigkeit des Alltagslebens dient der sexuelle Abenteuer, psychische und physische Grenzerfahrungen und unmittelbare sinnliche Lustempfindungen versprechende (Wochenend-)Exzess als Fluchtpunkt und gerade deshalb als stabilisierendes Komplement. Es lässt sich daneben ein den Arbeitszwang spiegelnder Feierzwang beobachten, der die Logik von Selbstzurichtung aufnimmt und auf anderem Terrain in neue Extreme treibt – bis hin zur grotesken physischen Überformung des Leistungsprinzips, z. B. im schlaflosen Durchfeiern mehrer Tage und Nächte. Das Verdikt über den »Fun« als einem »Stahlbad« Ebd., 162. trifft sicher auch in diesem Sinne und auf die gegenwärtigen Formen post-adoleszenter Partykultur zu.
Besonders absurd mutet es schließlich an, wenn die Feierkultur selbst noch politisiert werden soll. Dient sie doch nicht zuletzt der Flucht aus einem politisch überdeterminiertem Kontext, soll der selbstverordnete »Hedonismus« nun in Form von ihm aufgeklebten schrillen Parolen und schicken poplinken Labels eine subversive oder kritische Funktion erfüllen. Das vom eigenen Eskapismus bedingte schlechte linke Gewissen weiß sich beruhigt, wenn es sich selbst versichern kann, dass man »gegen Deutschland« ravet und kokst. Da auch über die Momente vermeintlichen Genusses noch das rigide linke Über-Ich wacht, muss man auf die lustvolle Tätigkeit einen Inhalt und eine Sinnhaftigkeit projizieren, die dort gar nicht vorhanden sein können: Genuss und Lust sperren sich schon ihrer selbstzweckhaften Form nach gegen eine ihnen äußerliche Zweckbestimmung. Die Slogans und Parolen klingen damit so hohl wie seit jeher alle Versuche, der eigenen pop- oder subkulturellen Praxis einen »emanzipatorischen« Inhalt zusammenzuphantasieren oder äußerlich zu verordnen. Zumeist gehen sie über ein ästhetisches Interesse am Schick der Rebellion und der Sexiness des Radikalen sowieso nicht hinaus. Dort, wo es popkulturellen Produkten um mehr zu tun ist, sind sie häufig unfähig zur Reflexion auf die eigene Beschränktheit: dass sie zur kritischen Bewegung des Begriffs das falsche Medium darstellen und zur formalen ästhetischen Konsequenz, in der allein ihr kritisches Potential liegen könnte, nicht fähig oder willens sind. Dazu tritt ein Problem objektiver historischer Entwicklung. Konnten Subkulturen zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt durchaus eine gewisse soziale Sprengkraft entfalten, so wurde noch jedes dieser Potentiale irgendwann dem verhassten »Mainstream« und seinen Funktionen integriert – und damit »entschärft«. Erinnert sei nur an das Phänomen Punk, das wohl wie kaum ein anderes die heutige Mainstreamästhetik in Mode, Kunst und Musik dominiert.
