Postmodernekritik als Halbbildung kritischer Theorie

Über den Unterschied zwischen immanenter Kritik und blanker Polemik

Vor der nun anstehenden Aufgabe mag es uns grauen, doch holen wir uns Mut durch eine unverbrüchliche Autorität: »Diesem rohen Waldstrome, der Vernunft und Wissenschaft zu verwirren droht, […] hat sich eine wissenschaftliche Kritik zu widersetzen. Wir werden dadurch dem Instinkte des Publikums, das von seinem ersten Staunen zur Gleichgültigkeit gegen jene Manier übergegangen, zu Hilfe kommen, die Achtung, welche der Philosophie ihres allgemeinen Bedürfnisses noch immer im Grunde gewidmet wird, unterstützen, bei allen durch Insolenz und Unreife zum Stillschweigen und Wegsehen gebrachten Freunden der Einsicht Teilnahme finden sowie das zum Prüfen zu schüchterne Stauen, das um der allgemeinen Ideen, die in jenes Getue verwebt sind, willen Achtung dafür hatte, entwirren und durch die Scheidung des Unlauteren ihm den Gewinn des Echten verschaffen.«? Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Maximen des Journals der deutschen Literatur, in: Hegel, Werke, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1986, 571f. Wenn wir die Geschichte der Aneignung und Fortführung kritischer Theorie?Um eine Subsumtion zu vollziehen, die begründet werden könnte: Wir setzen die Entstehung kritischer Theorie in den 1830er Jahren an (Max Horkheimer und Herbert Marcuse: Philosophie und kritische Theorie, in: Marcuse Schriften Bd. 3, Springe 2004, 227), ohne dass wir verschweigen wollen, dass sich wesentliche Züge dieser Theorie schon bei Hegel oder Aristoteles artikuliert finden.   betrachten, werden wir gewiss nicht zu dem Schluss gelangen, dass dieser »rohe Waldstrom« jemals versiegt wäre. Wir werden auch nicht behaupten können, er habe bloß leicht unsere Zehenspitzen benetzt.

Je und je wieder bilden sich in dieser Geschichte Gemeinschaften heraus, die sich auf eine Genealogie, auf einen Kanon einigen. Gemeinschaften, die ihre »Arbeit am Begriff« in Behauptungen stillstellen, fest davon überzeugt, dass in diesen eine unumstößliche Wahrheit aufgehoben sei, die kein Mensch bestreiten könne, der auch nur halbwegs bei Vernunft sei. Gemeinschaften, die nichts in ihrem Tun irritiert, weil sie alles schon subsumiert haben. So schlägt kritische Theorie wieder in traditionelle um und speist jenen »rohen Waldstrom«, den zu kritisieren sie sich vornahm.

Diese Erbgemeinschaften kritischer Theorie befinden sich stets im Kampf gegen den Usurpator, der sich als rechtmäßiger Nachfolger aufführt – gegen den Lumpenintellektuellen. Zur genaueren Bestimmung dieses Reflexionsbegriffes siehe: Sebastian Schreull: Ewige Wiederkehr des Lumpenintellektuellen – Zum Verhältnis von Erbe, Parteilichkeit und Praxis, in: Claus Baumann et al. (Hg.): Philosophie der Praxis, Praxis der Philosophie, Münster 2014, 329-343. Der Lumpenintellektuelle bekenne sich zwar zur kritischen Theorie, befriedige in Wirklichkeit aber bloß narzisstische Interessen, wolle nur ein universitäres Auskommen finden, sei in aller Tragik bloßer Ausdruck der Konterrevolution oder befördere die Barbarei, welche die kapitalistische Produktionsweise in sich trage. Es ist erstaunlich, dass im Rahmen solcher Erbstreitigkeiten die einen »kritischen Theoretiker« den anderen einen Verrat vorwerfen, ohne dass der Begriff einer Treue zum Erbe kritischer Theorie als Problem reflektiert wird; schließlich kann sich kritische Theorie mit keinem »Vorgegebenen zufrieden« geben, »[a]uch nicht mit kritischer Theorie«.Theodor W. Adorno: Vorlesung über negative Dialektik, Frankfurt a.M. 2003, 145.

