Stationen des Aufbaus und Zerfalls der EU

Europa war und bleibt ein loser Verbund konkurrierender Nationalstaaten

Bei seinem Besuch im April dieses Jahres in Hannover forderte Barack Obama, Europas Zersplitterung zu überwinden: »Wir brauchen ein geeintes Europa, das gemeinsam mit den USA die Lasten der weltweiten Sicherheit trägt.« Das war nicht der übliche Schwall bei Staatsbesuchen, sondern ein dringender Appell, die Gemeinsamkeiten des »Westens« über die Konkur­renz zu stellen – wirtschaftlich (TTIP) und militärisch. Der ste­tige Niedergang der 500-jährigen Weltherrschaft des »Wes­tens« reißt immer größere Lücken, in die China und Russland, Regionalmächte wie Saudi-Arabien und der Iran, der IS und andere Banden stoßen. Europa soll militärische Verantwortung übernehmen – an der Grenze zu Russland, in Libyen und sonst wo. Denn die USA haben in Asien zu tun, wo ihre Partnerstaa­ten Beistand gegen die chinesische Expansion verlangen.

Die Dynamik erinnert an die Epoche vor 1914. Von 1850 bis 1913 war der Anteil der USA an der Welt-Industrieproduktion von 21 auf 50 und der deutsche von 16 auf 21,5 Prozent gestie­gen, während der britische und der französische sich halbiert hatten. Die Verschiebung der Gewichte ist heute ebenso dra­matisch. Von 1999 bis 2009 wuchs die deutsche Wirtschaft ins­gesamt nur um 8,6 Prozent, die amerikanische um 19,3, die chi­nesische hingegen um 166 Prozent. Der ehemalige US-Militär­minister Chuck Hagel kündigte an: »Die USA werden ihre strategische Orientierung in Richtung Asien fortsetzen und bis 2020 insgesamt 60 Prozent ihrer Seestreitkräfte in Asien stationiert haben.«

Geschichte soll sich zum Glück nur als Farce wiederholen, aber beruhigend ist die Lage nicht. Nach den historischen Nie­derlagen und Deformationen der Befreiungsvisionen breitet sich überall die Regression zu nationalen, regionalen, ethni­schen, tribalen, religiösen, marktkonformen, rassistischen und faschistischen Bindungen und Wahnvorstellungen aus. Die traurigsten Bilder geben der islamische Raum, der in seinen ei­genen 30-jährigen Krieg getaumelt ist, und Russland ab, das mit seinem staatsgelenkten Oligarchenkapitalismus die industriel­le Moderne verpasst, im Niedergang aber nach Weltgeltung strebt. Außerdem auch Europa, wo die Kapitalakkumulation stockt, Disparitäten so stark anschwellen, dass sie politisch kaum einzudämmen sind, die Moderne auf ein engstirniges Be­wusstsein trifft und das, was Flüchtlingskrise genannt wird, in Wahrheit eine Krise des Humanismus ist. In Deutschland bren­nen Asylunterkünfte, Balkanstaaten zäunen sich ein, Österreich bietet ihnen Soldaten für die Grenzsicherung an (ein Hauch von Habsburg), Ungarn und Polen entwickeln sich zu autoritären Staaten, die Slowakei lässt nur noch Christen ins Land und die Zustimmung zu rechten antieuropäischen Parteien wächst.

Europa hat die Herzen nie so erwärmt wie die Nation, blieb immer nur ein loser Verbund konkurrierender National­staaten, die ihre Ressentiments als Kultur verbrämten, die er­habener sein sollte als die amerikanische. Ein Binnenmarkt fördert keine Gemeinsamkeit und keinen Frieden, sondern nur die ungehemmte Konkurrenz der Produktivitäten. Und weil Ka­pital dahin strömt, wo Profit winkt, und weniger lukrative Ge­biete entleert, fördert der Kapitalismus systemisch Disparitä­ten, selektiert Sieger und Verlierer, Gläubiger und Schuldner, Zentrum und Peripherie.

In Europa driften die kapitalistische Moderne und das gesell­schaftliche Bewusstsein auseinander. Während der Kapitalis­mus ein supranationales Europa mit offenen Grenzen für die Just-in-time-Produktionsketten und frische Arbeitskräfte aus aller Welt benötigt, verbarrikadieren Regierungen und Dumm­bürger sich hinter Grenzzäunen, kehren zur Kleinstaaterei zu­rück und blicken – von Fremdenhass getrieben – auf Flüchtlin­ge, als stünden die Türken vor Wien. Dass Angela Merkel vor­geworfen wird, sie lehne aus pan-europäischen und humanis­tischen Erwägungen die Einzäunung der Nationen ab und ge­höre daher vors höchste Gericht, markiert das Ende einer 70-jährigen europäischen Kooperation, die frühere Politikerge­nerationen aufgebaut haben und die den Binnenmarkt, offene Grenzen und den Euro erst ermöglichte.

