Nach dem Kommunismus

Mühen der Demokratisierung

Es ist niemals einfach, zu bestimmen, ob die eine historische Periode einer anderen Platz gemacht hat, oder überhaupt eine historische Periode als solche zu benennen.1 Dies gilt besonders bei Ereignissen der jüngeren Geschichte. Die Veränderungen sind noch nicht zu einem Ende gekommen und es ist unklar, welches Ergebnis sie, wenn überhaupt, zeitigen. Über den Postkommunismus in Mittel- und Osteuropa allerdings lassen sich bereits Aussagen und vorsichtige Schlussfolgerungen treffen. Zunächst, dass es drei Phasen gegeben hat. Zuerst gab es einen fast schon messianischen Enthusiasmus und die Hoffnung auf Erlösung. Als Zweites folgte eine Zeit der Differenzierung, in der sich die Sichtweisen nuancierten. Die dritte Periode zeichnet sich aus durch Introspektion, vermischt mit dem Gefühl der Entzauberung.

Die erste Phase dauerte ungefähr von 1989 bis 1995. Sie wurde inspiriert durch den erstaunlich schnellen Zusammenbruch der kommunistischen Systeme. Was als ein mutiger Versuch der Reformen daherkam, verkörpert durch Michail Gorbatschows Politik der Glasnost und Perestroika, stellte sich als eine Sturmflut der Veränderung heraus. Innerhalb weniger Jahre war der sowjetische Partei-Staat demontiert. Die durch Moskau unterstützten Marionetten-Regierungen in Ost- und Zentraleuropa wurden durch reformistische und demokratisch gewählte Parlamente ersetzt, bei denen frühere Dissidenten an der Spitze standen. Die deutsche Wiedervereinigung symbolisierte vielleicht mehr als alles andere das Ende der ideologischen und strategischen Stellung der Sowjetunion in der Politik der Nachkriegszeit.

All dies geschah fast ohne die Anwendung von Gewalt (von den Entwicklungen in Rumänien und Jugoslawien einmal abgesehen). Die kommunistischen Regime gaben die Macht ab, manchmal sogar mit einem Moment der Eleganz und förderten so den Glauben, dass sich eine welthistorische Entwicklung vollzog: der Anbruch des Siegeszugs der Demokratie und des freien Marktes. Francis Fukuyamas Rede vom Ende der Geschichte verlieh diesem beinah messianischen Glauben Ausdruck. Er lieferte eine intellektuelle, quasi-hegelianische Rechtfertigung für eine deterministische Sicht auf den Gang der Ereignisse. Gleichzeitig erhoben sich weniger anspruchsvolle Stimmen unter PolitikerInnen, AkademikerInnen und JournalistInnen, sowohl im Westen als auch in den Staaten des ehemaligen Ostblocks, die von einem universellen Fortschreiten der Demokratie sprachen. Ihnen gemeinsam war der Glaube, dass mit dem Ende des Kommunismus jedes »befreite« Land sich in Richtung einer Demokratie nach westlichem Vorbild entwickeln würde, mit einem Mehrparteiensystem, freien Wahlen, einer freien Presse und einer kapitalistischen Marktwirtschaft. Sie gingen davon aus, dass es zwar Höhen und Tiefen geben würde und dass sich die Länder in unterschiedlichen Geschwindigkeiten entwickeln werden, dass am Ende aber dasselbe Ergebnis stünde. Am Resultat gab es kaum einen Zweifel.

Bestimmte Ereignisse stützten diesen Glauben anfangs: Wahlen brachten Politiker an die Macht, die sich zur westlichen Demokratie bekannten. Weitreichende Reformen privatisierten auf verschiedene Art und Weise die staatliche Wirtschaft. Kaum jemand beachtete allerdings die Schwierigkeiten, die noch kommen sollten.