Es geht uns nicht um die Befriedung dieser Auseinandersetzungen, so dass alle hundert Blumen und hundert Schulen, die als kritische Theorie auftreten, irgendwie doch wahr seien. Kritische Theorie bedarf des trefflichen Streits, des Handgemenges, um wirklich kritisch gewesen zu sein. Dies bedeutet aber, das Handgemenge von jenen halbgebildeten Erbstreitigkeiten zu unterscheiden, die immer wieder mit dem Kampf gegen »Lumpenintellektuelle« einhergehen. Wie aber dies tun? Ist kritische Theorie eine »Kritik im Handgemenge«, dann sind kritische Theoretiker, frei nach Lenin gesprochen, an ihren Händen zu erkennen. Und dies gilt nicht in dem Sinne, dass Theorie bloß eitles Geschwätz wäre und es allein auf eine von der Theorie geschiedene Praxis ankomme; sondern dergestalt, dass Theorie selbst nur als Praxis, als ein bestimmtes Tun zu begreifen ist. Kritische Theoretiker erkennt man nicht daran, zu was sie sich in ihrem Schreiben und Sprechen bekennen, wie getreu sie kritisch-theoretische »Wahrheit« reproduzieren mögen, – sondern daran, wie sie die Praxis der Theorie vollziehen. Wie und ob der kritische Theoretiker darauf reflektiert, dass sein Tun auf den Gegenstand wirkt und wie er den Gegenstand auf sein Tun wirken lässt?Dieses Problem bestimmt Marx als »Hauptmangel alles bisherigen Materialismus«, da er seinen »Gegenstand […] nur unter der Form des Objekts« fasse, »nicht aber als menschliche […] Thätigkeit, Praxis, nicht subjektiv« (Karl Marx: Thesen über Feuerbach, in: MEW Bd. 3, 5) begreife. Dieser Mangel ist auch dort vorherrschend, wo eine objektive Bedeutung oder die einzig wahre Auslegung etwa der Marx’schen Werke postuliert wird. Solche Interpretationen reflektieren nicht ihr Tun als Verhältnis eines mit bestimmten Mitteln tätigen Subjekts und eines Gegenstandes, sondern behaupten, dass das Resultat der Tätigkeit des Subjekts mit dem Gegenstand selbst identisch sei. Sie vergessen also in ihren Überlegungen darüber zu reflektieren, dass das Verhältnis von Subjekt und Gegenstand nicht im Tun des Subjekts verschwindet, noch im Gegenstand selbst gegeben war. , ist wesentlich dafür, ob er überhaupt als kritischer Theoretiker angemessen angesprochen werden kann.

Eine »Kritik im Handgemenge«, die im Streit mit anderen um die Bestimmung kritischer Theorie ringt, muss vor allen einfachen Abgrenzungen gegen Lumpenintellektuelle zurückschrecken. Sie meidet die gut abgesicherten Feldherrenhügel einer »transzendenten Vernunft« und gefällt sich nicht in der romantischen Pose des »einsamen Kritikers«, der seine Marginalität als Opfer für die Wahrheit weiht. Im Handgemenge muss der Gegner wirklich getroffen werden; ihn identisch mit vor der konkreten Auseinandersetzung feststehenden Vorstellungen zu setzen, so dass die eigenen Setzungen überhaupt nicht von jenem Gegner irritiert werden können, bringt einen auch um die Gelegenheit, die eigene Lumpigkeit zu reflektieren.

Eine solche Vermeidung des Handgemenges ist insbesondere dort anzutreffen, wo sich unterschiedliche Formen kritischer Theorie um eine Kritik »postmoderner Philosophie« bemühen, die zwar als Gesellschaftskritik auftrete, aber doch nur die Affirmation des Bestehenden sei. In den »Postmodernen« entdeckt man die aktuelle Gestalt des Lumpenintellektuellen. Wir wollen dies exemplarisch an solchen Vertretern darstellen, die von sich behaupten, eine besonders getreue Fortführung der kritischen Theorie Adornos zu sein, die mittlerweile unter dem Titel »Ideologiekritik« firmiert.

Zur Entlarvung des eigentlichen Heidegger

Jüngstes Beispiel dafür ist der Ende März in der Jungle World erschienene Beitrag Die Schocktherapie?In: Jungle World 13/2014, http://0cn.de/oi7p. Alle nicht anders ausgewiesenen Zitate stammen aus diesem Text. von Alex Gruber und Gerhard Scheit. Mit diesem Text beziehen sich die beiden auf die zu jenem Zeitpunkt bereits einige Monate andauernden Feuilletondebatte, die um die eindeutig antisemitischen Aussagen in Heideggers Schwarzen Hefte entbrannte. Und in der Interpretation jener Ideologiekritiker gilt Heidegger als ein geistiger Vater »postmoderner Philosophie«.

Im wohlbekannten Tonfall der Entlarvung kommen Gruber und Scheit zu dem Schluss, dass besagte Feuilleton-Debatte keine wirkliche sei, sondern bloß die »Inszenierung einer Debatte«. In Wirklichkeit bestehe zwischen den einzelnen Beiträgen allenfalls ein »gradueller« Unterschied. Im Grunde seien die Verfasser in ihrer »unbedingten Apologie« des Heidegger’schen Werkes vereint, sie stritten lediglich »um die Deutungsmacht«, damit »Heideggers Philosophie selbst nicht zur Debatte steht«.