Europa-Idee und Ursprung der deutschen Hegemonie

Heinrich Heine träumte 1828 von einem vereinten Europa, in dem »törichte Nationalvorurteile« aus »Eitelkeit und Hass« überwunden seien. Daraus wurde nichts. Nationalismus und deutscher Vernichtungswahn diktierten das Geschehen. Wer für Europa war, war es aus antiamerikanischer Absicht. 1922 setzte Leo Trotzki auf die »Vereinigten Staaten von Europa«, weil »unser Kontinent« nur vereint vor der »Unterjochung durch das überstarke amerikanische Kapital zu retten« sei. Richard Coudenhove-Kalergi warb 1923 für »Pan-Europa« als Bastion gegen »Panamerika« und andere Reiche (Russland, Britannien, Ostasien), sonst drohe Europa das »Schicksal einer amerika­nischen Wirtschaftskolonie«.

Nach 1945 waren die Amerikaner endlich da. Sie hatten geholfen, Europa vom Nationalsozialismus zu befreien, und verordneten Westdeutschland Demokratie. Im Übrigen verzie­hen die West-Alliierten den Westdeutschen allzu schnell ihre Gräueltaten, weil man Deutschland im Kalten Krieg als Front­staat brauchte. 1946 erklärte Frankreichs starker Mann Charles de Gaulle: »Die Deutschen sind die Söhne Europas, und ohne Rom kann ich Europa nicht begreifen.« Welche Ehre für die, die sich mit dem Cäsarengruß begrüßt hatten. Le Figaro setzte in der Ausgabe vom 11. November 1949 auf Deutschlands schnel­le Wiederbewaffnung: »Nutzen wir die schreckliche Erinnerung, welche die Deutschen an den Einmarsch der Russen haben, und ihren Abscheu vor dem Kommunismus.« Der spätere US-Präsident Eisenhower hob 1951 den »Unterschied zwischen den deutschen Soldaten und Offizieren einerseits und Hitler andererseits« hervor. Er sei »nicht der Ansicht, dass der deut­sche Soldat seine Ehre verloren hat«. Die Deutschen wurden übermütig. Konrad Adenauer versprach gleich nach seiner Wahl zum Bundeskanzler 1949, sich für die Freilassung inhaf­tierter Nazis zu engagieren. »Der deutsche Landser« sei ohne die Freiheit seiner Offiziere für die Nato-Armee »gewiss nicht zu begeistern«. Als die Briten putschbereite Nazis verhafteten, geißelte Adenauer die Briten als »Feinde der europäischen Vereinigung«.

Adenauers Politik war geprägt von der inneren Aussöh­nung und der Rückkehr zur nationalen Souveränität im West­- bündnis, inklusive eines gemeinsamen Marktes mit Frankreich und einer Sicherheitspartnerschaft mit den USA. Die Wieder­vereinigung konnte warten. Die SPD verhöhnte die CDU dafür als Fünfte Kolonne der Besatzer, konnte damit aber keinen Blu­mentopf gewinnen, weil die Westdeutschen aus Angst, die Russen würden es mit ihnen so treiben, wie sie es in Osteuro­pa getrieben hatten, die Nähe zum Westen suchten.

Henry Kissinger schrieb, dass »Frankreich die europäi­sche Integration [unterstützte], damit Deutschland nicht wie­der zur nationalen Bedrohung werden konnte«. Jean Monnet, der Erfinder der EU, bestätigte: »Uns war klar, dass wir Rahmen­bedingungen brauchten, um eine deutsche Dominanz wie 1918 zu verhindern.« Mit der Montan-Union vereinbarten Frankreich, die BRD, Italien und die Benelux-Staaten 1952 die gemeinsame Regelung des Kohle- und Stahlmarktes. Frankreich ging es um die Überwachung der kriegswichtigen deutschen Industrie, die BRD nutzte die Gelegenheit, um aus der Begrenzung der Indus­trieproduktion durch das Ruhrstatut auszubrechen.

