Der folgende Artikel hält sich nicht an die Spielregeln akademischen Schreibens. Die Sprache ist so kompliziert, wie sie sein muss. Ich zitiere aus dem Gedächtnis, gebe keine Quellen an und es gibt auch keine Fußnoten. Ich führe Begriffe nicht ein, weder über ihre Geschichte, noch über ihre Rezeption noch über ihre Bedeutung bei verschiedenen AutorInnen. Denn das würde schnell eine akademische Abhandlung. Allerdings wird kaum verborgen bleiben, dass hier eine Akademikerin schreibt.
Es geht also um Theorie und die Möglichkeit kritischen Denkens an der Universität. Theorie ist immer auch Rationalisierung im Sinne der Psychoanalyse. Etwas denken zu können, bedeutet auch, nicht handeln zu müssen. Und hier liegt die Widersprüchlichkeit im Begriff: Wie in Freuds Konstitutionstheorie des psychischen Apparates das herrschende Funktionieren des Apparates gehemmt werden muss, damit aus dem Reflexapparat, der alle Erregung sofort abführt (also ständig in Aktion ist, ständig zum Handeln bereit), ein psychischer Apparat wird, der aufschieben und damit denken kann, bedeutet Rationalisierung auch, einen Affekt im Denken aufheben zu können, statt ihn unmittelbar zu agieren. Aufheben heißt, er ist darin enthalten (ist noch da), aber in einer anderen Form (hat sich verändert). Ein Affekt, der im Denken aufgehoben ist, behält seine Qualität, verändert aber seinen Ausdruck, so könnte man sagen. Es macht einen enormen Unterschied, und hier sind wir mitten in der Dialektik der Rationalisierung, ob man vor Wut blind um sich schlägt oder ein vernichtendes Pamphlet schreibt. Allerdings ist diese Bewegung der Möglichkeit nach auch immer eine Rationalisierung im Sinne einer Abwehr: Etwa, wenn man sich hinter der Theorie verschanzt, die dann nur noch dazu dient, zu begründen, warum man genau so (meist: nämlich nicht) und nicht auch anders handeln könnte. Rationalisierung als Abwehr (eines sonst nicht auszuhaltenden Affekts) reicht vom Finden rationaler (also mit dem Verstand einzusehender) Begründungen bis hin zum Wahn, in dem dann jedes Einzelteil seinen Platz im System zu finden hat. »Wer denkt, ist nicht wütend« heißt es bei Adorno und abgesehen davon, dass das nicht immer stimmt, lässt sich an diesem Satz die Dialektik der Theorie als Rationalisierung entfalten: Wer nicht wütend ist, der schlägt nicht blind um sich (Rationalisierung im erstgenannten, aufhebenden Sinn), sondern schaut erst einmal genau hin, kann sich Zeit nehmen. Wer nicht wütend ist, wer nicht um der besseren Möglichkeit willen gegen die schlechte Wirklichkeit anrennt, hat allerdings vielleicht auch keinen Grund mehr, mit dem nächsten Text noch etwas anderes als die nächste Publikation auf der Liste zu wollen. Denken bewegt sich als Rationalisierung, die es wegen seiner aufschiebenden und verschiebenden Funktion immer auch ist, an der Grenze zwischen der tröstenden Hoffnung, die bessere Möglichkeit wenn schon nicht zu erleben, dann doch denkend erfahren zu können und dem Verrat der Möglichkeit, weil nichts mehr außer dem Denken gewollt wird. Rationalisierung ist Bedingung der Möglichkeit, sich von der eigenen Ohnmacht nicht dumm machen zu lassen aber zugleich auch Gefahr.