Wer die so zusammengefassten Debattenbeiträge liest, wird einigermaßen überrascht sein, wie geschickt Inszenierungen und wie groß graduelle Unterschiede sein können. Man stößt freilich auch auf solche, die Heidegger vom Antisemitismus frei sprechen oder diesen von seinem philosophischen Werk trennen. Man findet aber auch viele Texte, die dem entschieden widersprechen: Dirk Pilz behauptet in der FR, dass Heideggers »Philosophie auf seinem Antisemitismus gründete«, Thomas Assheuer legt in der Zeit dar, dass »die Judenfeindschaft in den Schwarzen Heften […] kein Beiwerk« darstelle, sondern »das Fundament der philosophischen Diagnose« bilde, was Dieter Thomä in der NZZ noch einmal zuspitzt: Diese »Philosophie ist das Verhängnis, für dessen Deutung sie sich hält.« Alles eine gut getarnte Apologetik geschickter Heideggerianer?

Die wirkliche »Inszenierung« vollführen Gruber und Scheit selbst: Trotz ihrer weitgehenden inhaltlichen Übereinstimmung mit keinesfalls marginalen Teilen des Feuilletons, stellen sie sich als einsame Kritiker dar, die von den anderen Debattierenden wohl geschieden seien. Dort das notorisch heideggerisierende Feuilleton, hier die beiden kritischen Theoretiker – eine ganz und gar graduelle Übertreibung.

Man könnte nun wohlwollend unterstellen, dass die beiden diese Inszenierung aus gutem Grund vollziehen, nämlich um zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Heidegger’schen Denken zu kommen, welche die anderen Feuilletonisten nicht leisten. Doch auch bei ihren Aussagen über Heidegger wollen die beiden von ihrer abgeschiedenen Position nicht abrücken, schließlich gewährt sie ihnen einen mühelosen Blick auf das Heidegger’sche Gesamtwerk: In den »berühmten Werke[n]« sei »nichts zu finden«, das sich explizit »gegen Juden und Judentum« richte, sondern nur »Windungen der Sprache«. Jedoch haben die beiden keine Mühen, diese Windungen kurz und knapp zu übersetzen: »[S]tatt von ›Gegenvolk‹ und ›Vernichtung‹« sei in Heideggers Werk »von ›Volk‹ und ›Sein zum Tod‹« die Rede. Er habe »das ideologische Zentrum des nationalsozialistischen Staates – die antisemitische Projektion – aus[ge]spart und ihn zugleich als Ganzes – also mit seinem Zentrum – bejaht«. Diese Zusammenfassung des Heidegger’schen Denkens?Und wem es zu sehr vor dem Sprachspiel Heideggers gruselt oder wer nicht hineinfinden mag, dem sei unbedingt zu Andreas Luckner: Martin Heidegger: »Sein und Zeit«. Ein einführender Kommentar, Paderborn 2007 geraten, der deutlich macht, weswegen diese Philosophie nicht eine solche Absurdität ist, wie es die oben kritisierte Darstellung nahe legt. kommt nicht nur genauso schematisch sortierend daher wie die Zusammenfassung der feuilletonistischen Debatte, sie erweist sich auch als genauso unzutreffend. Nehmen wir die Behauptung, das »Sein zum Tode« sei eine bloße Chiffre für Vernichtung. Ist man mit dem recht systematischen Gang von Sein und Zeit nicht vertraut, mag dies plausibel erscheinen: »Sein zum Tode« klingt nach jener Parole, mit der Antisemiten ihrem Vernichtungswillen Ausdruck verliehen: »Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod!«

Schlägt man jedoch Sein und Zeit einmal auf, zeigt sich, dass diese »Interpretation« mehr als nur gewagt ist. Das »Sein zum Tode« ist Reflex-ionstitel für ein Selbstverhältnis, in dem sich das Dasein als einzelnes begreife: Weil ich nun einmal für mich allein sterbe und den Tod nicht als Einzelner erfahre, da ich mit seinem Eintreten überhaupt nicht mehr bin, kann ich meinen eigenen Tod nicht als etwas verdinglichen, vor dem ich mich bloß fürchten könnte, wie vor etwas, das mir als etwas Äußeres oder »Dingliches« zustößt. Dies verdränge bloß die Angst vor dem Tod, die gerade darin bestehe, dass dieser Tod die äußerste Möglichkeit meines Daseins, die jeder Zeit möglich sei – aber nie für mich eine Wirklichkeit als »gestorben Seiender« werden könne. Die »›überlegene‹ Gleichgültigkeit« gegenüber dem eigenen Tod entfremde das Dasein von seinem »eigensten, unbezüglichen Seinkönnen«?Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1979, 254. , welches darin bestehe, mit »jede[r] Versteifung auf die je erreichte Existenz« zu brechen. In der Reflexion auf die äußerste Möglichkeit des Daseins, den eigenen Tod, »bannt das Dasein die Gefahr, aus seinem endlichen Existenzverständnis her die es überholenden Existenzmöglichkeiten der Anderen zu verkennen oder aber sie mißdeutend auf die eigene zurückzuzwingen«?Ebd., 264. .

