Liberté, égalité—impossibilité

Über die Haitianische Revolution, Marx, Voodoo und die Geschichte der Emanzipation.

Als gegen Ende September 1791 in Paris erste Berichte über einen SklavInnenaufstand in Saint-Domingue eintrafen, hielten diese nur die wenig-sten für wahr. Einige dachten an eine Falschmeldung. Andere—je nach politischer Couleur—nahmen an, dass die Nachrichten aus Übersee der Winkelzug einer aristokratischen Verschwörung seien, welche die Revolution in Frankreich hintertreiben wolle. Wieder andere sahen darin die Bestätigung eines republikanischen Komplotts, der Frankreich um die hochprofitable Kolonie bringen wolle. Eine SklavInnenrevolte, noch dazu ein Aufstand, der sich nicht auf eine Plantage beschränkte, sondern in dem sich bereits zehntausende SklavInnen selbst befreit haben sollten, erschien den europäischen ZeitgenossInnen als ein Ding der Unmöglichkeit und ein schlechthin undenk-

bares Ereignis.

Solcher Argwohn mag aus heutiger Sicht überraschen, zumal man sich in Paris gerade aus den Fesseln des Absolutismus gelöst hatte und die Prinzipien der Bürger- und Menschenrechte als Grundlage für den Beginn einer neuen Epoche feierte. Nicht mehr überlieferte Tradition und aristokratische Vorrechte sollten die Geschicke des Landes lenken, sondern Aufklärung und Vernunft sollten von nun an die Grundlage der Regierungskunst bilden. »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« war die Parole des neuen Zeitalters. Allerdings blieb das Prinzip der Gleichheit an Eigentum, Geschlecht und ethnische Abstammung gebunden und insofern beschränkt. Eine Gleichheit, die Frauen, Schwarze und Besitzlose einschließen würde, lag außerhalb des Gedankens der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. In deren Text wurde eine Idee von Emanzipation formuliert, in welcher der männliche, besitzende citoyen politische Macht erlangen sollte.

Die Frage der Sklaverei in den Kolonien als Manifestation eklatanter Ungleichheit wurde—wenn überhaupt—nur von Wenigen aufgebracht und selbst die fortschrittlichsten Revolutionäre dachten eine Befreiung der SklavInnen allenfalls als patriarchalischen Akt und menschenfreundliche Geste der europäischen Metropole gegenüber den »Unzivilisierten« in Übersee. Achille Mbembe fasst demzufolge den geistigen Stand der meisten europäischen ZeitgenossInnen wie folgend zusammen: »In dieser Phase wird der Neger als Prototyp einer vormenschlichen Gestalt dargestellt, die unfähig ist, sich von ihrer Animalität zu befreien, sich selbst hervorzubringen und sich auf die Höhe ihres Gottes zu erheben.«Achille Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin 2014, 41.

Umso bemerkenswerter erscheint die Haitianische Revolution als das herausragende Ereignis, in dem Menschen afrikanischer Abstammung das erste Mal den »Status von vollwertigen Subjekten der Menschenwelt einfordern.«Ebd. 14 Dieser Aufsatz soll einen ersten Eindruck davon vermitteln, welcher Begriff von Emanzipation sich in dieser kolonialen Revolution äußerte.

Er skizziert die Mechanismen der Herrschaft in der SklavInnengesellschaft auf Saint-Domingue (dem heutigen Haiti), auf welche die SklavInnen mit einem radikalen und entschiedenen Freiheitskampf antworteten und versucht einen Eindruck zu geben, inwiefern die synkretistische Religion des Voodoo, überliefert aus den afrikanischen Herkunftsländern der SklavInnen, eine Grundbedingung der Solidarisierung darstellte. Anhand der Unabhängigkeitserklärung von 1804 soll aufgezeigt werden, wie sich die haitianische Emanzipation artikulierte und eine Perspektive für die Geschichte und den Begriff der Emanzipation von heute eröffnet werden.