Beide wollten zudem eine größere Unabhängigkeit von den USA – besonders Frankreich. De Gaulle strebte ein »Euro­pa der Vaterländer« an, aber ohne Großbritannien, um den »an­gloamerikanischen Einfluss« zu begrenzen. Europa sollte zwar »vom Atlantik bis zum Ural« reichen, doch als das Vereinigte Königreich 1967 die Aufnahme in die Europäische Wirtschafts­gemeinschaft (EWG) beantragte, bestand de Gaulle auf einer Karenzzeit, in der der Inselstaat seine »Wirtschaft und Finan­zen in Ordnung zu bringen« hätten. 1966 verkündete de Gaulle dann demonstrativ den Austritt Frankreichs aus der Nato (erst 43 Jahre später, im März 2009, stimmte das französische Parla­ment für eine Rückkehr zur Vollmitgliedschaft in die Nato, ei­nen Weg den Francoise Hollande zu relativieren versuchte).

Einen großen Schritt nach vorn machte die BRD mit dem Generalvertrag (Deutschlandvertrag), der 1952 das Besat­zungsstatut aufhob und der BRD »volle Macht über ihre inne­ren und äußeren Angelegenheiten« übertrug. Die BRD sicher­te zu, sie werde sich mit dem Westen »völlig verbinden« und »zur gemeinsamen Verteidigung« beitragen. Die BRD war nun integriert, aber das Vorhaben, die deutsche Dominanz zu ver­hindern, ging gründlich schief. Der NS-Staat hatte der BRD ein modernes Industriepotenzial hinterlassen, geschaffen von Millionen Zwangs- und SklavenarbeiterInnen, während er das übrige Europa durch Krieg und Diebstahl ruiniert hatte. In der BRD standen 1948 14 Prozent mehr funktionsfähige Industrie­anlagen als 1935. Ein Drittel war neu. Bergbau, Stahl- und Ma­schinenbau waren kaum in Mitleidenschaft gezogen worden. Und so meldete Franz Josef Strauß (CSU) 1957 das, was fal­schen Theorien zufolge heute erst sein soll: »Wir sind die wirt­schaftlich stärkste Macht Mitteleuropas geworden. An unse­ren Kassen stehen die ehemaligen Sieger Schlange. Bei uns sind die alle verschuldet.«

Die deutsche Hegemonie basiert also weder auf einem »Wirtschaftswunder«, noch auf dem Euro, einem Neoliberalis­mus oder ein paar Tricks von Angela Merkel, sondern auf Mehr­arbeit bis zum Tod und Zerstörung. Der Vorsprung wurde durch die deutschen Attribute Fleiß, Disziplin und Gehorsam aus Feigheit vor dem Herrn in den kommenden Jahrzehnten gefes­tigt. Das deutsche Proletariat arbeitet seine europäischen Kol­leginnen und Kollegen bis heute an die Wand.

Die EU, der Euro und die Osterweiterung

Die Montan-Staaten gründeten 1957 die EWG, die bis 1969 Zöl­le und Handelshemmnisse abbauen sowie den freien Kapital­verkehr und die freie Wahl des Arbeitsplatzes realisieren soll­te. Die Motive für Beitritte in die EWG, die mit dem Vertrag von Maastricht 1992 in EU umbenannt wurde, waren der Binnen­markt sowie geopolitische und sicherheitspolitische Interes­sen. Das Menschenrecht spielte keine Rolle. Es war mehr ein Propagandainstrument für die Expansionen gen Osten. Ade­nauer bestätigte 1962: »Auch Spanien muss [...] wegen seiner geographischen Lage, seiner Geschichte, Tradition, seines un­ersetzlichen Beitrags zur europäischen Kultur ein wesentli­cher Bestandteil des geeinten Europas sein.« Zu diesem Zeit­punkt war Spanien eine Diktatur unter Caudillo Francisco Franco (1892-1975), den Hitlers »Legion Condor« 1936 an die Macht gebombt hatte.

Großbritannien, Dänemark und Irland ging es 1973 um die Überwindung von Handelsbarrieren (die EWG belegte Autoim­porte mit einem Einfuhrzoll von 29 Prozent, Italien erhob sogar 45), bei Spanien und Portugal (1986) ging es auch um sicher­heitspolitische Interessen. Die USA hatten Stützpunkte in Spanien und strebten die Erweiterung der Nato in Südwest-Europa an. Griechenland wurde 1981 aus rein geopolitischen Überlegungen aufgenommen – allerdings gegen den Willen der USA. Helmut Schmidt (SPD) war Kanzler, Walter Scheel (FDP) sein Außenminister, und bei der SPD geht’s traditionell antiamerikanischer zu als bei der CDU. Scheel sagte 1978: Die Nato-Partnerschaft sei »ohne eine stärkere Rolle Europas nicht denkbar« und dazu gehöre Griechenland. Warnungen vor ökonomischen Risiken – »Griechenland ist Italien minus Mai­land« (Der Spiegel) – konterte Schmidt, er werde die strategi­sche Notwendigkeit nicht durch »wirtschaftliche Opportuni­tät« gefährden. Kein europäisches Land dürfe »in andere au­ßenpolitische Orientierungen abdriften«, hieß, sich nicht der Sowjetunion nähern.