Das ganze Glück: Genuss und Erkenntnis
Nun fragt sich aber, was die oben beschriebenen Phänomene tatsächlich mit dem zu tun haben, was unter dem Begriff des Hedonismus changiert. In seinem 1938 erschienen Essay Zur Kritik des Hedonismus diskutiert Herbert Marcuse dessen Implikationen. Er kritisiert die subjektive Borniertheit und das affirmative Moment des Hedonismus, der auch als radikaler noch das »besondere Glück mit dem allgemeinen Unglück« Herbert Marcuse: »Zur Kritik des Hedonismus«, in: Schriften, Band 3, Springe 2004, 257. versöhne. Im Hedonismus fänden »falsche Bedürfnisse« im Bestehenden die für sie angebotenen sinnlichen Befriedigungen. Vgl. ebd., 276f. Die Rede von »falschen Bedürfnissen« ist nicht unproblematisch, wirft sie doch die Frage nach Kriterien der Entscheidung über die Falschheit oder Wahrheit eines subjektiven Bedürfnisses und damit nach dessen objektiver Legitimation auf. Wer vermag sie wie zu beantworten? Er findet sich allein mit dem unmittelbaren sinnlichen Genuss der Welt so, wie sie ist, ab und erschöpft sich in der Hingabe daran. Sein abstrakter Individualismus bestimmt das bloße Einzelinteresse als Allgemeines und verleiht somit den »falschen«, weil gesellschaftlich vorbestimmten Bedürfnissen, Interessen und Genüssen die Würde eines Glücks, das sie zwangsläufig verfehlen müssen. In seiner lustvollen Gegenwartsbezogenheit und Unmittelbarkeit fragt der Hedonismus nicht nach den brachliegenden »Möglichkeiten der Menschen und Dinge«. Marcuse, Kritik, 253. Dies zeigt die Grenzen, die seiner nach momentaner Lust strebenden Logik inhärent sind. Die Erkenntnis besagter Möglichkeiten, als verlorener, verkümmerter und unbewusster, so Marcuse, sei nämlich kein genussvoller, sondern vielmehr ein leidvoller Prozess. Indem der Hedonismus das Glück von dem Anspruch auf Wahrheit trennt, relativiert er diesen. Zugleich aber ist er mit dieser Trennung, »seiner Unwahrheit«, Ebd., 262. im Recht: Er hält entgegen den Proklamationen der idealistischen Philosophie, deren Idealisierung des bestehenden Unglücks als verwirklichter Identität von Wahrheit und Glück, an seiner Forderung nach sinnlich erfahrbarem Glück fest. Der Hedonismus pocht damit gegen allen falschen Trost auf die Diesseitigkeit von Glück, und fordert mit Heine gegen das »alte Entsagungslied / Das Eiapopeia vom Himmel«: »Wir wollen hier auf Erden schon / das Himmelreich errichten // Wir wollen auf Erden glücklich sein.« Heinrich Heine: »Deutschland – Ein Wintermärchen«, in: Ausgewählte Werke, Darmstadt 2002, 94.
So entfaltet Marcuse das kritische Potential des Hedonismus, dessen »materialistischen Protest« Marcuse, a. a. O., 252. Zum materialistischen Moment der Glücksforderung s. den unbedingt lesenswerten Essay von Alfred Schmidt »Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie«. In ders.: Drei Studien über Materialismus, Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1979, 135-195. gegen die Verbannung des Glücks in den Bereich des Privaten. Mit seiner Betonung der reinen sinnlichen Lust zielt der Hedonismus auf die materielle Freiheit des Menschen und agiert zugleich gegen die (kultur-)protestantische Moral der Verinnerlichung und die daraus resultierende Verdrängung vorab tabuisierter Triebregungen. Marcuse beschreibt die Sinnlichkeit als Refugium des Glücks, vgl. ebd., 259. An den Begriffen, die sich der Hedonismus zum Programm macht, hält Marcuse unbedingt fest: Es gilt, sie ideologiekritisch zu wenden und ihr volles Potential frei zu legen. Im Genuss geht es demnach um mehr als seine unmittelbare Verwirklichung um jeden Preis, um nicht weniger als die »Erfüllung aller subjektiven und objektiven Möglichkeiten«. Und Lust ziele »wesentlich auf ihre eigene Steigerung und Verfeinerung«, Ebd., 271f. die nur jenseits der gegebenen gesellschaftlichen Schranken zu erzielen ist. Letztlich geht es Marcuse, ähnlich wie schon Marx, Vgl. Schmidt, Zum Begriff, 188. um die Versöhnung von individuellem Glück und Wahrheit bzw. Vernunft. Das ganze Glück, das der Hedonismus in dessen Reduktion auf Genuss nicht denken kann, würde somit auch die klaren Grenzen zwischen Erkenntnis und Lust bzw. Genuss aufheben. Damit wird der Blick auf mögliche Erfahrungen frei, in denen Genuss auch in Bereiche vordringt, die heute strikt dem Diktat der gesellschaftlichen Verwertbarkeit und Zweckhaftigkeit unterworfen sind. Erkenntnis als selbst von äußerlichen Zwecken befreiter, interesseloser intellektueller Lustgewinn wäre sinnlich und vernunftgeleitet zugleich, und käme darin dem Begriff der Kontemplation nahe. Vgl. ebd., 193. Vgl. dazu auch den Aphorismus »Sur l'eau« in Adornos Minima Moralia: »Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, ›sein sonst nichts, ohne weitere Bestimmung und Erfüllung‹ könnte an Stelle von Prozess, Tun, Erfüllen treten«. in: GS Bd 4, Frankfurt a. M. 2003, 179.