Grundsätzliche Unterschiede zwischen der Entwicklung in der Sowjetunion und Ländern wie Polen, Ungarn oder der Tschechoslowakei wurden meist ignoriert. Es ist offensichtlich, dass die schiere Möglichkeit einer Demokratisierung in den letztgenannten Ländern davon abhing, was in Moskau geschah. Trotzdem gab es lokale Dissidenzbewegungen, die sich für Veränderungen von unten einsetzten und die öffentliche Meinung mobilisiert hatten. So entstand eine politische Gegenkultur, die schließlich sogar triumphierte: Solidarno?? in Polen, das Demokratische Forum und die SDS Liberalen in Ungarn, die Charta 77 und die Öffentlichkeit gegen Gewalt in der Tschechoslowakei. Diese Entwicklungen erinnerten an 1956 oder 1968. Viele der Leitfiguren dieser Bewegungen waren vorher verfolgt worden oder saßen im Gefängnis. Jetzt verhandelten sie den Ausgang aus dem Kommunismus. In der Sowjetunion lagen die Dinge anders. Obwohl Gorbatschows Reformpläne zumindest teilweise durch Dissidenten wie Andrei Sakharov inspiriert wurden, vollzog sich die Veränderung von oben, aus dem Inneren der Kommunistischen Partei. Obwohl am Ende ein noch radikalerer Reformer wie Boris Jelzin über den vorsichtigen Gorbatschow triumphierte, waren es meist die früheren Apparatschiks, die an die Macht kamen. Die Sowjetunion hatte keinen Lech Walesa oder Vaclav Havel. Keine früheren Dissidenten oder politischen Gefangenen wurden Minister oder Präsident, ganz im Gegensatz zu Warschau, Budapest oder Prag. Stattdessen gab es einen innerparteilichen Schwenk im Kreml, die »Reformer« siegten über die »Hardliner«. In den Ländern des Baltikums und zu einem gewissen Teil auch in Georgien verlief es anders, vor allem weil dort Dissidenten an die Macht kamen. In Moskau gab es lediglich einen Kader an Bürokraten, die die Reformen überwachten.

Fehlende Vielfalt

Die triumphalistische Stimmung des Postkommunismus glich manchmal der Walpurgisnacht, in der alle Katzen grau sind. BeobachterInnen übersahen meist, wie unterschiedlich die postkommunistischen Allianzen waren. Antikommunismus hieß noch lange nicht, demokratisch zu sein. Nach 1989 bestanden die Lager aus Demokraten, Liberalen, Sozialdemokraten und Konservativen, Nationalisten und religiösen Fundamentalisten, sowie anti-russischen Chauvinisten, und ja, Semi-Faschisten und Antisemiten, die irgendwie versuchten, für ihre (erbärmliche) Vergangenheit zu büßen, indem sie als freiheitsliebende Menschen posierten. Wenige hätten damals gedacht, dass Alexander Solschenizyn, überzeugter Antikommunist, auch ein russischer Chauvinist der alten Schule war. Schließlich wurde klar, dass die meisten Länder in Mittel- und Osteuropa ihre eigenen Solschenizyns hatten.

Der Antikommunismus war auch mit starken anti-russischen Ressentiments verbunden, wenn er davon nicht sogar dominiert wurde. Die Popularität der Solidarno??-Bewegung leitete sich zum Teil von einem tief verwurzelten anti-russischen Nationalismus, in Allianz mit römischem Katholizismus, ab. Das war einer der Gründe für die enorme Resonanz in der polnischen Gesellschaft. Ähnliche Gefühlslagen, wenn auch weniger radikal und in anderen Schattierungen, gab es in Ungarn und der Tschechoslowakei sowie in den Republiken des Baltikums (besonders in Litauen und Estland) und in Georgien. Der Enthusiasmus bezüglich der schnellen Einführung der Marktwirtschaft verdeckte die enormen Auswirkungen, die die Reformen auf bestimmte gesellschaftliche Schichten haben würden. Diese litten unter dem Verlust der Sicherheitsnetze aus der Zeit des Kommunismus: die RentnerInnen, die ArbeiterInnen in den Fabriken, die Industrien sowjetischen Stils, die BewohnerInnen der Provinz. Nicht jeder war ein Gewinner im postkommunistischen Paradies.