Die Implosion des sowjetischen Machtbereichs eröffnete die Chance zur Wiedervereinigung, der Zerschlagung der Sow­jetunion in 15 Staaten und der Rückholung des Ostens in den Markt. Die EU und die Nato sammelten abtrünnige Republiken ein – zunächst durch Freundschaftsverträge, ab 2004 durch EU-Beitritte. Der Osten! Endlich! Der damalige VW-Chef Hahn sagte 1990: »Die Welt ist in Bewegung. Osteuropa wird jetzt auf­geteilt. Wer nicht dabei ist, der verliert.« 1993 meldete Arbeitge­berpräsident Klaus Murmann teilweisen Vollzug: »Wir bekom­men sehr viel mehr Zulieferungen als früher aus dem Ausland.« Die Verschiebung »nach Osten wird dazu führen, dass immer mehr Zulieferbetriebe nach Polen, Ungarn, in die Tschechische Republik und in die Slowakei verlagert werden eine völlig neue Perspektive.« Heute geht ein Viertel des polnischen, über 30 Prozent des tschechischen, 20 Prozent des slowakischen, 26 Prozent des ungarischen Exports nach Deutschland.

Als Helmut Kohl den 10-Punkte-Plan zur Aneignung des Ostens vortrug, waren »West« und »Ost« erschrocken. Er­schreckend war beispielsweise der Anspruch, die DDR per Wiedervereinigung in die »bundesstaatliche Ordnung« und die osteuropäischen Staaten in die EG zu holen, beides auf Grund­lage des »westlichen Marktes« und ohne jede Absprache mit den westlichen Bündnisstaaten und der Sowjetunion. Das habe sich »nicht einmal Hitler erlaubt«, sagte Russlands Au­ßenminister Eduard Schewardnadse. Frankreichs Präsident François Mitterand, der die D-Mark stets als »deutsche Atom­bombe« bezeichnet hatte, forderte den Euro und die Europäi­sche Zentralbank (EZB), um Deutschlands Expansionstrieb einer europäischen Kontrolle zu unterwerfen. Europa werde ohne Euro und EZB »dem deutschen Willen ausgeliefert« sein. Den Streit zwischen der französischen »Schöpfungstheorie« (erst den Euro, alles andere später) und der deutschen »Krö­nungstheorie« (zuerst die Stabilitätskriterien) gewann Frank­reich. Helmut Kohl war es egal: »Die Alternative zur Währungs­union heißt: zurück zu Wilhelm II., das bringt uns nichts.« Für den Euro sprach, dass die mit Einzelwährungen verknüpften Kursrisiken, Transaktions- und Versicherungskosten und die täglichen Währungsspekulationen nicht mehr zu dem Grad der wirtschaftlichen Verzahnung passten. Außerdem wollte man eine eigene Reservewährung gegen den Dollar ins Feld führen. Tatsächlich sorgt die EZB bis heute gegen den Willen Deutsch­lands für eine günstige Finanzierung der Risikostaaten.

Die Annektierung des Ostens regte die Phantasie an. Gerhard Schröder und Jaques Chirac einigten sich mit Wladimir Putin auf die Achse »Paris-Berlin-Moskau«, die das dritte Machtzen­trum in der nun »multipolar« definierten Welt sein sollte – ne­ben den USA und Asien.

Die SZ schwärmte vom Schritt »zur Weltmacht«. Der Stern: »Euroland soll Weltmacht werden [...] – ein Global Player, der Schritt halten kann mit den USA.« Das Weltsozialforum wollte – ganz besessen – mit der »sozialen europäischen Uni­on« die amerikanische »Wucherei«, die die »Kultur der Völker« zerstöre, besiegen. Schröder lehnte dann vorlaut die deutsche Beteiligung am Irak-Krieg ab, zu der Deutschland nicht einge­laden worden war. Sein »Europa der zwei Geschwindigkeiten« wollte – ganz visionär - auf das unrentable Europa keine Rück­sicht nehmen. Doch dann kamen die Wirtschaftskrise, die Ban­kenrettung, die lahmende Reproduktion, faule Kredite und der Hilferuf von Daniel Cohn-Bendit: »Europa wankt«, bald werde »kein europäischer Staat mehr Mitglied der G8 sein« und Deutschland »keine Bedeutung mehr haben«. Der arme Kerl.

