1980 erschien in Frankreich ein Buch mit dem programmatischen Titel Adieu au prolétariat, zu Deutsch: Abschied vom Proletariat.André Gorz, Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus, überarbeitete Neuauflage, Frankfurt a.M. 1988.typo3/ Sein Verfasser, André Gorz, traf damit den Geist der Zeit. Denn die Verabschiedung alter marxistischer Gewissheiten hatte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits seit einigen Jahren Konjunktur unter Linksintellektuellen verschiedener Provenienz. Neben dem einschlägigen Frontalangriff des Poststrukturalismus auf Subjekt, Geschichte und Emanzipation entstanden auch verschiedene Versuche einer Erneuerung des Marxismus, die diesen modernisieren wollen, ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten. Ob es sich dabei um den libertären Ökosozialismus André Gorz’ oder den linken Populismus von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe handelt – das verbindende Moment dieser und weiterer durchaus heterogener Revisionen war eben jener Rückzug von der Klasse, wie die amerikanische Historikerin Ellen Meiksins Wood bereits 1986 feststellte.Ellen Meiksins Wood, The Retreat from Class. A New ›True‹ Socialism. With a new introduction by the author, London 1998.
1. Der Abschied vom Proletariat
Wood konzentriert sich in ihrer Kritik dieser Revision auf angelsächsische und französische AutorInnen, doch lassen sich verwandte Entwicklungen auch in Italien und der BRD ausmachen. Durch frühere Entwicklungen vorbereitet, prägte der Abschied von der Klasse in den späten siebziger Jahren endgültig die geistige Signatur der Zeit. Dennoch vollzog sich diese transnationale Verschiebung des gesellschaftstheoretischen und politischen Koordinatensystems in verschiedenen Strömungen und Ländern unter je besonderen Vorzeichen, es war ein Aufbruch in verschiedene Richtungen. In der ›linksradikalen Bewegung‹ der Bundesrepublik ist der Abschied über verschiedene verfeindete Fraktionen hinweg gründlich vollzogen worden. Autonome FreiraumaktivistInnen, postmoderne DiskurspolitikerInnen, antiimperialistische FreundInnen der Völker und ideologiekritische KritikerInnen können sich heute zumindest darauf einigen, dass mit dem Proletariat kein Blumentopf zu gewinnen sei. Weder für vielfältige emanzipatorische Politiken, noch für semiotische Subversionen taugt es. Dem Imperialismus heizen Putin und Assad längst besser ein und leider ist es auch viel zu sehr im Verblendungszusammenhang befangen, als dass es sich für die Feldzüge der reinen Kritik interessierte. Und überhaupt: »Klassen gibt’s doch gar nicht mehr!« - rufen Helmut Schelsky, das Godesberger Programm und die aufgeweckten Linksradikalen im Chor. Lange Zeit musste man sich darum von der Klasse gar nicht mehr dramatisch verabschieden, ihr Verschwinden erschien dem common sense als ausgemachte Tatsache. Diese einige Jahrzehnte währende Situation ändert sich nun allmählich. Nicht nur in der Linken spricht man vermehrt über Arbeitsbedingungen und soziale Kämpfe, auch in den großen Feuilletons hatte die Klasse anlässlich Didier Eribons Rückkehr nach Reims ein kleines Comeback.
Soll nun der »Abschied vom Abschied« so fluchtartig erfolgen, wie seinerzeit der »Abschied« selbst? Auf keinen Fall. Ein nostalgischer Sprung zurück, der den Abschied von der Klasse als moralische oder geistige Verirrung abtäte, wäre zur Farce verurteilt. Vielmehr ist es dringend geboten, diese theoriegeschichtliche Entwicklung der Erosion der Klasse und ihrer Wiederkehr zu verstehen, und das heißt: sie als geistigen Ausdruck tiefer gesellschaftlicher Umwälzungen zu begreifen, von denen sie provoziert werden und die sie zugleich zu deuten trachten. Wir denken somit, dass es sich bei dem Abschied von der Klasse um Ideologie im strengen Sinne des Begriffs handelt, »im Sinne einer verkehrten Widerspiegelung ihres gesellschaftlichen Lebensprozesses« und zwar durch »objektive Nötigung, die von der Organisation der Gesellschaft selbst ausgeht. Sie entsteht, wenn die Gesellschaft den Individuen anders erscheint, als sie in Wahrheit ist, wenn bestimmte Oberflächenphänomene ihre innere Organisation verdecken«.Herbert Schnädelbach, Was ist Ideologie? Versuch einer Begriffsklärung, in: Das Argument 50 (1969), 82–84. Damit ist einerseits die Frage aufgeworfen, welche realen Veränderungen im gesellschaftlichen Lebensprozess den Abschied provoziert haben, andererseits die Frage, wie jene in der Theoriebildung geistig verarbeitet wurden, ob und inwieweit es sich dabei um überzeugende Interpretationen der Wirklichkeit handelt. Eine rationale Klassenanalyse wird den wirklichen Prozess der Klassenzusammensetzung untersuchen müssen, anstatt mythisch still gestellte Bilder vom revolutionären Proletariat anzugaffen. Sie wird dabei die Kritik an den Mystifizierungen des Proletariats in sich aufnehmen müssen, ohne jedoch dem »kritischen« Mythos vom Ende der Klassengesellschaft aufzusitzen. Eine Veränderung dieser Wirklichkeit muss mit ihrer vernünftigen Interpretation Hand in Hand gehen.