Schließlich verstellte die triumphalistische Atmosphäre kurz nach 1989 den Blick auf die Tatsache, dass es für die Demokratie keine Abkürzungen gibt. Sie entsteht weder über Nacht noch automatisch, und es reicht keineswegs, eine Elite zu haben, die sich zu Demokratie und Markt bekennt. Auch in Ländern wie England oder Frankreich dauerte dieser Prozess Jahrhunderte und selbst die USA brauchten erst einen Bürgerkrieg, um die Sklaverei abzuschaffen und ein weiteres Jahrhundert, um die schwarze Bevölkerung völlig zu emanzipieren. Die politische Geschichte Deutschlands, Italiens und Spaniens zeigt, wie komplex, qualvoll und manchmal mörderisch eine Entwicklung hin zur Demokratie sein kann.

Eine neue Phase

Als sich der Staub über den sowjetischen Trümmern legte, wurde klar, dass es zu sehr unterschiedlichen Entwicklungen gekommen war. Trotz ähnlicher Ausgangsbedingungen (einer parteistaatlichen Diktatur mit einer Kommandowirtschaft) zeigten die Länder bald beträchtliche Differenzen. Hier war für die BeobachterInnen ein Blick für Nuancen vonnöten. Es stellten sich (mit Variationen) zwei grundsätzliche Typen heraus. Polen, Ungarn und Tschechien entwickelten robuste Mehrparteiensysteme und transformierten erfolgreich ihre Wirtschaft. Russland hingegen hatte ernste Probleme mit dem politischen und wirtschaftlichen Wandel. Boris Jelzin demontierte zwar das sowjetische System, aber was dabei herauskam, ähnelte eher der Anarchie. Die Macht des Staates schien sich in quasi-feudale regionale Herrschaften aufgelöst zu haben, denen eine inkompetente Zentralregierung vorstand. Die Privatisierung war wild und korrupt und brachte oligarchische Räuberbarone an die Macht, die sich und ihre Kollegen mit dem Segen des Kremls an die Spitze der russischen Wirtschaft setzten. Auch die Ukraine versank in einem Morast aus Korruption. Rumänien und Bulgarien schwebten irgendwo zwischendrin. Die baltischen Staaten näherten sich langsam dem Modell derjenigen Länder an, die sich 1991 in Visegrád zur Kooperation entschlossen hatten. Keines der Länder der früheren zentralasiatischen Sowjetunion zeigte Anzeichen einer tatsächlichen Demokratisierung und auch in den drei transkaukasischen Republiken sah das Bild gemischt aus. Jugoslawien versank in nationalistischen Kriegen, bei denen vorkommunistische ethnische Feindschaften wiederbelebt wurden. 

Zu diesem Zeitpunkt schienen historische Erbschaften den postkommunistischen Veränderungen Kohärenz zu verleihen. Die ost- und zentraleuropäischen Länder wurden nach dem 2. Weltkrieg in das sowjetische Modell gezwungen, doch es gab jeweils verschiedene Traditionen, die nicht so einfach verschwanden. In den Achtzigern wurde klar, dass die Situation nach dem Kommunismus von der Entwicklung der Zivilgesellschaft, des Pluralismus, unabhängiger Institutionen, der Marktwirtschaft und Toleranz zu vorkommunistischen Zeiten abhing. Die Frage war, ob es eine, symbolisch oder institutionell, »verwendbare« Vergangenheit gab. Zu diesem Zeitpunkt stellte die Geschichte von Ländern wie Polen, Ungarn und Tschechien vor 1939 einen entscheidenden Schlüssel für das Verständnis ihrer Entwicklung nach 1989 zur Verfügung. Die Tschechoslowakei beispielsweise war vor dem 2. Weltkrieg, und für kurze Zeit danach, eine demokratische, säkulare Republik. Es gab ein aktives Mehrparteiensystem, ein parlamentarisches Leben, eine freie Presse, religiöse Toleranz und eine Jahrhunderte alte Tradition repräsentativer Institutionen, die zwar anfänglich zum Teil feudalen Charakters waren, aber stark verbunden mit lokaler Autonomie und akademischer Freiheit. Ebenso existierte eine entwickelte Marktwirtschaft.