Das bruchstückhafte Glück der Gegenwart muss für Marcuse zum Gegenstand der Kritik werden, ist zugleich aber auch ein Rettungsanker für das Individuum »in Mitten des Falschen«, der es vor der »letzten Verzweiflung« bewahren kann. Daher bricht Marcuse eine Lanze für den Hedonismus: »Die rigoristische Moral versündigt sich gegen die karge Gestalt, in der Humanität überdauert hat; ihr gegenüber ist jeder Hedonismus im Recht.« Marcuse, Kritik, 278.
Nun ist es nicht unproblematisch, die Kritik, die Marcuse am philosophischen Hedonismus formuliert, unmittelbar auf gegenwärtige soziale Praxen anzuwenden, auch wenn diese sich als »hedonistisch« verstehen. Zugleich aber lässt sich der philosophische Hedonismus als eine praktische Philosophie verstehen, der es durchaus um lebensweltliche Orientierung und eine entsprechende Haltung, einen praktischen Hedonismus, zu tun ist. So lässt sich die von Marcuse herausgestellte Dialektik auch für die vulgären und unreflektierten gegenwärtigen Formen von »Hedonismus« fruchtbar machen, zielen sie doch im Kern ihres kaum artikulierten Selbstverständnisses ebenso auf unmittelbaren Lustgewinn, wie ihn der philosophische Hedonismus im engeren Sinne als handlungsleitendes Ziel proklamiert.
Eskapismus und Emanzipation
Die Frage nach der (Un-)Möglichkeit der individuellen Erfahrung von Glück lässt sich mit dem obigen Verweis auf die gesellschaftliche Funktion des »Hedonismus« nicht erschöpfend beantworten. Das Bedürfnis, das sich z. B. im exzessiven Feiern äußert, ist sicherlich ein gesellschaftlich geprägtes, das nach unmittelbarer Befriedigung im Bestehenden sucht – zugleich aber bleibt zu fragen, inwiefern sich darin ein widerständiges Moment gegen die Logik von Verwertung, Verzicht und Zurichtung zumindest artikuliert. Der darin zum Ausdruck kommende Anspruch auf die individuelle, wie auch immer rein sinnliche und auf einen Moment zusammengezogene Glückserfahrung stellt sich so als durchaus legitim dar: »Das hier und jetzt Genossene ist nicht schon dadurch entwertet, dass ihm keine ewige Bedeutung beigemessen werden kann. Glück entzieht sich jeder Letztbegründung.« Schmidt, Zum Begriff, 169. Dass sich die Erfahrung von Glück unter gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen häufig nur in höchst ambivalenter und häufig verkümmerter Form einstellt, kann diese Legitimität nicht vorweg untergraben. Keine Erfahrung ist rein, authentisch und jenseits gesellschaftlicher Vermittlung zu haben – und alle Proklamationen davon verfallen erst recht einer regressiven Ideologie, die sich auf eine den gesellschaftlichen Prozessen vorgängige Sphäre eigentlicher oder existenzieller Erfahrung beruft. Diese Einsicht kann ein Argument gegen die von den oben erwähnten Konsumverzichtsideologien gegeißelte angebliche Inauthentizität von Erfahrungen z. B. unter Drogeneinfluss sein. Solche Erfahrungen, deren archaischer und häufig kollektivistischer Charakter gar nicht verschwiegen zu werden braucht, sind nicht das ganze Glück und können es nie sein. Ein kritisches Bewusstsein davon ist notwendige Vorraussetzung dafür, nicht der Illusion zu erliegen, dass z. B. ein Drogenrausch der Weg ins Nirwana sei. Ohne diese Reflexion geht man der Lockung des Hedonismus auf den Leim, die Marcuse kritisiert hatte und welche die unmittelbare Identität von sinnlichem Genuss und vollem Glück verspricht. Zugleich aber sind momenthafte individuelle sinnliche Erfahrungen nicht einfach nur als schlecht eskapistisch zu verdammen, sondern bieten dem zugerichteten Individuum zumindest für Augenblicke die Möglichkeit, die Zügel loszulassen und so etwas wie lustvolle Zweckfreiheit oder befreiende Unproduktivität zu empfinden. Solche Erfahrungen stiften, wie auch immer man ihre gesellschaftliche Funktion objektiv unter mikroskopisch-kritischem Blick bewertet, subjektiv Hoffnung. Was lust- oder genussvoll als Glücksmoment empfunden wird, hält durch alle Entstellungen und ideologischen Aufladungen zumindest die Möglichkeit eines Zustandes fest, in dem Glück nicht auf dem Alltag exterritorialisierte private Augenblicke und nicht auf solches sinnliches Empfinden beschränkt bliebe. In diesem Sinne enthält der Hedonismus, ähnlich der Kunst, eine gebrochene promesse du bonheur. Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, GS Bd. 7, Frankfurt a. M. 2003, 26, 128f. Der Zusammenhang von Kunst und Hedonismus wäre es wert, weiter beleuchtet zu werden. Ein solches Glücksversprechen liegt aber im Moment der Form, der selbstzweckhaften hedonistischen Hingabe an den Augenblick des Genusses und nicht in dessen Inhalten und Gegenständen, die stets dem Diktat gesellschaftlicher Ein- und Zurichtung unterliegen und die sich nicht politisieren lassen, ohne selbst zu Ideologie zu werden.
Das schicke identitäre Geschwätz vom eigenen »Hedonismus« braucht es damit nicht. Man macht sich besser keine Illusionen über dessen regressives Gebaren oder die angesprochenen krampfhaften Versuche seiner Politisierung. Politisch kann eine Partykultur heute als solche nur dann noch sein, wenn ein autoritäres theokratisches Regime alle Formen von praktischem Hedonismus mit Tugendterror verfolgt: Im Iran mögen Partys und sexueller oder drogenbedingter Exzess immer auch ein kritisches politisches Statement gegen das islamische Establishment und seine scheinheilige Moral sein – egal ob intendiert oder nicht. Darüber darf nicht vergessen werden, dass auch und gerade im Iran der in gewissen Maßen tolerierte private Exzess den politischen Willen zur Subversion betäubt. In diesem Kontext können auch die kulturindustriellen Massenprodukte »westlicher« Provenienz, mit denen die Autoren der Dialektik der Aufklärung so hart ins Gericht gingen, ein subversives Potential freisetzen. Lebt man aber nicht in Teheran, Shiraz oder Isfahan, so sollte man sich besser bewusst machen, worum es beim Feiern geht: zunächst um völlig harmlosen, unkritischen »Fun«, der im besten und sicher eher seltenen Falle ein sinnlicher Appetizer von Glück sein kann – mehr sicherlich nicht und bestimmt kein Ersatz für begriffliche Reflexion und substantielle Gesellschaftskritik. Aus einer solchen heraus gelte es aber, dem verkniffenen Arbeitsethos auch der Linken den unmittelbaren Glücksanspruch des Hedonismus entgegenzuhalten und zugleich mit Marcuse seine Aufhebung anzustreben. Der Anspruch auf Glück, auf das Ganze, das vernünftige wie das sinnlich-lustvolle, das geistige wie das somatische, ist das Telos aller ernstzunehmenden Kritik. In den an Marx angelehnten Worten Alfred Schmidts: »Glück wäre die verwirklichte Idee der Menschheit.«, 195. Diese selbst bleibt aber in der Gegenwart in die Form »unglücklichen Bewusstseins« gebannt und nur so, negativ, zum Glück vermittelt. Vielleicht erklären sich daraus die hedonistischen Fluchtimpulse kritischer Menschen – während die unreflektierte Rede vom Hedonismus dieses negative Motiv zu einem positiven verklärt. Dem aus spezifisch linker Sozialisation und rigoroser gesellschaftlicher Zurichtung resultierenden regressiven »Opferwillen«, der das leidvolle Moment kritischer Tätigkeit (insgeheim selbst masochistisch-lustvoll) affirmiert, Wilde polemisiert im Sinne von Individualismus und Genuss gegen das »Pfaffengeschwätz« von Pflicht und Selbstaufopferung und den »Kultus des Leidens«. Wilde, a. a. O., 64 bzw. 69. steht als komplementärer Gegenpol der unbedingte Wille, all das einmal zu vergessen und sich unreflektiert gehen zu lassen, gegenüber.