2. Von der klassenlosen Klassengesellschaft zum Proletariat als Pöbel
Wenden wir uns einer spezifisch deutschen, nämlich der antideutschen Variante des Abschieds zu. Diese steht in der Tradition der Kritischen Theorie, die schon seit den dreißiger Jahren an einer Aktualisierung der Marx’schen Theorie gearbeitet hatte. Darin bewies sie eine außerordentliche Sensibilität für die autodestruktive Tendenz des technisch hochentwickelten Kapitalismus, die mangelnde Resistenzkraft der ArbeiterInnenklasse und die Bedeutung von Ideologie und Massenwahn in diesem Zusammenhang. Diese Gemengelage zeigte sich erstmals in der industriell hochgerüsteten Massenschlächterei und der mit ihr verbundenen »weltgeschichtlichen Katastrophe« (Rosa Luxemburg): der Kapitulation der internationalen, insbesondere aber der deutschen Sozialdemokratie vor dem patriotischen Blutrausch des Ersten Weltkriegs. In den nachfolgenden Jahrzehnten entfalteten diese Tendenzen erst ihre volle historische Wirkung. Die Gewissheit einer herannahenden revolutionären Umwälzung durch das Proletariat schwand infolge der brutalen Zerschlagung ihrer Organisationen, mehr noch jedoch durch erschreckende sozialpsychologische Einsichten in die Virulenz autoritärer Charakterstrukturen, auch in der ArbeiterInnenklasse.Vgl. Erich Fromm, Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung, bearbeitet und herausgegeben von Wolfgang Bonß, Stuttgart 1980. Adorno versuchte die in der marxistischen Theorie nicht vorgesehene Möglichkeit einer erfolgreichen Eskamotierung und Stillstellung des Klassenkonflikts 1942 in seiner paradoxen These einer klassenlosen Klassengesellschaft zu fassen.Vgl. Theodor W. Adorno, Reflexionen zur Klassentheorie, in: Gesammelte Schriften, Band 8, 373–391. Die Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft haben in den 2007 veröffentlichten 28 Thesen zur Klassengesellschaft versucht, diese These zu aktualisieren.typo3/ Zwar sei der Klassengegensatz weiterhin die grundlegende Struktur der kapitalistischen Produktion, dieser werde aber verdeckt durch eine totale Organisation der Gesellschaft in Form von Monopolisierung, Bürokratie, Kulturindustrie und Konsum.
Der Antisemitismus wird in der Dialektik der Aufklärung als Symptom des ökonomischen und sexuellen Elends in der kapitalistischen Klassengesellschaft bestimmt.Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 18. Auflage, Frankfurt a.M. 2009. Hier vor allem die Elemente des Antisemitismus, Abschnitte II und III. Solange es Klassen gibt, heißt es da, bleibt den Massen das Glück verwehrt, das die bürgerliche Gesellschaft versprach, und solange diesem Zustand nicht durch eine gesellschaftliche Tat abgeholfen wird, entwickelt sich Ohnmacht zu einer dunklen Wut, die sich selbst nicht versteht. Sie entlädt sich blind auf den, der auffällt ohne Schutz, auf den, der scheinbar nicht der Mühsal der Arbeit unterworfen ist, auf jede Verkörperung jenes Glücks, das den Massen selbst nicht vergönnt ist. Der Antisemitismus ändert nichts an den materiellen Lebensverhältnissen der Klassengesellschaft, doch fungiert er hervorragend als Ventil, als idealistische Antwort auf materielle Entbehrungen: »Der eigentliche Gewinn, auf den der Volksgenosse rechnet, ist die Sanktionierung seiner Wut durchs Kollektiv.«
Was hat sich von solchen Einsichten in der antideutschen Schule erhalten, die sich stets als Gralshüterin der orthodoxen Kritischen Theorie gebärdet? Erstaunlich wenig. Adorno und Co. werden zwar als hervorragende Kritiker der kapitalistischen Gesellschaft verehrt, doch soll deren kritische Leistung nun gerade darin bestehen, den Kapitalismus nicht mehr als Klassengesellschaft zu begreifen. Vorbereitet wurde diese Wendung durch zwei Mitte der 1970er Jahre erschienene Bücher, die als Grundlegungen der antideutschen Strömung begriffen werden können: Wolfgang Pohrts Theorie des Gebrauchswerts von 1976 und Stefan Breuers im Folgejahr veröffentlichte Krise der Revolutionstheorie.Wolfgang Pohrt, Theorie des Gebrauchswerts. Über die Vergänglichkeit der historischen Voraussetzungen, unter denen allein das Kapital Gebrauchswert setzt, Berlin 2013; Stefan Breuer, Die Krise der Revolutionstheorie. Negative Vergesellschaftung und Arbeitsmetaphysik