Die Geschichte Polens und Ungarns war um einiges komplizierter. Beide hatten über Jahrhunderte hinweg repräsentative Systeme. Sie waren zwar keine Demokratien, aber sie schufen Traditionen für Wahlen, Repräsentanz und eingeschränkter Regierung. Auch wenn Polen und Ungarn vor dem 2. Weltkrieg im Wesentlichen autoritäre Staaten waren, überlebten Spuren des parlamentarischen Lebens. Obwohl der Grad der Industrialisierung Polens und Ungarns nicht dem der Tschechoslowakei entsprach, durchliefen sie einen signifikanten Prozess der Modernisierung und besaßen eine unabhängige, politisch organisierte Landbevölkerung und konnten mit den akademischen Traditionen im Westen locker mithalten. Trotz offensichtlicher Differenzen zwischen den drei Ländern konnten sie nach dem Kommunismus beanspruchen, alte Institutionen und Traditionen »wieder zu beleben«. Es gab sogar noch einige Politikveteranen, die den Nationalsozialismus und den Kommunismus überlebt hatten. Kurz gesagt gab es historische Modelle, auf denen das postkommunistische Gebilde gebaut werden konnte, manchmal mit übertriebenem Stolz. Im Falle Polens half die relative Autonomie der Kirche zu Zeiten des Kommunismus die Infrastruktur der Zivilgesellschaft aufzubauen. Ein anderer Faktor waren die Nachwirkungen von 1956 und 1968. Nachdem die Rebellionen brutal niedergeschlagen wurden, entspannte sich die Politik, sie ließ bestimmte Freiräume zu, sowohl wirtschaftlich als auch intellektuell.

Genau diese Elemente fehlten in Russland. Vor der bolschewistischen Revolution 1917 gab es kaum Elemente einer Zivilgesellschaft. Darin lag ein Grund, warum der Versuch, eine liberale konstitutionelle Regierung zwischen Februar (der Entmachtung des Zaren) und Oktober 1917 zu errichten, scheiterte. Russland vor 1917 war eine Agrargesellschaft und noch nicht von der langen Geschichte der Knechtschaft emanzipiert. Gewählte Institutionen gab es nicht (Versuche, diese zu einzusetzen, endeten 1905 in Repressionen). Das Land wurde von oben regiert – bürokratisch, autokratisch und hierarchisch; religiöse und nationale Minderheiten sahen sich ständiger Unterdrückung gegenüber; die Universitäten waren unter strenger Kontrolle des Staates.

Der sowjetische Kommunismus – weit entfernt vom emanzipatorischen Geist des Marxismus (der in der Tradition der Aufklärung stand) – war in gewisser Weise nur eine weitere Schicht der Unterdrückung für eine sklavische Gesellschaft. Trotz einiger mutiger Dissidenten begannen die Reformen in der Sowjetunion, wie gesagt, von oben. Während die Polen, Ungarn und Tschechen zurückschauten und versuchten, eine reale (oder vorgestellte) vorkommunistische Tradition wieder zu beleben, war dies den Russen versagt. Selbst das mit Peter dem Großen verbundene Modernisierungsmodell war autoritär.

Als das System zusammenbrach, fand sich Russland in einem Vakuum wieder. Vermittelnde Institutionen der Zivilgesellschaft gab es nicht. Ja, einzelne Personen in Moskau und St. Petersburg konnten über das neue Russland sprechen, über John Locke und die Federalist Papers oder die Schriften von Alexander Herzen und Wissarion Gregorjewitsch Belinski. Aber es gab keine Institutionen oder eine in der Bevölkerung verwurzelte Erinnerung, die das hätte legitimieren können. Aus den Wahlen gingen keine echten politischen Parteien hervor, sondern lediglich Listen gruppiert um einzelne Persönlichkeiten. Die einzige Ausnahme war die unveränderte Kommunistische Partei, die viele Mitglieder behalten konnte.

Und dann kam Putin

Und dann erschien Wladimir Putin auf der politischen Bühne, um Russland aus dem Chaos und der Massenarmut der Jelzin-Ära zu befreien. Putin reinstallierte eine zentrale Autorität, setzte regionale Führungskräfte ein, stoppte die Diebstähle der ökonomischen Oligarchen, verwandelte die Duma von einem korrupten Debattierklub in einen Arm der Exekutive und er benutzte verschiedene repressive Maßnahmen, die manchmal an die zaristische und sowjetische Zeit erinnerten (Limitierung der Pressefreiheit zum Beispiel). Der steigende Ölpreis half ihm, Russlands Stellung in der internationalen Arena wieder herzustellen. Sein »Autoritarismus mit menschlichem Antlitz« erfuhr große Unterstützung durch die Bevölkerung, besonders weil »Demokratie« mit den Fehlschlägen von Jelzins Herrschaft gleichgesetzt wurde. 