Hier allerdings zeigt sich am Besonderen der Verrat, den ein jeder und eine jede täglich begeht und um der eigenen psychischen Stabilität wegen auch tunlichst begehen sollte (Adorno nannte dies die »konstitutive Kälte des bürgerlichen Subjekts«). Der Verrat an einer freien Menschheit, die ihre Geschichte selber machte, der Verrat an allen, die in einer weniger privilegierten Situation leben, zeigt sich im Denken, welches kein rationalisierter Schrei mehr ist, sondern bestenfalls der eigenen Bequemlichkeit dient, wenn nicht gar zum Werkzeug instrumenteller Vernunft geworden ist und sich in den Dienst einer jeden Sache stellen kann, nur besonders deutlich. Dass man angesichts des täglich erfahrbaren Grauens einfach weiterlebt und weitermacht, das ist der Skandal. Und doch würde selbstauferlegte Genussfeindlichkeit und Askese den Gedanken an das gute Leben für alle erst recht verraten. Kritik am Privileg wird selbst zum Privileg, sagte Adorno, und fügte lapidar hinzu: »So dialektisch ist der Lauf der Welt«.
Wenn man daran denkt, wie und gegen wen sich von Reflektion nicht abgelenkte Wut im Kapitalismus häufig richtet, ist stets gegen das Ressentiment auf mehr Rationalisierung zu hoffen: Trifft es doch sonst gerne die, an denen sich projektiv die eigene Schwäche bekämpfen lässt, die vermeintlich Mächtigen oder die noch Schwächeren.
Der unmittelbare Vorteil eines dezidiert nicht-akademischen Textes ist, dass er für mich leichter zu schreiben und sicher auch leichter zu lesen ist. Der Nachteil bleibt, dass nur diejenigen, die wissen, auf was ich mich beziehe, nachvollziehen und nachlesen können, wen ich da wann und wozu aufrufe und ob ich das überhaupt in einer Art und Weise tue, die nachvollziehbar oder gar sinnvoll ist. Das Angeben mit und von Quellen kann ja auch, Neugier vorausgesetzt, der Überprüfung und der Bildung dienen. Alle anderen müssen mir vertrauen und das ist autoritär, auch wenn das Vertrauen berechtigt sein sollte. Allerdings können auch Fußnoten und Belegstellen nicht nur als Ausweis des eigenen Fleißes dienen, sondern auch dazu, hinter der eigenen (vorgeblichen) Belesenheit und den aufgerufenen Autoritäten in Deckung zu gehen. Das Durcharbeiten von Texten und der ausgewiesene Bezug auf Referenzen kann Gedanken Substanz verschaffen und vor Hochmut und Selbstbezüglichkeit schützen, die eigenen Gedanken von Weltentwürfen auf Beiträge zurückstutzen – soviel Kränkung sollte ausgehalten werden können. Zudem kann es Freude machen, etwas, das man gerade erst angedacht hat, zur Sprache gebracht zu sehen, in Worten, die man vielleicht selber nicht gefunden hätte. Dabei kann man feststellen, dass zwar jeder und jede für sich das Rad immer wieder neu erfinden muss, da lernen bedeutet, selber denken zu lernen, um etwas weiterdenken zu können, aber dass es trotzdem schon eine ganze Menge gibt.
Ein sich in den Niederungen der Sekundärliteratur schnell stellendes Problem ist, dass man zwar eine Menge lernen kann, aber auch bald nicht mehr zum Denken kommt; zumindest ist das eine nicht ganz unberechtigte Phantasie. Jeder eigene Gedanke wird sofort erstickt von einem Teppich aus unendlich vielen Referenzen, auf die man sich aber, will man im akademischen Betrieb ernstgenommen werden und Erfolg haben, zu beziehen hat. Dass es unbestreitbar so viel langweilige wie ärgerliche Wissenschaft (und ich spreche jetzt und im Folgenden nicht von Naturwissenschaft) an Universitäten gibt, liegt allerdings nicht daran, wie die Texte geschrieben wurden, sondern an dem, was drinsteht. Kurz gesagt liegt es daran, dass das Ziel solcher Bemühungen ist, etwas in seiner angeblich ungeheuren Komplexität immer besser zu verstehen, ein nicht langweiliger, weil kritischer Text, würde aber versuchen, etwas zu begreifen, damit es gesellschaftlich abgeschafft werden kann.