Die Staaten der ehemaligen Sowjetunion wollten in die EU, um in den Binnenmarkt liefern und einen Platz in den Wert­schöpfungsketten einnehmen zu können. Vor allem wollten sie militärischen Schutz vor Russland. Eine weitere Komponente ist die Reichtumsblendung. So orientierte sich die Ukraine an der Warenauslage in Deutschland, statt an dem näher liegenden Bangladesch-Modell. Ihr Pro-Kopf-Einkommen beläuft sich auf ein Fünftel des griechischen. Der einzige Auftrag der EU könnte die Einrichtung eines Flüchtlingslagers gegen ein Entgelt sein.

Die Hoffnung, mit Europa kämen Menschenrechte, ist auf schrullige Weise weltfremd. Warum sollten UkrainerInnen ihre Oligarchen, die sie selbst an die Macht brachten, durch jeman­den loswerden, der von Ägyptens Diktator Al Sisi sagt, er sei »ein beeindruckender Mensch« (Sigmar Gabriel). Die EU ist bekannt dafür, dass sie auf der ganzen Welt ein gutes Einver­nehmen mit Diktaturen erzielt, wenn es ihren ökonomischen und geopolitischen Interessen nützt. Die EU forciert Geschäf­te mit dem Iran, Saudi-Arabien und Katar, ohne deren Scharia-Diktaturen in Frage zu stellen oder speziell vom Iran zu erwar­ten, Israel nicht vom Erdboden tilgen zu wollen, wie die Ayatol­lah-Führung monatlich bekannt gibt. Es gehe darum, im Iran jene Autos zu verkaufen, die man in Russland durch die Sank­tionen nicht mehr loswird, hieß es. Die EU will ihre Verluste, die durch die Sanktionen eingefahren werden, durch die engere Zusammenarbeit mit Scharia-Diktaturen kompensieren und kritisiert deshalb nicht etwa die SklavInnenarbeit in Katar, son­dern bezeichnet die Sklaverei als ein »eben anderes Verhältnis zu Arbeitsrechten« (Sigmar Gabriel).

Die EU lässt in China, Bangladesch oder im Kongo für den preiswerten europäischen Konsum Arbeitskräfte (einschließ­lich Kinder in afrikanischen Bergwerken) in diktatorischen Ver­hältnissen und ohne jedes »Menschenrecht« arbeiten. Die EU ficht für die palästinensische Nation, ohne für diesen »noch zu schaffenden« Staat auch nur irgendein »Menschenrecht« zu verlangen, schon gar nicht die Anerkennung jener von Schwu­len und Lesben. Im Gegenteil, die EU hat beschlossen, israeli­sche Waren aus Siedlungsgebieten zu markieren, selbst wenn der Rückzug israelischer Firmen aus solchen Regionen den dort beschäftigten PalästinenserInnen schadet. Humanistisch denkt sie nicht. Die Kooperation der EU mit der Türkei macht die Türkei nicht einen Deut demokratischer (aus anderen Grün­den wird die Türkei mit jedem Tag der Kooperation undemokra­tischer). Sie dient allein der Abweisung von Flüchtlingen. Wie die Kooperation mit Algerien, diesem »sicheren Drittland«. Wer fragt, was dort verboten und erlaubt ist? Und so wird auch eine Kooperation mit der EU die Ukraine nicht einen Fitzel de­mokratischer machen; irgendwann wird sie vielleicht das mili­tärische Aufmarschgebiet der NATO sein – mehr nicht. Ob ihr dafür Schulden erlassen werden, steht in den Sternen. Die Ukraine, immerhin das ärmste Armenhaus in Europa, wurde schon mehrfach aufgefordert, die Staatskasse nach dem Vor­bild Griechenlands zu sanieren. In Griechenland hatte das die Halbierung der Altersrenten zur Folge.