Inwiefern solche Reflexionen nun philosophisch angemessen sind oder nicht, dies ist nicht unser aktueller Gegenstand. Warum und vor allem wie das »Sein zum Tode« jedoch als eine Chiffre für »Vernichtung« zu entschlüsseln sein soll, ist rätselhaft. Das Rätsel löst sich auch nicht auf, wenn man die längeren Texte hinzuzieht, in denen die beiden ihre Heideggerkritik dar-legen, also Scheits Die Meister der Krise oder Grubers Dekonstruktion als Regression. Dieselbe unzutreffende Kritik und dieselben überraschenden Assoziationen werden hier ausführlicher vollführt, aber nicht am kritisierten Text entwickelt. Außer man versteht »Kritik« eben als Meinung, die ihren »Gegenstand noch nicht hat. […] Meinung, als die von ihrem Gegenstand noch getrennte ratio, gehorcht einer Art von Kräfteökonomie, folgt der Linie des geringsten Widerstands, wenn sie undurchbrochen der bloßen Konsequenz sich überläßt.« Theodor W. Adorno: Meinung Wahn Gesellschaft, in: Adorno – Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, 578f. Warum auch begrifflich darstellen, wie eine solche Übersetzung zu vollziehen wäre, irgendwie wird dies die einen lesende Gemeinschaft schon glauben.

Darzulegen, wie ein solcher aus dem »Sein zum Tode« abgeleiteter »existenzialistischer« Freiheitsbegriff mit Heideggers Nazismus und Antisemitismus in einem Verhältnis zu denken ist, ist ein wesentlicher Bestandteil einer immanenten Kritik dieser Philosophie. Das, was Gruber und Scheit allerdings als »Kritik« inszenieren, wird von der Kritik getroffen, die Adorno an einer Heideggerkritik Lukács’ übte. Adorno bezeichnet sie als »Schulfall der Unzulänglichkeit transzendenter Kritik«?Theodor W. Adorno: Ad Lukács, in: Adorno – Gesammelte Schriften, Bd. 20.1, 251. . Lukács habe von vornherein geglaubt, über Kriterien oder einen Maßstab zu verfügen, an denen er Heideggers Werk bloß noch zu messen brauche. Sie seien dem Werk vorgeordnet, transzendent, könnten die Wirklichkeit des Werks nicht begreifen, da das Werk selbst ohne Wirkung auf die Kriterien oder den Maßstab sei, durch die es beurteilt werde. Lukács verlange von dem Text ein Bekenntnis, das dieser offenkundig nicht ablegen könne. Ein solches Tun wird kein anderes dadurch, dass Gruber und Scheit ihre transzendenten Kriterien ironischerweise Adornos Auseinandersetzung mit Heidegger entnehmen.

Die französische Gefahr

Der Grund für diese allzu eilfertig formulierte Heidegger-Kritik ist wohl darin zu suchen, dass die beiden ihren Blick längst schon auf eine größere und gegenwärtigere Bedrohung gerichtet haben: Das Perfide am Heideggerianismus sei nämlich, dass er sich in Deutschland nicht unmaskiert zeige, sondern »den Umweg über Frankreich« genommen habe, »um von dort reimportiert zu werden«. Keinem Geringeren als Derrida sei es gelungen, den Deutschen ihren »Meisterdenker« in neuer Verpackung mit altem Inhalt unterzujubeln – eine intellektuelle Geopolitik europäischen Ausmaßes. Auch hierbei muss es sich wohl um eine äußerst geschickte Inszenierung handeln, denn derselbe Derrida stellte lange vor dem Erscheinen der Schwarzen Hefte heraus, »daß es notwendig ist, möglichst uneingeschränkt die tiefe Zugehörigkeit des Heideggerschen Textes (Schriften wie Taten) zur Möglichkeit und Realität aller Nationalsozialismen vorzuführen«.Derrida, Jacques: Die Hölle der Philosophie, in: Jürg, Altwegg (Hg.): Die Heidegger Kontroverse, Frankfurt a.M. 1988, 89.