In der Linken lässt sich als Tendenz beobachten, dass vormals besonders rigorose Vertreter von Moral und Political Correctness im neu erworbenen »Hedonismus« die Chance sehen, sich für all die über die Jahre hin verdrängten Triebregungen zu kompensieren. Im Zuge dieser »Selbstbefreiung« gehen dann alle zuvor vertretenen Standards flöten und man kann legitim den eigenen z.B. sexistischen Regungen frönen. Einer Kritik daran hält man dann vor, lustfeindlich zu sein und vermengt damit mehr oder minder bewusst zwei Komplexe, die zunächst getrennt zu betrachten wären. Das Problem linker Lustfeindlichkeit, das ursächlich an der eigenen späteren kathartischen Hinwendung zum »Hedonismus« beteiligt ist, wird mit der Kritik am gerade auch »in der Szene« nach wie vor virulenten Sexismus schlicht identifiziert – und der eigene Sexismus damit legitimiert. Herbert Marcuse hat einen solchen selbst als lustvoll erlebten Rückfall hinter zivilisatorische Standards in Der eindimensionale Mensch als »regressive Entsublimierung« beschrieben. Herbert Marcuse: Der Eindimensionale Mensch, in: Schriften, Band 7, Springe 2004, 91ff. Ob »Entsublimierung« unter gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen überhaupt frei von regressiven Zügen sein kann, wäre allerdings tatsächlich zu bezweifeln. In der unbedingten Hingabe ans sinnliche Genießen liegt jedoch zugleich ein herrschaftskritisches Moment: Sie entzieht sich für Augenblicke der Kontrolle, sei es der äußerer oder der verinnerlichter gesellschaftlicher Instanzen.
A matter of survival: Bewusster Genuss
Der hedonistischen Überaffirmation des Lustprinzips wohnen ebenso regressive Züge inne wie der Vergottung des Realitätsprinzips, die stets bereit ist, das Individuum und seine Ansprüche den zur sakrosankten »Realität« verdinglichten gesellschaftlichen Imperativen zu opfern. Dass Lust und Genuss in unserer Gesellschaft kaum frei von Momenten der Regression auf archaische Unmittelbarkeit und tendenziell vorzivilisatorisches Verhalten zu haben sind, spricht jedoch zuallererst ein Verdikt über das gesellschaftliche Realitätsprinzip. Es ist und bleibt ein armseliges und widersprüchliches Glück, welches von diesem gewährt wird. Wer mag es den Menschen verdenken, dass sie zumindest danach greifen. Der Hedonismus findet sich damit ab, aber er besteht zugleich gegen die Gesellschaft und ihre Zumutungen auf der Legitimität von individuellen Glücksansprüchen im Hier und Jetzt, denen er freilich selbst nie genügen kann. Reflektiert man diese Beschränktheit und Problematik des philosophischen wie des praktischen Hedonismus mit, macht man aus ihm nicht mehr als er sein kann, so spricht nichts dagegen, sich bewusst dem Augenblick sinnlichen Genusses hinzugeben – soweit man dazu überhaupt noch in der Lage ist. In der zugerichteten Welt, in der mehr kaum zu haben ist, kann ein gewisses Maß an hedonistischem Eskapismus mitunter zur Überlebensstrategie werden, denn: »Die Realität liefert zu vielen realen Grund, sie zu fliehen, als dass eine Entrüstung über Flucht anstände, die von harmonistischer Ideologie getragen wird«. Adorno, Ästhetische Theorie, 21.
~Von Sebastian Tränkle.