Das Gegenteil zur wissenschaftlichen Fleißarbeit ist allerdings häufig nicht der Geniestreich, der durch den universitären Diskurs und den am Ideal einer naturwissenschaftlichen Untersuchungen ausgerichteten Drittmittelanträgen (jeden Text so aufzubauen, dass er auch ein Laborexperiment beschreiben könnte) verhindert würde, sondern die pure Reproduktion des gesunden Menschenverstandes, der weder Quellen noch Argumente braucht, und dem es reicht, etwas ungefähr zu wissen oder anzunehmen, weil er nur das ausspricht, das eh schon alle sich so denken. Das Arbeiten mit Referenzen kann auch der Realitätsprüfung dienen.
Akademisierung meint einen Prozess, eine Bewegung in der Zeit. War also die Kritik früher nicht an der Universität? Das würde einer Überprüfung nicht standhalten. Ein paar Beispiele: Marx war nicht an der Uni, aber er schrieb Teile des Kapitals, von Engels unterhalten, im Lesesaal der British Library in London. Freud die längste Zeit auch nicht, aber er wäre es gerne gewesen, und vielleicht hätte es trotz des Umstandes, dass die Psychoanalyse bis heute in dem Ruf steht, eine schlechte Wissenschaft zu sein, doch früher geklappt, wenn er nicht auch noch Jude gewesen wäre. Adorno und Horkheimer waren an der Universität. Gegenwärtig, in Zeiten des abgeschafften Mittelbaus, der Prekärbeschäftigung und des Drittmittelwettbewerbs, herrscht an den Universitäten eine Theorie- und Denkfeindlichkeit, die sie weitgehend zu intellektuellenfeindlichen Orten werden lässt. Ausnahmen bestätigen allerdings auch hier die Regel. Vergessen werden sollte auch nicht, dass an der Universität, neben der Universität, gegen die Universität eine Atempause in Form einer verlängerten Adoleszenz möglich ist, welche als Bedingung der Möglichkeit kritischen Denkens nicht zu unterschätzen ist.
Akademisierung der Kritik könnte auch bedeuten, dass, wer einem außertheoretischen Bedürfnis folgend, angetreten ist, um Kritik zu üben, an der Universität unkritisch wird. Wer unter einem Begriff die Bewegung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit versteht, um der Möglichkeit willen, die als zu verwirklichende im Begriff liegt, gegen die schlechte Wirklichkeit andenkt, wem es also um den Gegenstand geht, leidet, findet etwas anderes, fliegt wieder raus, oder bleibt. Wer, an der Universität angekommen, anfängt ausschließlich affirmative Texte zu produzieren, folgt damit auch Bedürfnissen, die sicher älter sind als die akademische Sozialisation. Je bewusster man sich ist, dass eher die Institution durch einen durchmarschiert, als man selber durch die Institution, desto besser gelingt es vielleicht, der universitären Produktion von Konformismus und Opportunismus etwas entgegenzusetzen.
Nun kann man Akademisierung der Kritik auch so verstehen, dass der Umstand angesprochen wird, dass einige derer, die sich, aus der Bewegungslinken kommend oder auch nicht, über das zunächst außertheoretische Bedürfnis, etwas ändern zu wollen, aus einem tiefsitzenden Unbehagen an den Verhältnissen, zur Theorie gekommen sind, an der Universität gelandet sind und jetzt Wissenschaft machen. Wissenschaft ist zunächst sehr schlicht: Lohnarbeit. Allerdings sind Universitäten was die Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit betrifft, wenn auch sonst kaum, sicherlich Avantgarde: Man arbeitet dort schließlich für die Sache und nicht gegen einen angemessen Lohn, und wenn die Sache auch nur der eigene Lebenslauf ist. Freiwilligkeit ist schwer angesagt und wer da nicht mitmacht, auf Arbeitszeiten achtet und vielleicht auch schon mal darauf gekommen ist, was folgt, wenn aus dem freiwillig das »frei« gestrichen wird, der stört nach außen und/oder leidet nach innen. Arbeitsverhältnisse, auf die diese Beschreibung zutrifft, gibt es allerdings auch außerhalb der Universität, was hüben wie drüben gefordert und bereitwillig entgegengebracht wird, ist die Identifikation mit der Arbeit, die nicht Mittel, sondern der Zweck selber ist.