Von solchen Tarnungen und Täuschungen lassen sich Gruber und Scheit nicht hinters Licht führen, denn sie haben durchschaut, dass das eigentliche Ziel Derridas darin bestehe, den Heidegger’schen Kampf »gegen die Uneigentlichkeit« fortzusetzen. Als besonders bösartiger Trick muss es dann wohl gelten, dass Derrida seinen eigentlich intendierten Kampf gegen die Uneigentlichkeit verschleiert, indem er Heidegger gerade in »Fragen des Eigentlichen, des Selbst und der Heimat, des Ausgangspunktes von Sein und Zeit, der Animalität oder des sexuellen Unterschiedes, der Stimme, der Hand, der Sprache, der ›Epoche‹ und vor allem, […], die von Heidegger fast immer bevorzugte Frage der ›Treue des Denkens‹«?Ebd., 85. kritisiert. Gruber und Scheit zeigen keinerlei Interesse an diesen oder ähnlichen Äußerungen Derridas. Der Gedanke, dass man bei aller Kritik mit Theoremen von Heidegger – oder Derrida – arbeiten könnte, weil »die innere argumentative Kraft der Einzelüberlegungen […], die in einer Philosophie enthalten sind, weit hinausreicht über d[eren] allgemeine philosophische Prämisse«?Theodor W. Adorno: Ontologie und Dialektik, 238. , ja, besagte Einzelüberlegungen sogar eine Grundlage für eine Kritik der Prämisse sein können, ist ihnen fremd. Dass sie in Bezug auf Heidegger nicht auf diesen Gedanken kommen, ist insofern besonders bemerkenswert, als sie in anderen Texten sehr wohl bereit sind, Gedanken von einem Nazi wie Carl Schmitt oder einem Existenzialphilosophen wie Jean-Paul Sarte zu übernehmen. Liegt der Grund für diese Diskrepanz darin, dass die unbedingte Ablehnung Heideggers für die un-bedingte Ablehnung »der Postmoderne« notwendig ist oder weil man sich so im Bunde mit Adorno glaubt? Zumindest müsste man darlegen, wie solche Unterscheidungen funktionieren, warum Derrida zum Heideggerianer wird, während man selbst unproblematisch mit bestimmten Gedanken etwas tun kann, ohne sich mit deren Prämissen zu »infizieren«. Denn ihnen geht es gar nicht um eine immanente Kritik, welche versucht, das Denken des Anderen durch dessen ihm eigenen Widersprüche zu kritisieren, denn »ihn ausserhalb seiner selbst angreiffen und da Recht zu behalten, wo er nicht ist, fördert die Sache nicht«.Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik, in: Hegel – Gesammelte Werke, Bd. 12, Hamburg 1981, 15. Wenn es aber einem nicht um die Sache geht, dann geht es einem eben um klare Grenzziehungen und eindeutige Genealogien von »Feinden der Aufklärung«.

Und wie könnte man diese Feinde besser als solche markieren, denn durch ihre Entlarvung als Wiedergänger der Nazis? Man braucht sich mit Derridas Denken nicht mehr auseinanderzusetzen, wenn man dank der Assoziationskette Derrida-Heidegger-Hitler schon längst meint zu wissen, was man von ihm zu halten hat. Darin zeigt sich eine zentrale Figur der »ideologiekritischen« Postmodernekritik. Der Text von Gruber und Scheit ist kein Einzelstück, sondern fügt sich nahtlos in eine Produktion von Bekenntnissen ein, die wieder und wieder aufgesagt werden müssen, um sich von Feinden oder Verrätern abzugrenzen. Konzentrierter Ausdruck dieser Bekenntnisse ist der 2011 von Axel Gruber und Philipp Lenhard herausgegebene Sammelband Gegenaufklärung. Der postmoderne Beitrag zur Barbarisierung der Gesellschaft. Auf seiner Rückseite findet sich die markige Formulierung, die anzeigt, worum es geht: »Die postmoderne Philosophie ist nichts anderes als ›das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie‹«.