bei Herbert Marcuse, Frankfurt a.M. 1977. Ihre zentrale These lautet, dass man es in der spätkapitalistischen Gegenwart mit einer Gesellschaft ohne Gegensätze zu tun habe, mit einer »totalen Vergesellschaftung«. Erzählt wird eine Verfallsgeschichte in der Tradition der deutschen Kulturkritik: Das Lebendige werde zunehmend einer in Maschinen, Fernsehapparaten und Massenwaren verkörperten abstrakten gesellschaftlichen Struktur subsumiert, die Individuen würden nivelliert und verschmölzen mit dem Kapital zu einer bruchlosen Identität. Das Kapital selbst werde zum Demiurgen der Realität, zum automatischen Subjekt, von welchem die Menschen restlos absorbiert seien, so »dass eigentlich nur noch das Kapital existiert, weil dieses die Totalität darstellt«.Pohrt, Theorie des Gebrauchswerts, 144. In dieser absoluten Identität ohne Widerspruch ist die Möglichkeit der proletarischen Revolution erloschen.Vgl. ebd., 50, 132ff., 138, 142ff.typo3/
In genau dasselbe Horn bläst auch Joachim Bruhn in seinen einschlägigen Veröffentlichungen. Bei Bruhn existieren dabei zwei unverbundene Begründungen nebeneinander: eine kapitaltheoretische und eine geschichtliche, die auf die Bedeutung des Nazifaschismus reflektiert.
Bruhn zufolge ist das Proletariat in der NS-Volksgemeinschaft aufgegangen, weshalb es sich als Subjekt einer kommunistischen Revolution ein für alle Mal diskreditiert habe. Zwar ist richtig, dass sich Teile des deutschen Proletariats willfährig in die klassenübergreifende Volksgemeinschaft einpassten und an ihren blutrünstigen Raubzügen ebenso teilnahmen wie an der Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen. Aus dieser Tilgung jedes Klassenbewusstseins zugunsten der klassenübergreifenden Volksgemeinschaft zieht Bruhn nun aber folgenden verqueren Schluss: »[D]ie Insistenz auf diesem Klassencharakter reproduziert ganz wie von selbst den Antisemitismus der Scheidung von ›raffendem‹ und ›schaffendem‹ Kapital«.Joachim Bruhn, Avantgarde und Ideologie. Nachbemerkung zum Rätekommunismus, in: Willy Huhn, Der Etatismus der Sozialdemokratie. Zur Vorgeschichte des Nazifaschismus, mit einem Vorwort von Clemens Nachtmann, einer biographischen Notiz von Christian Riechers, einer bibliographischen Information von Ralf Walter sowie einer Nachbemerkung von Joachim Bruhn, Freiburg 2003, 204. Im diametralen Gegensatz dazu ist für Adorno gerade die Verdrängung des Klassengegensatzes, »die Verkleidung der Herrschaft in Produktion«Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, 182., der ökonomische Nährboden des Antisemitismus. Die Ausbeutungs- und Herrschaftsfunktion des industriellen Kapitalisten wird, vermittels des Unternehmerlohns oder Managergehalts, verschleiert und erscheint als Moment der produktiven Arbeit. Der Klassengegensatz zwischen Lohnarbeit und (industriellem) Kapital wird in der ideologischen Einschmelzung des Antagonismus zum »schaffenden Kapital« geleugnet und verschoben auf einen vermeintlichen Gegensatz desselben zu einem »raffenden jüdischen« Handels- bzw. Geldkapital.Zur ökonomischen Grundlage dieser Verkehrung siehe Karl Marx, Das Kapital, Dritter Band: Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion, Marx-Engels-Werke (MEW) 25, 822, 836ff.typo3/
Unbestritten war der Nationalsozialismus ein Bruch in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Zerstört wurden nicht nur zahllose individuelle Existenzen, sondern auch lieb gewonnene Gewissheiten. Grausam durch den Weltlauf widerlegt wurde insbesondere die evolutionistische Annahme, dass die kapitalistische Entwicklung den Klassenkampf von selbst zuspitze, Klassenbewusstsein und Organisationsstärke der Klasse immer weiter anwüchsen und der Sieg des Proletariats somit ein notwendiges Naturgesetz der gesellschaftlichen Entwicklung darstelle. Der Klassengegensatz muss sich nicht in Klassenkampf äußern, er kann durch Krieg, Massenwahn und Repression kanalisiert, unterdrückt und moderiert werden. Es ist darum unabdingbar, gegen marxistisch-leninistische und linkskommunistische TraditionalistInnen, die weiterhin geschichtsteleologischen Mythen anhängen und eine Verklärung der Arbeiterklasse betreiben, auf diesen wirklich geschehenen Bruch der Revolutionsgeschichte zu insistieren.