Die EU schafft weder Demokratie, noch die ökonomische Basis dafür, sie hat vielmehr damit zu tun, ihre Demokratien zu erhalten. Auffallend ist, dass einige osteuropäische Staaten von sich behaupten, sie seien gerade deshalb wahre Europäer, weil sie Europa vor Fremden und Nicht-ChristInnen schützten und vor »unangepassten« ethnischen Minderheiten wie Roma bewahr­ten. Dabei kehren sie zu Werten aus der europäischen Kolonial­zeit und des biologischen Rassismus zurück (das macht aber auch Bestseller-Autor Thilo Sarazzin) und geben vor, nationale Werte gegenüber der EU verteidigen zu müssen. Die Rückkehr zur Nation in Abgrenzung zur EU, die in der Propaganda fälsch­lich als Moloch dargestellt wird, bestimmt auch die Debatte in Großbritannien. In der EU gewinnt eine merkwürdige Dialektik Oberhand. OsteuropäerInnen fühlen sich von Russland militä­risch und von Westeuropa kulturell bedroht. Der bulgarische Philosoph Iwan Krastew sagt: »die Polen mögen Putin nicht, vie­le schätzen aber seine ablehnende Haltung zur Homosexualität.« Sie wähnten sich eingeklemmt zwischen »Militärparaden und Schwulenparaden«. Noch stärker zerreißt der Fremdenhass das, was in Europa vom Humanismus geblieben ist. Umso mehr wer­den andere Bevölkerungen selbst für Demokratien kämpfen müssen, statt irgendwas von Europa erwarten zu dürfen.

D-Mark, Euro, Grexit und falsche Theorien

Mit der Allmachtsfantasie wuchs auch die Einbildung von der produktiveren nordischen Rasse, die bei Sarrazin ihren biolo­gistischen und im Grexit ihren merkantilen Ausdruck findet. Schäuble, die AfD, Lafontaine und Wagenknecht wollen Grie­chenland aus dem Euro werfen. Der Euro sei Staaten mit un­terschiedlichem ökonomischem Gewicht »übergestülpt« wor­den (Lafontaine). Die FAZ legte Griechenland nahe, mit der Drachme den Export anzukurbeln und ein Gemeinwesen aufzu­bauen, »das selbst für seinen Unterhalt sorgen kann«.

Übergestülpt wurde gar nichts. Griechenland fälschte so­gar Zahlen, um unter das Euro-Dach zu schlüpfen, und für ih­ren Unterhalt können auch Berlin, Bremen und Ostdeutsch­land nicht sorgen. Der Osten liegt beim Selbstversorgungs­grad hinter den italienischen Abruzzen. Ostdeutschland müsste also ebenfalls aus der Euro-Zone fliegen, um seine Exporte anzukurbeln. Dieser immanent logische Gedanke wird aus völkischer Verwirrung verworfen. Wenn gleiche wirtschaft­liche Gewichte ein Kriterium wären, müsste es eine Währung für Mecklenburg-Vorpommern und Sizilien und eine für Baden-Württemberg und Katalonien geben.

Die entscheidende Frage lautet: Warum haben die jahr­zehntelangen Abwertungen von Franc, Lira, Drachme, Peso weder deutsche Exporte belastet, noch die Exporte der Billig­währungsländer angekurbelt? Die Wirkungslosigkeit von Ab­wertungen bestätigte schon Mitterand, als er sagte: »Abwer­tungen sind niemals gering genug, um einen Gesichtsverlust zu verhindern, und niemals groß genug, um einen wirklichen Exportvorteil zu verschaffen». In Deutschland wurde die Ver­teuerung der Währung (damals noch D-Mark) durch die Sen­kung der Lohnstückkosten aufgefangen. Aber Abwertungen zeigen immer wieder, dass eine Billigwährung die Wirtschaft nicht profitabel macht: Mit jeder Abwertung steigen die Aus­landsschulden in Fremdwährungen, die Risikozinsen und die Preise der Importwaren. Durch die importierte Inflation wer­den die Waren im abwertenden Land teurer, die nächste Ab­wertung steht bevor, irgendwann kann man mit der Währung die Wände tapezieren.

Abwertungen sind kein Mittel gegen den Wettbewerbs­vorteil, der auf unbezahlter Mehrarbeit, Arbeitsdisziplin, nied­rigen Lohnstückkosten, hoher Produktivität, moderner Technik und Infrastruktur, Anbindung an Märkten und Fertigungsketten beruht. Sie tragen vielmehr dazu bei, marode Strukturen am Leben zu halten und so den Nachteil zu festigen. Wird die lau­fende Korrektur der Kapitalzusammensetzung behindert, tür­men sich unrentable Kapitale auf, die dann in der großen Krise eliminiert werden. Der Markt selektiert nach den Kriterien »konkurrenzfähig« oder »nicht konkurrenzfähig« fortlaufend Staaten, Unternehmen und Individuen – ob keynesianisch, neoliberal oder einfach nur kapitalistisch.