Putins Vergangenheit beim KGB sollte nicht falsch verstanden werden. Es gab ein Machtvakuum, als der Sowjetstaat in sich zusammenbrach und die Kommunistische Partei demontiert wurde. Dass Putin ehemalige KGB-Leute in zentrale Positionen brachte, folgte einer inneren Logik. Zu Sowjetzeiten war die Bürokratie des Staates schwach im Vergleich zu der der Partei. Nur der KGB, gemeinsam mit der symbolischen Erinnerung an Peter den Großen, erschien mehr oder weniger intakt. Die quasi-konstitutionelle Farce, mit der Putin nach außen hin das zwei Legislaturperioden dauernde Verbot der Regierungstätigkeit einhält, und trotzdem seinen Nachfolger benennt und weiter Premierminister bleibt – und all das ohne effektiven inneren Widerspruch oder Opposition – zeigt, wie hartnäckig die historischen Traditionen der autokratischen Herrschaft sind. Die Ukraine hingegen hatte keine kohärente Staatstradition, vielmehr besteht ihre Tradition aus voluntaristischen, wenn nicht sogar anarchischen Elementen in der Tradition der Kosaken. Das ist ein Grund, warum es unwahrscheinlich ist, dass sich ein zentralisiertes, neo-autoritäres Regime im Stile Putins in der Ukraine entwickelt. Einige mögen diese Deutung als zu historizistisch kritisieren. Doch wenn man diese Tradition übersieht, hat man keine Erklärung für die so unterschiedlichen Entwicklungen in Russland und der Ukraine, trotz einer gemeinsamen Vergangenheit und der Aussicht, dass weder das eine noch das andere Land die Demokratie konsolidieren wird.

Wiederkünfte

Um nationalistische Bewegungen anzugehen, vertrat die Sowjetunion eine universalistische Ideologie und einen politischen Zentralismus. Mit ihrem Niedergang kehrten die alten Nationalismen zurück, auch wenn sie durch den Kommunismus erfolgreich unterdrückt oder »aufgehoben« schienen. Natürlich war das irreführend, was sich am extremsten im ehemaligen Jugoslawien zeigte, wo die einigermaßen liberale und multiethnische Struktur des Tito-Regimes die Traditionen vor 1939 nicht zum Verstummen bringen konnte. Aber es ist ein Fehler, die Wiederkehr eines wilden Nationalismus lediglich populistischen Manipulationen demagogischer Führer wie Serbiens Slobodan Miloševic oder Kroatiens Franjo Tudjman anzulasten. Für diese Nationalismen musste es eine Infrastruktur geben, tief verwurzelt in den Köpfen der Menschen, damit auf diese zurückgegriffen werden konnten. Manchmal manipulierte Tito serbische, kroatische oder albanische Nationalismen und zeitweise unterdrückte er sie, allerdings immer mit Vorsicht. Nach seinem Tod kehrten sie zurück, und zwar ganz authentisch und brutal. Die »samtene« Trennung von Tschechen und Slowaken offenbarte ebenso Kräfte aus vorkommunistischer Zeit, wenn auch auf einem friedlicheren Terrain. Ein liberaler Universalismus ist manchmal nicht stark genug, um dieser nationalen Erinnerung zu widerstehen.

Backlash?

Womit wir bei der Gegenwart angelangt wären, der dritten Phase. Zunächst deutete alles auf einen Rückfall in Sachen Demokratisierung und Liberalisierung in den Ländern hin, die eigentlich als Erfolgsmodell galten. In Polen und Ungarn traten umtriebige populistisch-nationalistische Parteien auf den Plan. Manchmal gewinnen sie Wahlen und bilden Regierungen, manchmal (so wie heute) sind sie in der Opposition. Sie ziehen ihre Stärke aus tief-verwurzelten Ressentiments in Teilen der Bevölkerung. Der kurzzeitige Aufstieg der Kaczynski-Brüder in Polen und die gewalttätigen Massendemonstrationen in Ungarn während des 50. Jahrestages der Revolte von 1956 sprechen für diesen Backlash. Die Stimmung war geprägt von tiefer Enttäuschung und Desillusionierung. PolitikerInnen und akademische BeobachterInnen fragten sich bereits, ob das Post-1989-Experiment im Scheitern begriffen war.