Falsch ist jedoch, wie Bruhn aus der Niederlage und dem Versagen der deutschen ArbeiterInnenbewegung im Angesicht des Nationalsozialismus einen fixen Charakter des globalen Proletariats in Gegenwart und Zukunft extrapoliert. Ist für jene dogmatischen KommunistInnen der revolutionäre Charakter eine fixe Eigenschaft des Proletariats, so ist es für Bruhn dessen Verkommenheit: Die »Transformation des Proletariats in nichts als Pöbel«,Joachim Bruhn, Echtzeit des Kapitals, Gewalt des Souveräns. Deutschlands Zukunft in der Krise, in: Bahamas 63 (2011/2012), 67. ist ihm eine »bleibende Erbschaft des Nationalsozialismus«; eine unumstößliche Gewissheit, die sich ihre Bestätigung durch gelegentliche anekdotische Ausflüge in die Wirklichkeit sucht. Hier werden bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen dogmatisch in den Stand historischer Invarianten erhoben. Bruhn ersetzt die »Westentaschenmetaphysik«Joachim Bruhn, Metaphysik der Klasse. Soll es wirklich so gewesen sein, daß der Nazifaschismus weder den Begriff noch die Realität des Proletariats berührt hat?, in: Phase 2 12 (2004), online unter http://0cn.de/kiyp.typo3/ des traditionellen Marxismus durch seine eigene.
Anstatt sich mit solchen eingefrorenen Wesenszuschreibungen und Versicherungen zu begnügen, gilt es zu verstehen, dass »das Proletariat« keine sich identisch erhaltende Substanz ist, sondern einem permanenten Gestaltwandel unterliegt. Es ist auch kein sich durch die Geschichte erhaltendes Großsubjekt wie der Hegel’sche Weltgeist, sondern setzt sich aus lebendigen Individuen zusammen. Diese machen ihre eigenen Erfahrungen, durchlaufen ihre eigenen Bildungsprozesse in einer sich beständig wandelnden Welt. Es ist schlechterdings nicht nachzuvollziehen, wie sich das gegenwärtige Verhalten eines chinesischen Wanderarbeiters direkt aus der Misere des deutschen Proletariats soll ableiten lassen. Genau zu solchen geschichtsteleologischen Konstruktionen greift aber Bruhn, der schreibt: »[W]enn es in der Geschichte des Kapitals jemals ein Kairos der Revolution gegeben hat, dann war es genau der Tag der Wannsee-Konferenz. Die Revolution aber blieb aus.«Ebd. »Kairos« (altgr.) meint den rechten Zeitpunkt der Entscheidung, aber auch die von Gott erfüllte Zeit, die Zeitenfülle. Der Begriff bezeichnet im Markus-Evangelium (Mk 1,14-15) die einzigartige Situation des Erscheinens Jesu als Messias und Christus. Im 20. Jahrhundert hat ihn der protestantische Theologe und Sozialist Paul Tillich geschichtsphilosophisch ausgearbeitet, dort dürfte ihn auch Bruhn aufgegriffen haben. Bruhn glaubt nicht nur an den verpassten Kairos der Geschichte, er wünscht sich das Proletariat auch als »Synthese von subjektiver und objektiver Vernunft« in der Geschichte.Ebd. Seine Entmystifizierung der Metaphysik der Klasse bleibt aber auch hier auf halber Strecke stecken. Scheinbar nüchtern zeigt er seine Enttäuschung darüber, dass das Proletariat nicht zum absoluten Subjekt-Objekt geworden ist. Er erkennt jedoch nicht, dass die nun enttäuschte Hoffnung selbst auf einem verstiegenen »Überhegeln Hegels« (Georg Lukács) beruht; dass also nicht nur die schlechte Wirklichkeit entlarvt werden muss, sondern auch sein phantastischer Wunsch nach den Wunderleistungen des Proletariats der kritischen Durcharbeitung bedürfte. Sein Ideal kann er so noch in der Enttäuschung retten, das Proletariat wird aufgespalten in einen potentiellen Weltenerlöser – und den reellen Pöbel, der dafür verachtet wird, dass er dem Ideal nicht entspricht.
Die Proletarisierten sind keine besseren Menschen, nicht ihrem Wesen nach immer schon revolutionär. Konformismus und Widerstandskraft sind keine charakterlichen Invarianten, sondern entwickeln sich abhängig von Familienverhältnissen, Bildungsprozessen und Kampferfahrungen im Alltag, in staatlichen Institutionen und in Arbeitsverhältnissen, vom Zustand politischer Organisationen und von vielem mehr. Die Individuen entwickeln sich in einem konkreten Ensemble sich verändernder gesellschaftlicher Verhältnisse und vereinen jeweils eine Vielzahl widersprüchlicher Bedürfnisse, Wünsche und Strebungen, Werte und Anschauungen, Ängste und Aggressionen in sich. Sie sind nicht mit sich selbst identisch und in ihrem Verhalten verwirklicht sich darum auch nicht ihre volle Identität.