Für Griechenland, das doppelt so viel importiert wie es exportiert, wäre die Rückkehr zur Drachme eine Aufforderung zum Militärputsch. Mit der Drachme könnten Einfuhren nicht mehr bezahlt werden. Energie, Ersatzteile, Fahrzeuge, Medika­mente, die Hälfte der Nahrungsmittel fielen weg. Eine Hunger­katastrophe bräche aus. Es käme zu Parallelwährungen. Rent­nerInnen, SoldatInnen, Beamte, Arbeitskräfte der lokalen Wirt­schaft bekämen wertlose Drachmen, ÄrzteInnen, Supermärk­te, VermieterInnen, ApothekerInnen verlangten Euro. Armee und Polizei würden ihrer Verelendung kaum tatenlos zusehen.

Der Hegemon im Krisengebiet

Die Spardiktate, die der deutsche Hegemon Europa auferlegt, haben deshalb nicht mit dem schlechten Charakter von Angela Merkel oder einem plötzlichen neoliberalen Einfall zu tun, son­dern mit der Aufrechterhaltung der Reproduktion der eigenen Wirtschaft sowie mit dem deutschen Weltmachtanspruch. Die europäische Wirtschaft stagniert und jedes Jahr fließt selbst aus Deutschland, dem stärksten Wirtschaftsraum, mehr Kapi­tal nach Asien und Amerika ab, als dem Land zufließt – insge­samt über 150 Milliarden Euro. 2012 flossen zum ersten Mal mehr ausländische Direktinvestitionen, die den internationa­len Kapitalverkehr und Firmenkäufe beziffern, in Schwellen- und Entwicklungsländer (680 Milliarden Dollar) als in die In­dustriestaaten der OECD (549 Milliarden Dollar). Um Europa machte das internationale Kapital regelrecht einen Bogen: die Direktinvestitionen sanken um 35 Prozent. Von 1960 bis 2013 sank in Deutschland der Anteil der privaten Investitionen an der Jahreswirtschaftsleistung von 14 Prozent auf 2,5 Prozent. Ein dramatisch geringer Wert. Genauso sank das Wirtschafts­wachstum in Deutschland von knapp 9 Prozent in der Dekade 1950 bis 1960 auf 0,9 Prozent in der Dekade 2000 bis 2010. Gleichzeitig schossen die Investitionen in den Ländern der »Dritten Welt« in die Höhe. Dafür hält sich Deutschland an sei­nen europäischen Nachbarn schadlos.

Dieser Niedergang in Europa hat möglicherweise mit der Analyse vom tendenziellen Fall der Profitrate von Karl Marx zu tun, der feststellte, dass die Profitrate sinken muss, je stärker der Kapitalblock in Relation zum wertschöpfenden Menschen wächst. Er sprach von der wachsenden organischen Zusam­mensetzung des Kapitals. Bürgerliche Ökonomen sind diesbe­züglich näher an Marx herangerückt. Stefan Kooths vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel sagt: »So fließt Kapital aus dem hoch­kapitalisierten Deutschland netto in den Rest der Welt, wo die Pro-Kopf-Kapitalausstattung geringer ist.« Marx spricht von niedriger organischer Zusammensetzung, Kooth von niedriger Pro-Kopf-Kapitalausstattung. Das ist dasselbe. Wenn die Pro­fitrate sinkt, flieht das Kapital entweder in den Finanzkreislauf (in der Hoffnung auf schnellere Vermehrung) oder in Zonen mit höheren Profitraten. Das ist festzustellen. Die Banken wurden mit Liquidität überschüttet, sie boten die überschüssige Wert­masse aus dem Produktionskreislauf wie Drückerkolonnen als Kredite an, gleichzeitig wuchs der Kapitalismus in den Schwel­lenländern rapide. Da Deutschland in Europa wiederum profita­bler ist als seine Nachbarn, vor allem als die südeuropäischen Länder, gelingt es Deutschland, seinen Aderlass Richtung Asi­en und Amerika durch die Belieferung anderer Europäer zu kompensieren – allerdings auf Kosten von deren Verschuldung.