Obwohl die Umstände in Polen anders sind als in Ungarn, gibt es auch offensichtliche Parallelen, die auf mehr verweisen als Wahlrückstände von Parteien, die mit der Demokratisierung assoziiert werden. In beiden Fällen gab es einen populistischen Aufschrei gegen die Auswirkungen der ökonomischen Liberalisierung. Begleitet wurde er von Anti-EU-Stimmen, die einen altmodischen Nationalismus imitierten und einer Xenophobie, nicht selten auch mit Antisemitismus und anderen Vorurteilen (bspw. gegen die Roma) Hand in Hand gingen. Historische Feindschaften wurden wiederbelebt, vor allem in Polen. In Ungarn wurden irredentistische, d.h. gegen die Festlegung der Grenzen Ungarns im Vertrag von Trianon 1919 gerichtete Slogans wieder aufgewärmt. Statt des seelenlosen Kapitalismus, nicht selten identifiziert mit »Kräften aus dem Ausland«, pries man die Bauernschaft. Manchmal wurde die Religion als Bastion gegen das unmoralische ökonomische System in Stellung gebracht. In Polen nutzte man die Diskussion um Abtreibung zur Agitation gegen Atheismus. »Säkularisierung« wurde zum erklärten Feind und eine üble (und offensichtlich falsche) Verbindung wurde zwischen den neuen Demokraten und alten Kommunisten hergestellt. Es waren hauptsächlich Verlierer der postkommunistischen Entwicklungen in Politik und Wirtschaft, die sich in diesen populistisch-nationalistischen Stimmungen wiederfanden. Ein Vergleich mit dem Faschismus ist vielleicht weit hergeholt, doch die Wiederkehr solcher Ansichten sowie die gesellschaftliche Zusammensetzung der aktiven Kräfte weckt unheilvolle Erinnerungen. Und dennoch: Die Unzufriedenheit der »Verlierer« allein erklärt noch nicht den Sachverhalt, vor allem nicht die Ressentiments der PiS-geführten Regierung der Kaczynski-Brüder gegen Deutschland und Russland, die mit ökonomischen oder gesellschaftlichen Problemen nichts zu tun hatten. Genauso wenig macht es Sinn, ausschließlich von zynischen Politikern zu sprechen, die den aufgestauten Ärger zynisch instrumentalisieren.

Viele Ideen, die heute von der PiS vertreten werden, haben ihren Ursprung bei der alten Nationaldemokratischen Partei (Endecija) von Roman Dmowski. Sie amalgamierte polnischen Nationalismus mit Katholizismus, Antikapitalismus sowie antideutschen und antirussischen Ansichten. Der Antisemitismus der Endecija war in gewisser Weise durch den Holocaust und aufgrund praktischer Überlegungen stillgestellt (die PiS ist pro-amerikanisch orientiert). Doch Antisemitismus ist auf jeden Fall präsent, bspw. bei Radio Marija. Sofort nach den Ereignissen von 1989 schien es, als könnten die antikommunistischen Bündnisse das problematische Erbe überwinden und einen offeneren und ›normaleren‹ politischen Diskurs etablieren. Doch jetzt kehren viele dieser Kräfte der alten Schule zurück, in einigen Fällen sogar mit Verbindungen zu Eliten, Parteien und Ideologien von vor 1939. Heute ähnelt die politische Landkarte Polens in vielerlei Hinsicht der Vorkriegssituation, inklusive der schwachen Koalitionsregierung, die auf zerbrechlichen Allianzen gebaut wurde, um Rechts-Links-Trennungen zu überwinden. In der Zwischenkriegszeit führte das zum Kollaps des parlamentarischen Systems und zum Aufstieg der semi-autoritären Herrschaft Józef Pilsudskis.