3. Total subsumiert? Zu Genese und historischer Plausibilität der Integrationsthese
Kapitaltheoretisch begründet Bruhn die Depotenzierung des Klassenverhältnisses mit Marx’ Theorem des Übergangs von der formellen zur reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital. Marx unterscheidet die formelle Subsumtion, als die »allgemeine Form alles kapitalistischen Produktionsprozesses«Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Archiv sozialistischer Literatur 17, Frankfurt a.M. 1968, 46., durch die der Arbeitsprozess zum Mittel des Verwertungsprozesses wird, von der reellen Subsumtion, als der »spezifisch-kapitalistischen Produktionsweise«Ebd.typo3/, in der der Arbeitsprozess selbst durch die planmäßige Anwendung von Kooperation, Maschinerie und Wissenschaft zum Zwecke der Mehrwertproduktion umgestaltet wird.Vgl. ebd., 50. In Bruhns Lesart regredieren die LohnarbeiterInnen durch die reelle Subsumtion zum reinen Anhängsel der kapitalistischen Maschinerie, weshalb sie dem Kapital nichts mehr entgegenzusetzen haben.Vgl. Bruhn, Avantgarde und Ideologie. Diese Erzählung impliziert schon bei Pohrt die romantische These, dass nur die von vorkapitalistischen Lebens- und Arbeitsweisen geprägte ArbeiterInnenklasse mit der sich durchsetzenden kapitalistischen Produktionsweise in einem Gegensatz gestanden habe, der Gegensatz jedoch ab 1870 verschwunden sei, als diese zu einer durch das Kapitalverhältnis »gesetzten« geworden sei.Vgl. Wolfgang Pohrt, Vernunft und Geschichte bei Marx, in: ders.: Theorie des Gebrauchswerts, 269–278, hier: 274. Die kapitalistische Produktionsweise habe also paradoxerweise nur zu einem Zeitpunkt aufgehoben werden können, als sie noch kaum irgendwo auf der Welt herrschte, die wenigen LohnarbeiterInnen aber ohne schlagkräftige Organisationen unter miserablen Bedingungen lebten. Anders als Bruhn betont Marx gerade den »gegensätzlichen Charakter« der reellen Subsumtion: Es handele sich um die Entwicklung des sachlichen Reichtums »im Gegensatz zu dem, und auf Kosten des, menschlichen Individuums«Marx, Resultate, 63.typo3/, gerade die Durchsetzung einer spezifisch-kapitalistischen Produktionsweise lasse die Zuspitzung der Klassengegensätze erwarten.Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Erster Band: Der Produktionsprozess. MEW 23, 675.
Die These der Integration der Lohnabhängigen in die bürgerliche Gesellschaft wird im Verlauf der Nachkriegsentwicklung zu einem Gemeinplatz. Sie gründet in der Erfahrung des stürmischen Wirtschaftswunderwachstums seit den vierziger (USA) bzw. fünfziger Jahren (Europa), in dessen Zuge sich Profite und Löhne im Gleichklang entwickelten und die Massenproduktion von (langlebigen) Konsumgütern diese zusehends auch für ArbeiterInnen erschwinglich machten. Dies schien die Marx’sche Annahme einer Zuspitzung der sozialen Gegensätze zu widerlegen.
Die BRD erbte vom Nationalsozialismus eine Gesellschaft ohne radikale Opposition.Vgl. Peter Brückner, Versuch, uns und anderen die Bundesrepublik zu erklären, Berlin 1978, 69ff. Die Integration der Lohnabhängigen wurde durch das korporatistische System der »Sozialen Marktwirtschaft« vorangetrieben, die eine bürokratische Verrechtlichung des Klassenkonflikts mit sich brachte und die Unbill der Eigentumslosigkeit durch eine Ausweitung des Versicherungswesens abfederte. Was dem Arbeiter als Fortschritt taugte – ein sicherer Arbeitsalltag mit Stechuhr, standardisiertem Konsum und häuslichem Umsorgt werden durch die Ehefrau – war ein Schritt hinein in eine »kleinbürgerliche« Lebensform und führte zur fortschreitenden Auflösung des alten ArbeiterInnenmilieus. Dadurch wurde der Klassenkompromiss auch auf kulturellem Terrain, im Alltagsleben, befestigt. Diejenigen, die einst durch eine proletarische Öffentlichkeit und Lebensweise die Negation der bürgerlichen Gesellschaft verkörperten, schienen nun ihr Inventar geworden zu sein, wie Hebert Marcuse 1964 in Der eindimensionale Mensch konstatierte. Bereits Ende der sechziger Jahre kritisierte Paul Mattick hellsichtig Marcuses Annahme, der Kapitalismus sei zu einer dauerhaften sozial-ökonomischen Integration des Proletariats in der Lage.Paul Mattick, Kritik an Herbert Marcuse. Der eindimensionale Mensch in der Klassengesellschaft, aus dem Amerikanischen von Hermann Huss, Frankfurt a.M. 1969. Durch die reale Entwicklung der kapitalistischen Weltökonomie seit den siebziger Jahren wurde sie zunehmend zu einem Anachronismus, was aber Bruhn und seine AnhängerInnen nicht davon abhielt, sie ein ums andere Mal neu aufzugießen.