Was wären denn die Alternativen? Das Versprechen der Menschenrechte einzulösen, dass Glück auch dort sei, wo keine Macht ist, den gesellschaftlichen Reichtum so verteilen, dass niemand mehr Not leiden muss und dann jeder nach seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten? Dies gilt es zu verwirklichen, bis dahin bleiben verschiedene Möglichkeiten. Erstens: Als aufrechte Kritikerin auf gar keinen Fall an der Universität arbeiten, sondern lieber – gut oder schlechtbezahlt, je nach Glück und Qualifikation – in einem anderen Beruf. Oder eine Lohnarbeit zu wählen, die sonst irgendwie sinnvoll und befriedigend zu sein scheint, nicht umsonst werden so viele Linke Sozialarbeiterinnen oder Psychotherapeutinnen. Wer diesen Spagat kennt, weiß, dass dieser Versuch unter Umständen besser sein kann, als die Universität auszuhalten, aber auch ein gewaltiger Kraftakt, denn der Gedanke an das entspannte Kritisieren nach Feierabend trifft selten die Realität. Zweitens: Hartz IV und/oder Durchwursteln. Die Nachteile liegen auf der Hand, nicht erst dann, wenn man Verantwortung für andere zu tragen hat. Drittens: Das Glück haben, nicht arbeiten zu müssen, weil Freundin, Eltern oder Engels genügend Geld hat (Die Autorin ist über die Redaktion zu erreichen und bestens auf ein Leben als gut situierte, nicht lohnarbeitende kritische Intellektuelle vorbereitet).
Lohnarbeit bleibt Lohnarbeit und kann Unannehmlichkeiten mit sich bringen, denen gegenüber Arbeit an der Universität Luxusprobleme produziert. Aber entscheidend ist, der Arbeiter und die Arbeiterin (die Lohnabhängigen) sind und bleiben, so lange Kapitalismus ist, doppelt frei, in dem zynischen Sinne, wie Marx es fasste: Frei, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und frei von Produktionsmitteln und daher dringlichst auf ersteres angewiesen. Das richtige Leben im Falschen ist nicht zu finden, auch nicht an der Universität. An der Universität zu arbeiten, bringt der Kritik nicht mehr, als mehr bezahlte Zeit zum Denken – und das kann ganz schön viel sein, muss es aber nicht.
Die unterstellte Bewegung »Akademisierung der Kritik« könnte auch so verstanden werden, dass es eigentlich von der Theorie zur Praxis zu gehen habe und nicht in die Lehrveranstaltung. Realitätsnähe vorausgesetzt, kann zur Zeit wohl kaum davon gesprochen werden, dass irgendwelche kritischen Intellektuellenmengen an der Universität »ins System« integriert und von der Praxis abgehalten würden – dazu sind es schlicht zu wenige, das lohnte sich gar nicht.
Selbst in der Selbstvergessenheit und im gesellschaftsunkritischen Partikularismus mancher kulturwissenschaftlicher Forschungsprojekte (Kulturgeschichte des Kugelschreibers, hier als ausgedachtes Beispiel) ist noch ein Vorschein einer Welt zu entdecken, in der man sich ohne Sorge ums Ganze ins Detail versenken und der Partikularität frönen könnte. Ärgerlich ist solche Forschung deswegen, weil sie die dringenden Fragen nicht stellt und Neutralität und Versenkung ins Detail einen Zustand der Welt voraussetzen, der nicht verwirklicht ist. Vom Denken allerdings stets Programmatik zu verlangen, bringt es um seinen Gehalt.
~ Von Christine Kirchhoff. Die Autorin ist Akademikerin in Berlin.