Die Liste der von den Autoren des Sammelbandes als nachlebende Nationalsozialisten traktierten Denker ist lang: Derrida, Butler und Foucault, aber auch Žižek, Sloterdijk, Badiou und viele andere mehr. Irgendwie seien sie alle Ausdruck dieser einen »postmodernen« Philosophie. Offenkundig interessierten sich die Ideologiekritiker nicht für jene z.T. radikalen Kritiken jener »Postmodernen« aneinander: Žižek bestimmt den »postmoderne[n] Neo-Sophismus« als »falsche philosophische Position«?Slavoj Žižek und Alain Badiou: Philosophie und Aktualität. Ein Streitgespräch, Wien 2005, 64. , Foucault teilt die Habermas’sche Kritik an jenen »Postmodernen«, da »wir Gefahr [laufen], der Irrationalität zu verfallen«?Michel Foucault: Raum, Wissen und Macht, in: Foucault – Schriften in vier Bänden, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, 333. , wenn wir ihnen folgten, und Derrida kritisiert mehrfachBeispielsweise Jacques Derrida: Marx & Sons, Frankfurt a.M. 2004, 42f. die Termini »Poststrukturalismus« oder »Postmoderne« als Bezeichnungen für sein Philosophieren. Die im Sammelband schreibenden Autoren unterlassen daher eine begriffliche Bestimmung der Gattung »postmoderne Philosophie« mit den ihr angeblich angehörenden unterschiedlichen Denkmodellen. Unproblematisch wird dieser Begriff einer Gattung gebraucht, so als ob gesetzt wäre, wer als ein Exemplar derselben zu identifizieren sei. Siehe auch Judith Butler: Contingent Foundation Feminism and the Question of »Postmodernism«, in: Seyla Benhabib et al. (Hg.): Feminist Contention. A Philosophical Exchange. New York 1995, 35 – 57. Wie will man aber dann der Kritik entgehen, man urteile willkürlich, was doch einer der typischen Vorwürfe an jene »Postmoderne« ist? Wer daran interessiert ist, was sich in Frankreich in der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Philosophie getan hat, wie die doch sehr unterschiedlichen Weisen des Philosophierens zu bestimmen sind, dem sei folgende luzide Darstellung empfohlen: Vincent Descombes: Das Selbe und das Andere, Frankfurt a.M. 1981.

Gruber, Lenhard und all die anderen kommen jedoch gar nicht in die Verlegenheit, sich dies zu fragen. Im Gegenteil: Die Gattung »postmo-derne Philosophie« wird einfach in die irgendwie übergeordnete Gattung »deutsche Ideologie« eingeschrieben, die von Stirner, Nietzsche und Heidegger bis zu Derrida oder Lyotard reiche und nun einmal die »gleichermaßen fetischistisch wie selbstbewußt vollzogene Reproduktion der globalen Selbstverwertung des Werts«?Alex Gruber und Philipp Lenhard: »Deutsche Ideologie«: Von Stirner zum Poststrukturalismus. Einleitung, in: Dies. (Hg.): Gegenaufklärung. Der postmoderne Beitrag zur Barbarisierung der Gesellschaft, Freiburg 2011, 7. sei. Gruber und Lenhard stehen damit zumindest in einer marxistischen Tradition, der zufolge Ideologie nichts als die Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse in den Köpfen bestimmter Individuen sei. Vielmehr noch: Ihre doch recht spezielle Interpretation der Kritik der politischen Ökonomie gilt ihnen als identisch mit ihrem Gegenstand, den wirklichen gesellschaftlichen Verhältnissen, so dass diese Interpretation wiederum zum Maßstab der Beurteilung anderer Denkmodelle wird. Man produziert ergo Schulfälle transzendenter Kritik: Das, was man als wahr schon vor jeder Auseinandersetzung mit jenen unterschiedlichen Denkmodellen gesetzt hat, findet sich dann wie selbstverständlich in diesem Gegenstand selbst wieder. Nietzsches »Wille zur Macht« sei als die zum »naturhafte[n] Fließen rationalisierte Bewegung des Kapitals«?Ebd., 15. zu übersetzen, Heideggers »Sein als völlig unbestimmter und unbestimmbarer Ort ursprünglicher Ungeschiedenheit ist der Wert«?Ebd., 19. und da das »Telos des Kapitals […] die Abschaffung des Individuums«?Ebd., 8. sei, muss man es als »permanente Vernichtung jeder Bestimmtheit«?Ebd., 23. in Lyotards Philosophie wiederfinden. Weswegen machte man sich überhaupt die Mühe, irgendwelche besonderen Philosophien zu erwähnen, wo sie doch nur geistige Exemplifizierungen jenes Allgemeinen, dieser Verwertung des Werts sind? Man muss nicht wirklich etwas verstanden haben, um es zu zitieren.