Die These vom Ende des Klassengegensatzes durch Integration des Proletariats beruht letztlich auf der irrigen Annahme, die Prosperität der Nachkriegszeit könne von Dauer sein. Betrachtet man die Trentes Glorieuses nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch im Zusammenhang mit dem längerfristigen Trend der kapitalistischen Entwicklung, wird deutlich, dass es sich hierbei um eine besondere Konstellation handelte, die bereits Mitte der siebziger Jahre an ihr Ende gelangte. Die Weltwirtschaft ging damals über in einen langen Niedergang mit verlangsamten Wachstumsraten und abnehmender Beschäftigung.Hervorragend dargestellt bei Robert Brenner, Economics of Global Turbulence. The Advanced Capitalist Economies from Long Boom to Long Downturn, London 2006. Die Stagnation beruhte auf einem Rückgang der Profitabilität der verarbeitenden Industrie infolge intensivierter Konkurrenz und chronischen Überkapazitäten. Die Reaktion des Kapitals bestand in einem konzentrierten und kontinuierlichen Angriff auf die Löhne und Arbeitsbedingungen der ArbeiterInnen. Doch obwohl der Ausbeutungsgrad seitdem wieder erhöht werden konnte, gelang es nicht, das Problem der sinkenden Profitabilität zu lösen. Die daraus resultierende Stagnation der Industrieproduktion führte zum relativen und später absoluten Rückgang der Industriebeschäftigung. Immer mehr Lohnabhängige finden sich seitdem im Dienstleistungssektor wieder, der vor allem ein Niedriglohnsektor ist. Sie sind zu einer Art bezahlter Reservearmee avanciert, die den Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen weiter verschärft.Vgl. Aaron Benanav, Precarity Rising, 15. Juni 2015, online unter: http://0cn.de/wvm8 Die Reallöhne stiegen in nahezu allen Industrieländern langsamer, wenn sie nicht stagnierten oder sogar schrumpften. In den letzten Dekaden hat sich das Kapital über den gesamten Erdball ausgebreitet und konkurrierende (Re-)Produktionsweisen weiter aufgelöst und zurückgedrängt. Die in diesem Zuge freigesetzten und in die Städte gespülten eigentumslosen Menschen müssen ihre Arbeitskraft jedoch in einer immer langsamer wachsenden Weltwirtschaft verkaufen. Sie konstituieren ein rasant wachsendes informelles Proletariat, das in prekärer Selbstständigkeit verschärfter Ausbeutung unterworfen ist.Vgl. Mike Davis, Planet der Slums, aus dem Englischen von Ingrid Scherf, Hamburg 2007. Die kapitalistische Produktionsweise kann die Illusionen eines harmonischen Zusammenspiels von Kapital und Arbeit sowie die Behauptung, Wohlstand in die Welt zu tragen, also längst nicht mehr aufrechterhalten.
Ob Nachkriegskonjunktur und Sozialpakt oder stagnierende Weltwirtschaft und verschärfter Klassenkampf »von oben« – beide Entwicklungsphasen sind Resultat der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital und ihrer historischen Widerspruchsdynamik. Mit Bruhn, der die reelle Subsumtion nicht als den historischen Entwicklungsprozess des Klassengegensatzes, sondern als dessen Ende versteht, lässt sich dieser Übergang der Nachkriegsintegration zur Phase sich verschärfender Gegensätze seit den siebziger Jahren nicht begreifen. Dass die These trotz dieser Entwicklung nicht an Einfluss verloren hat, verweist auf ein grundlegenderes Problem des vorherrschenden Klassenbegriffs, das im folgenden diskutiert werden soll.
4. Transformation der Klassengesellschaft
»In die gleichen Ströme steigen wir und steigen wir nicht; wir sind es und wir sind es nicht« (Heraklit)
Ein wesentliches Hindernis auf dem Weg zu einem klassenanalytischen Verständnis der gegenwärtigen Entwicklungen liegt im Selbstverständnis der alten ArbeiterInnenbewegung begründet, wie es sich im Verlauf ihrer Etablierung herausgebildet hat. Ihr organisatorisches und ideologisches Zentrum war in den entwickelten kapitalistischen Ländern die in Zahl und Stärke scheinbar unaufhaltsam wachsende IndustriearbeiterInnenschaft.Vgl. Endnotes, A History of Separation, in: Endnotes 4 (2015), 70–192. typo3/ Um sie herum bildete sich etwa zwischen 1870 und 1970 das alte ArbeiterInnenmilieu heraus – in Form von Gewerkschaften und Parteien, eigenen Banken, Gesundheits- und Altersvorsorge, Zeitungen, Abendschulen, Kneipen, Büchereien, Sportvereinen, kulturellen Ausdrucksformen und entsprechenden Werten und Normen. So etablierte sie eine eigene Welt innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft.Vgl. Gáspár Miklós Tamás, Telling the truth about class, in: Socialist Register 42 (2006), 228–268. Der Begriff des Proletariats wurde dadurch weitgehend mit dem Bild der IndustriearbeiterInnenschaft identifiziert. Im Verlauf der oben geschilderten Entwicklung von wohlfahrtsstaatlicher Integration und anschließender Deindustrialisierung löste sich dieses Milieu zunehmend auf. Durch die Identifizierung einer historischen Erscheinungsform von Proletarität mit der Proletarität überhaupt wurde das Ende dieser spezifischen Klassenkonstellation als eine Deproletarisierung gedeutet: Nicht nur fanden sich immer weniger Proletarisierte in »proletarischen« Sektoren wieder, auch das ganze Set an Fähigkeiten, Anforderungen, Normen und Werten, welches sich durch die Industriearbeit einerseits, durch die Praxis der ArbeiterInnenbewegung andererseits zur ArbeiterInnenidentität verschmolzen hatte, wurde durch die veränderten Bedingungen zunehmend zu einem Anachronismus.