Auch Ungarns derzeitige Spaltungen lassen sich als eine Fortsetzung historischer Auseinandersetzungen zwischen Urbanisten und Populisten verstehen. Obwohl die Forderung nach einer Revision des Abkommens von Trianon (in dem Ungarns Grenzen nach 1918 festgelegt wurden) natürlich gefährlich wäre, sind die anti-urbanistischen Stimmen zu den ungarischen Minderheiten in der Slowakei und Rumänien doch laut und deutlich zu vernehmen. Die Existenz einer relativ großen jüdischen Bevölkerung in Budapest und die prominente Rolle von Liberalen mit jüdischer Herkunft sind das bevorzugte Ziel der antisemitischen Rechten, anders als in Polen, wo es nach dem Holocaust eigentlich keine Juden mehr gibt.

Geschichte, Schicksal, Hoffnung 

Kurz gesagt: Nachdem der Kommunismus und die Bedrohung einer Intervention Moskaus verschwunden waren, zerfielen die Koalitionen von 1989, und alte populistisch-nationalistische Kräfte kehrten zurück. Nur in Prag war das nicht der Fall, wo es vor 1938 die einzige wirklich funktionierende Demokratie der Region gab (sie war weit davon entfernt, perfekt zu sein, aber sie verfiel nicht in ein autoritäres Regime, wie in den Nachbarländern).

Diese Elemente der Kontinuität in Ost- und Zentraleuropa scheinen auf den ersten Blick ein Anlass zur Entmutigung und Depression zu sein: »Die Geschichte ist das Schicksal«. Doch es gibt Grund zu hoffen. Zunächst, weil wir das Jahr 2009 schreiben und nicht 1939. Zwar gibt es auch heute Krisen, aber nicht in der Art, wie sie in Deutschland und Italien den Faschismus an die Macht gebracht haben. Russland leidet nicht an einer stalinistischen Diktatur. Autoritäre und totalitäre Stimmen waren in den kleineren Ländern auf dem Vormarsch in den 1930er Jahren, vom Baltischen Meer bis zum Schwarzen Meer. Die Demokratie schien bankrott und wurde sogar in Frankreich und Großbritannien in Frage gestellt. Heute bleiben demokratische Ideen jedoch dominant. Das Experiment der Kaczynskis scheint zu scheitern, hauptsächlich, weil viele junge Polen realisiert zu haben scheinen, dass die Stabilität des Landes auf dem Spiel steht.

Als entscheidend erwies sich die Rolle der Europäischen Union. Zwar ist es richtig, dass die postkommunistischen Länder, die der EU (und der NATO) beigetreten sind, nicht alle Zugangsvoraussetzungen erfüllen konnten. Dennoch war die Mitgliedschaft eine implizite Garantie für den Schutz vor russischen neo-imperialen Übergriffen; aber auch eine Art Versicherung gegen den Rückfall in den Semi-Autoritarismus von vor 1939. Auch wenn Stimmen gegen die EU sowohl im Mainstream Polens als auch Ungarns zu hören sind, zwingt die EU-Mitgliedschaft die Länder in das System von Demokratie, Liberalismus und Marktwirtschaft. Für Russland oder die Ukraine sieht das anders aus. Ost- und Mitteleuropa wird voraussichtlich weiter zweierlei Wege gehen: Konsolidierung der Demokratie in den Ländern des Visegrád, teils gestützt durch ihre zivilgesellschaftlichen Traditionen und frühere repräsentative Institutionen, trotz der Rückschläge und wütenden inneren Diskussionen. In Russland und der Ukraine fehlen diese Elemente, weswegen die Entwicklung einen anderen Verlauf nehmen wird. In Rumänien und Bulgarien sowie in Georgien haben sich die Dinge noch nicht entschieden.

Historische Verläufe bestimmen nicht das Schicksal. Aber sie verschwinden auch nicht einfach, und es braucht starke Gegenkräfte, um mit ihnen fertig zu werden. Nur so kommt es zu einem fundamentalen Wandel. Ohne diese Kräfte erscheint die Zukunft nur als eine Variation der Vergangenheit.

Von Shlomo Avineri. Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft an der Hebrew University Jerusalem.