Die Tücken des Zitats

Man kennt ein solches Vorgehen vielleicht noch aus Zeiten, in denen man Hausarbeiten zu Gegenständen schreiben musste, die einen wirklich nicht interessierten, einen langweilten oder gar quälten. Man wusste so ungefähr, was man schreiben wollte, suchte also nach Zitaten aus den betreffenden Texten, die in der eigenen Deutung passend zu machen waren, und es durften die obligatorischen Zitate der für gut befundenen Theoretiker nicht vergessen werden, die die eigene Deutung irgendwie stützten. Und gerade letztere Zitate können verräterisch wirken. Auch bei den Autoren des Sammelbandes ist der Drang zum stützenden Zitieren Adornos so stark, dass dieser auch dann herbeizitiert wird, wenn er nichts auch nur ansatzweise Stützendes zu sagen hat. So tut es Gerhard Scheit in seinem Beitrag, mit dem er über die Vorgeschichte der Postmoderne – gemeint ist der Strukturalismus – aufklären will. Er zitiert sehr knapp und passt das Zitat in seine Argumentation ein: »Bei dieser Gelegenheit konstatiert er [Adorno] beinah verwundert, daß von der Konzeption der neuen ›Theorienbildung‹, die ›mit den Namen Lévi-Strauss und Lacan verbunden ist‹, getrennt vom ethnologischen Material ›überhaupt nichts übrig‹ bleibe. Für dieses Nichts bürgerte sich in Deutschland bald darauf der Name Poststrukturalismus ein«. Mit diesen zwei Sätzen hat Scheit seine These bereits in nuce entfaltet und weiß natürlich, dass der vom Strukturalismus schon propagierte »Tod des Subjekts nur Apologie jenes ›automatischen Subjekts‹ bedeuten kann«.Gerhard Scheit: Altern der Musik, Verjüngung des Strukturalismus. Über die Vorgeschichte der Postmoderne, in: a.a.O., 42.

Der Leser von Adornos Einleitung in die Soziologie, aus der das Zitat stammt, darf sich überraschen lassen. Denn Adorno spricht von der Schwierigkeit, die Soziologie auf formale Bestimmungen zu reduzieren – sei es durch klare Definition ihres Gegenstandsbereiches oder durch die Nennung gewisser Methoden. Exemplifizierend erläutert er dies am Strukturalismus, der nicht bloß als Methode betrachtet werden könne. Wir lesen einen Satz weiter als Scheit zitiert: »[E]s ist dann sogleich so, als ob die formalen Bestimmungen auf der einen Seite vogelscheuchenhaft um die Begriffe herumschlottern würden, so daß zwischen diesen Bestimmungen und den materialen Fragestellungen kaum mehr eine Beziehung übrigbleibt, während auf der anderen Seite dann diese Definitionen wieder dem soziologischen Denken bestimmte Grenzen auferlegen, durch die es in einer Weise eingeengt wird, die es dann seinen eigentlichen Aufgaben entfremdet«.

Das »Nichts«, das Scheit zur Beglaubigung seiner Interpretation des Strukturalismus durch Adorno macht, ist keine Qualifizierung des Strukturalismus, sondern bezieht sich auf den Umstand, dass eine Methode nur sinnvoll in ihrem Gebrauch in materialen Untersuchungen beurteilt werden kann. Löst man sie von dieser Praxis, bleibe Nichts von ihr übrig, in dem Sinne, dass keine sinnvollen Äußerungen mehr über sie möglich seien. Als genau solch eine unsinnvolle Äußerung erweist sich somit Scheits Gebrauch des Adorno-Zitats. Denn dass sich das »Denken bestimmte Grenzen auferleg[t]«, wenn es bestimmte Definitionen nicht mit dem konfrontiert, was durch diese Definitionen bestimmt werden soll, dies stellt die »ideologiekritische« Postmodernekritik in aller Trivialität und Absurdität dar. Sie setzt Begriff und Sache identisch, um mittels jener Identitätsbehauptung Anderes zu subsumieren. Und findet erstaunlicherweise in den unterschiedlichsten Texten nur wieder und wieder ihre eigenen Interpretationen auf. In der Tradition kritischer Theorie wurde dies schon des Öfteren als Subjektivismus widerlegt.

Vielleicht ist einem dieser kreative, weniger wissenschaftliche oder philosophische Umgang mit Zitaten oder Begriffen aus akademischen Projektanträgen bekannt. Diese leben schließlich zu einem guten Teil davon, die eigene Bedeutsamkeit herauszustellen, indem die Nichtigkeit anderer Theorieprojekte in zwei Sätzen demonstriert wird. Diese »ideologiekritische« Ernsthaftigkeit imitiert doch den Ton einer Berufungskommission, die schon längst entschieden hat, aber nun auch noch in Sätzen, die nach Theorie klingen sollen, begründen muss, was nur noch formal einer Begründung bedarf. Verstünde man sich so wie Gruber, Scheit und all die Anderen auf Ableitungen und großen Erzählungen, man wäre geneigt, diese Schriften auf die »postmoderne« Bedingtheit der Universität zurückzuführen. Diese »ideologiekritische« Postmodernekritik ist das, was sie ihrem Gegenstand vorwirft: schlechter Akademismus. In ihren Gesten, in ihrem Habitus ähneln sich schlechte Akademiker. Sie haben die Wahrheit schon zu sich nach Hause geholt, um zu behaupten, dass alles schon genug interpretiert sei, durch Adorno, Marx oder Heidegger. Das, was wahr ist, sei evident, es bedürfe nur noch der Entscheidung zum Wahren. Entweder sie bekämen ihren Lehrstuhl oder die Welt müsse sich verändern.