Mit der Etablierung der (Industrie-)ArbeiterInnenidentität als Fixpunkt der sozialistischen Bewegung trat der kapitaltheoretisch fundierte Marx’sche KlassenbegriffVgl. die ausführliche Darstellung bei Michael Mauke, Die Klassentheorie von Marx und Engels, Frankfurt a.M. 1970, insb. 111ff. und Hartmut Krauss, Wiederkehr der Proletarität oder Neustrukturierung sozialer Ungleichheit?, online unter: http://0cn.de/6iwf. zugunsten eines statischen Verständnisses von Klasse als soziokulturell relativ homogener Gruppe zurück.Vgl. ebd. Marxens Einsicht besteht aber gerade in der Erkenntnis, dass das kapitalistische Klassenverhältnis bestimmt ist durch das Produktionsverhältnis von Kapital und Lohnarbeit, das ein Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnis darstellt. Das Proletariat ist einerseits historische Voraussetzung der kapitalistischen Produktion, wird aber andererseits zum beständig erneuerten Resultat des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst.Vgl. Marx, MEW 23, 603 Das kapitalistische Klassenverhältnis ist somit selbst ganz grundlegend durch die spezifische Dynamik kapitalistischer Akkumulation geprägt: Im Zuge der sprunghaften Entwicklung der Produktivkräfte kommt es immer wieder zu Umwälzungen des Produktionsprozesses und damit zu Veränderungen in den Anforderungen an die Fertigkeiten der ArbeiterInnen. Die expansive Tendenz des Kapitals entwickelt mit dem Weltmarkt eine Ausdifferenzierung der internationalen Arbeitsteilung und Produktion. Sie schleudert Menschen aus anderen Produktionsverhältnissen hinaus und macht die Proletarisierten in steigendem Maße vom Markt abhängig. Die ständig wiederkehrenden Krisen führen zu zyklisch ansteigender Arbeitslosigkeit und setzen im Verbund mit der technologischen Entwicklung die einen ArbeiterInnen außer Kurs und werfen andere in einen neuen Sektor. In dieser Geschichte erhält sich zwar die Substanz (die Eigentumslosigkeit), die Form des Proletariats ändert sich jedoch permanent. Klasse meint also kein für sich und aus sich bestehendes autarkes Ding, keine in sich geschlossene Gruppe, sondern wesentlich einen Pol eines spezifischen sozialen Verhältnis von Ausbeutung und Herrschaft und den für dieses Verhältnis konstitutiven historischen Prozess seiner Entwicklung im Fortgang der Akkumulation des Kapitals.