Deutschlands Exportüberschuss zeigt die Umschichtung von Produktion (Beschäftigung, Mehrwert, Steuern) aus anderen Ländern, überwiegend aus Europa, nach Deutschland an. Die Verschiebung der Mehrwertproduktion aus Europa nach Deutschland führt zu einer Entleerung der eigenen Absatzge­biete und untergräbt so die deutsche Ökonomie. Das Modell, in dem das Überschuss-Land seine Waren exportiert und den Abnehmern das Geld leiht (ob über ESM-Fond, Bankkredit oder EZB-Geld, für das Deutschland zu 27 Prozent haftet), damit sie ihre Rechnungen beim Lieferanten »Deutschland« bezahlen können, wird kollabieren. Wenn Karstadt seinen po­tentiellen Kunden am Eingang Geld in die Hände drückte, da­mit sie einkaufen können, wäre der Laden schnell am Ende. Deshalb muss Deutschland möglichst ganz Europa in ein Pro­fitcenter verwandeln, um seine Reproduktion zu sichern, um Haftungsverluste zu vermeiden und seine Weltmachtambitio­nen zu wahren. Demzufolge sollen überall in Europa unpro­duktives Kapital ausgemerzt und die Lebensrisiken privati­siert werden. Für die politische Durchsetzung musste Syriza so gedemütigt werden, dass überall in Europa Hoffnungen auf bessere Lösungen in einem Realitätsschock erstarren. Dieser Mechanismus gibt aber gleichzeitig rechten antieuropäischen Parteien und Bewegungen Auftrieb.

Reiche Regionen, die sich abseilen wollen, um Armuts­regionen nicht alimentieren zu müssen, übersehen meistens, dass die Kleinstaaterei sie ebenfalls in den Abgrund zieht. Wenn Katalonien keine Steuern mehr an Madrid zahlte, würde Spanien Produkte aus Barcelona boykottieren und der VW-Konzern seine Seat-Produktion für den spanischen Markt nach Madrid verlegen. Wenn Großbritannien tatsächlich die EU verlassen sollte, will Frankreichs Staatspräsident Fran­coise Hollande ihnen »den freien Zugang zum Binnenmarkt versperren«. 44 Prozent der britischen Exporte gehen in die EU, 2.500 deutsche Firmen lassen auf der Insel produzieren. Ein Debakel bahnte sich an. Die schottischen NationalistIn­nen wollten sich mit 90 Prozent der britischen Öl- und Gas­vorkommen, die in schottischen Gewässern liegen, aus dem Staub machen. Sie haben sich zum Glück nicht durchsetzen können, denn gleich nach der Abstimmung sanken die Ölprei­se auf ein Drittel ihres Wertes. Schottland hätte Schäuble um Geld anbetteln müssen.

Europa wird zerrissen durch reale Disparitäten und die geistige Regression. Die Anforderungen des modernen Kapi­talismus und das Bewusstsein fallen immer weiter auseinan­der. Im 19. Jahrhundert gingen die Kapitalbewegung und die Staatsidee noch Hand in Hand. Der Geist folgte den Interes­sen von Industrie und Handel, zwängte Kleinstaaten und Pro­vinzen in Nationen hinein. Heute sprengt das expansive Kapital die Fesseln der Nationalstaaten, aber das Bewusstsein klebt an der Nation oder fällt in die Kleinstaaterei mit eigener Münz­prägung und völkischen Riten zurück.

Der Konflikt zwischen Moderne und Verblödung spiegelt sich auch im Flüchtlingsstreit. Das Kapital stellte sich »ge­schlossen hinter die Kanzlerin«, weil es offene Grenzen für die Just-in-time-Kette, den Nachschub an jungen Arbeits­kräften und das pünktliche Erscheinen der GrenzgängerInnen am Arbeitsplatz benötigt. Durch die offenen Grenzen konnten die Warenlager europaweit auf Schiene und Straße übertra­gen werden. Wird die Anlieferung durch Kontrollen aufgehal­ten (z.B. durch Österreichs Betonsperren am Brenner), stei­gen Produktionskosten und Warenpreise und Europas Wettbe­werbskraft fiele gegenüber den USA und Asien um Jahrzehn­te zurück. Das Wirtschaftsforschungsunternehmen Prognos berechnete, dass die EU bei optimistischen Annahmen bis 2025 knapp 470 Milliarden Euro durch Grenzkontrollen verlie­ren würde, und bei pessimistischen 1,4 Billionen. Fremden­hass ist in erster Linie lebensgefährlich für Flüchtlinge, in zweiter Linie aber auch im regressiven Sinn antikapitalistisch: antimodern und dumm.

Rainer Trampert

Der Autor lebt und schreibt in Hamburg, von ihm erschien 2014 Europa zwischen Weltmacht und Zerfall im Schmetterling Verlag.