Mag uns auch die Inszenierung dieser »Ideologiekritiker« zum Mitleid anregen, dass da ein Sturm postmoderner Verfinsterung durch die Universitäten, Zeitschriften und Verlage fege, die wenigen Ideologiekritiker einsam und treu die Fackel der kritischen Theorie hochhielten – ach, ließe sich ihr starrer Blick nur einmal durch das wirre Treiben in diesen Universitäten und den ganzen mit ihr vermittelten Apparat irritieren! Sie könnten feststellen, dass sie in ihrem Kampf gegen die »postmoderne Philosophie« so einsam und verlassen nicht sind. Derridas Denken oder der Heideggerianismus sind keine großen Themen für gut situierte Forschungsgemeinschaften, sondern vom Fortschritt Überholte. Solche Kampfansagen gegen jene Lumpenintellektuellen werden seit Jahrzehnten von verschiedensten Seiten formuliert, gerade dort, wo auch das Erbe kritischer Theorie gegen Zumutungen anderer Formen von Gesellschaftskritik rein gehalten werden soll: Mal kommen sie diskursethisch geläutert daher wie bei Habermas, mal orthodox-marxistisch wie bei Hans Heinz Holz oder mal verspielt marxistisch wie bei Žižek. Womit weder gesagt ist, dass deren Kritiken ebenso haltlos wie die oben dargestellte sind, noch dass sie sich nicht in ihrer Qualität unterscheiden. Aber auch sie haben Probleme mit dem angemessenen Zitieren, zumindest zeitweise, wenn es etwa um Derrida oder Adorno geht. Und von den Ideologiekritikern unterscheidet sie, dass ihre Werke nicht mit einem Pathos daherkommen müssen, das jeden Verstoß gegen die formale Logik als Dialektik adelt – »nicht zufällig ist die Verfallsform von Dialektik Paradoxie« (Theodor W. Adorno: Ontologie und Dialektik, 330). Habermas ist ihnen gegenüber sprachphilosophisch reflektierter, seine Adornokritik trifft nicht Adorno, sondern Ideologiekritiker, die wirklich nicht begriffen haben, »daß Philosophie, die nicht Sprachphilosophie ist, heute eigentlich überhaupt gar nicht vorgestellt werden kann« (Ebd., 61). Darum schreiben sie ja auch mit einem vorwissenschaftlichen Dünkel akademisch anmutende Texte, die vielleicht weniger andere Philosophien in Zitatmontagen fiktionalisieren sollten, sondern die lieber einmal angemessen Adorno, Marx oder Hegel rekonstruieren müssten. Und nicht mit der Ausrede aufwarten sollten, ihr Behauptungsreigen sei ein Adorno’sches Essay oder eine Marx’sche Polemik. Ihre Texte sind, logisch-begrifflich betrachtet, eine Zumutung für Vernunft und Wahrheit.

Wenn sie sich auch wechselseitig als Lumpenintellektuelle diffamierten, ein klein wenig Hoffnung könnte man doch haben, dass sie über ihren Gegenstand etwas erführen, wenn sie die Postmodernekritik des anderen einmal reflektierten. Und wird kritische Theorie wirklich immanente Kritik gewesen sein, d.h. die logisch-begriffliche Rekonstruktion der gegenwärtigen Gestalten des Bewusstseins und ihrer Widersprüche, um gesellschaftliche Wirklichkeit zu begreifen, dann wird sie sich nicht an solchen Formen der Halbbildung orientieren, sondern ihre Gegner oder das ihr Andere ernst nehmen und nicht bloß subsumieren. Denn wo sie ihren Gegner nicht trifft, da ist kritische Theorie wirkungslos, ergo: keine kritische Theorie. An ihren Händen sollt Ihr sie erkennen!

Floris Biskamp und Sebastian Schreull

Die Autoren leben in Köln und Hamburg. Floris Biskamp promoviert über kritische Theorie, Postcolonial Studies und anti-muslimischen Rassismus in Deutschland, Sebastian Schreulls Dissertation behandelt die Unterscheidung von Literatur und Philosophie.