Nach dem Niedergang der alten ArbeiterInnenbewegung und der damit verbundenen positiven Klassenidentität bleibt die Erfahrung der Proletarität eine wesentlich negative, die keinen Anlass zu stolzer Identifikation mit dem eigenen Dasein bietet: die existentielle Abhängigkeit vom Verkauf der Arbeitskraft gegen Lohn und der Zwang, sich Bedingungen und Zweck ihrer Anwendung durch das Kapital diktieren zu lassen. Dieses gesellschaftliche Schicksal teilen heute so viele Menschen wie nie zuvor. Ihr Leben wird in steigendem Maße von einer stagnierenden kapitalistischen Produktion geprägt. Dadurch sehen die Lohnabhängigen heute wieder in verschärfter Form ihre grundlegenden materiellen Bedürfnisse gefährdet, wie der Kriseneinbruch 2007ff. vor Augen geführt hat. Die Krisenproteste und Kämpfe der letzten Dekade haben den Zustand des gegenwärtigen Klassenbewusstseins und der Klassenorganisation verdeutlicht. Die Offensive des Kapitals seit den siebziger Jahren hat nicht nur erfolgreich den Ausbeutungsgrad der Lohnarbeit erhöht, sondern auch die Organisationen von ArbeiterInnenwiderstand fundamental geschwächt. Wo die Gewerkschaften noch etwas zu sagen haben, betreiben sie häufig Co-Management in Zusammenarbeit mit den Unternehmen. Die vereinzelten Streiks blieben weitgehend partikular und defensiv, während die Proteste mit einer allgemeineren Perspektive, die sich in letzter Zeit vor allem in den Bewegungen der Platzbesetzungen ausdrückten, mit ihren diffusen Forderung nach »wirklicher Demokratie« (zumindest in Europa und den USA) innerhalb des herrschenden Bezugsrahmens verharrten. Die zentrale Rolle, die den Platzbesetzungen dabei zukam, verweist auf die neue Klassenkonstellation, in der sich die Kämpfe nicht mehr naturwüchsig rund um die Fabrik entwickeln.Vgl. Joshua Clover, Riot. Strike. Riot. The New Era of Uprisings, London 2016. Sie verweist aber auch auf die fundamentale Schwäche von Bewegungen, denen es nicht gelingt, auch in die Sphäre der Produktion vorzudringen. Während für die alte ArbeiterInnenbewegung mit der – wie immer widersprüchlichen und historisch-beschränkten – Vorstellung einer ArbeiterInnenkontrolle der Betriebe unter der Ägide eines sozialistischen Staates zumindest ein einigermaßen klares Ziel existierte, fehlt den Lohnabhängigen heute eine klare Perspektive sozialer Emanzipation. Dabei wäre eine Selbstorganisation der gesellschaftlichen Arbeit durch die assoziierten ProduzentInnen unter heutigen Bedingungen um einiges realistischer als zu Zeiten der Zweiten Internationale.Dies wird ausführlicher begründet in: Interessengemeinschaft Robotercommunismus, Kommunismus ist was Bestimmtes, in: Cee Ieh 221(2015), online unter: http://0cn.de/1tzj. Siehe auch Werner Imhof, Skizzen eines emanzipatorischen Kommunismus, in: Kommunistische Streitpunkte 5 (2000), online unter: http://0cn.de/pks1.
Der Niedergang der alten ArbeiterInnenbewegung, die fundamentale Schwächung aller Klassenorganisationen und des ArbeiterInnenwiderstandes sowie die Vorherrschaft eines verdinglichten Bilds des Proletariats nähren in ihrem Zusammenspiel den Schein einer Gesellschaft, in der das Klassenverhältnis seine Bedeutung verloren hat und verleihen der Integrationsthese ihre vermeintliche Plausibilität.
5. Kritik ins Handgemenge
Wir befinden uns also in einer Situation, in der sich der verabschiedete Antagonismus zwischen den Klassen mit Vehemenz zurückmeldet, dies aber unter radikal veränderten Bedingungen. So entfaltet sich der Klassengegensatz heute geradezu in Reinheit, jede konkrete Arbeit kann die Form der Lohnarbeit annehmen, die Welt ist gründlicher proletarisiert denn je. Gerade infolge dieser Verallgemeinerung verliert die Klasse aber ihre Anschaulichkeit. Die Zeiten, in denen sich die Lohnabhängigen als ArbeiterInnen identifizierten und ihre Klassenposition Quelle für eine fest umrissene Identität, Kultur und Vorstellungswelt war, sind vorbei. Trotzdem diktiert die Klassenlage den Lohnabhängigen die Lebens- und Überlebensbedingungen, wenn auch, wie oben beschrieben, weitgehend negativ. Aus dieser Situation wird uns kein existenzialistischer Sprung herausführen. Alle Ansätze für eine wirkliche Bewegung, die in der Lage wäre, den jetzigen Zustand aufzuheben, werden ihren Ausgangspunkt heute in schnöden Abwehr- und Verteilungskämpfen nehmen. Solche Auseinandersetzung als »kapitalimmanent« abzulehnen, hieße nicht weniger, als den Bildungsprozess einer revolutionären Bewegung mit allen Schwierigkeiten theoretisch zu bannen und nur das Bild des »ganz Anderen« festzuhalten – über dessen Verwirklichung dann schlechterdings nichts gesagt werden kann und soll. Gegen dieses kontemplative Warten auf den Einbruch der Transzendenz in eine scheinbar hermetisch verfugte Welt wären gerade in den wirklichen Verhältnissen »die Bildungselemente einer neuen und die Umwälzungsmomente der alten Gesellschaft«Marx, MEW 23, 526. wachen Auges zu erkunden: die materiellen Bedingungen also, die eine Überwindung dieser Verhältnisse zur realen Möglichkeit werden lassen. Nicht durch doktrinäres Predigen und durch Sektengeist, sondern allein in den wirklichen Auseinandersetzungen und Kämpfen kann die Kritik eine materielle Gewalt werden: indem sie die drückenden, vielfach mystifizierten Verhältnisse als gesellschaftliche Beziehungen der Menschen zueinander und zu den Produkten ihrer Arbeit zu Bewusstsein bringt und unter den Interessen, Forderungen und Begehren diejenigen Momente hervorhebt und stärkt, die eine gesellschaftliche Emanzipation befördern.
Charlotte Mohs, Marco Bonavena, Johannes Hauer
Die AutorInnen sind Mitglieder des communistischen Labors translib in Leipzig.