Schwarzes Kapital

Die beiden profitabelsten »Waren« des 18. Jahrhunderts waren Menschen und der Zucker, den diese Menschen produzierten. Gehandelt wurden diese »Waren« im so genannten atlantischen Dreieckshandel. Hauptsächlich europäische Kaufleute kauften an den westafrikanischen Küsten Gefangene und verschifften sie nach Übersee. Dort produzierten jene Verschleppten als Versklavte auf den Plantagen in der Karibik Zucker, Kaffee und Rum für den europäischen Markt und brachten ebenjenen europäischen Kaufleuten nie dagewesene Profite ein.

Die SklavInnen hatten für das Unternehmen SklavInnenhandel und -arbeit eine doppelte Funktion. Zum einen waren ihre Körper selbst Kapital. Für die im 17. Jahrhundert in Europa entstehenden Finanzsysteme bildeten sie die Kreditgrundlage und damit ihre »verborgene« Basis. Andererseits blieben die SklavInnen nicht nur Kapital, sondern schufen durch ihre Arbeitskraft selbst Wert, der wiederum von den PlantagenbesitzerInnen als Mehrwert vereinnahmt und als Kapital reinvestiert wurde.Vgl. zu diesem Absatz u.a.: Michael Zeuske, Versklavte und Sklavereien in Spanisch-Amerika. Gedanken zur »Weltarbeiterklasse« in globaler Perspektive, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung (2014), http://www.arbeiterbewegung-jahrbuch.de/wp-content/uploads/2015/05/Zeuske_2014_1.pdf

PlantagenbesitzerInnen waren meist europäische Kaufleute und Bankiers, die selbst nicht in den Kolonien lebten. Während in der Metropole noch das absolutistische Ständesystem herrschte, hatten sich auf und jenseits des Atlantiks (prä-)kapitalistische Produktionsformen herausgebildet. Der transatlantische Komplex von SklavInnenhandel, SklavInnenarbeit und kolonialer Produktion bildete so eine wichtige Grundlage des Reichtums und der Transformationen europäischer Gesellschaften im 17. und 18. Jahrhundert, die den Kapitalismus auf den Weg brachten.Anekdote über die Zuckersucht des Adam Smith bei Susan Buck-Morss, Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte, Frankfurt a. M. 2011, 118.

Einer der frühen und bedeutendsten Apologeten dieser Wirtschaftsform war Adam Smith. Als Grundlage des gesellschaftlichen Wohlstands betrachtete er in erster Linie die freie Verfügbarkeit des Unternehmers über seine Waren, insbesondere über diejenige, welche die Grundlage eines jeden gesellschaftlichen Reichtums in der kapitalistischen Produktionsweise ist: die Arbeitskraft. Die SklavInnen in der Epoche der Frühen Neuzeit bildeten das entmenschlichte Beispiel für die grenzenlose Verfügbarkeit, Nutzung und Verausgabung menschlicher Arbeitskraft. Gleichzeitig bildeten sie ein wesentliches Momentum der »sogenannten ursprünglichen Akkumulation«: »Die Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke, die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute [sic!], bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära.«Karl Marx/Friedrich Engels, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, (Marx-Engels-Werke) MEW 23, 779.

Auf den karibischen Inseln (i.e. Westindien) fanden die europäischen Kaufleute fruchtbares Land und ideale klimatische Bedingungen, um dort Luxusgüter wie Kaffee und vor allem Zucker anzubauen. Zunächst wurde versucht, die indigene Bevölkerung zur Arbeit auf den Plantagen zu zwingen. Das Volk der ArawakInnen, welches auf der Insel Hispaniola—dessen westlicher Teil heute Haiti ist—lebte, starb jedoch bereits Mitte des 16. Jahrhunderts auf Grund aus Europa eingeschleppten Krankheiten und der rücksichtslosen Niederschlagung von Widerstand aus. Bei der Landung von Kolumbus am Weihnachtstag des Jahres 1492 lebten vermutlich 200.000 Menschen auf der Insel Hispaniola. Etwa 50 Jahre später war die indigene Bevölkerung so gut wie ausgestorben. Da es trotz erheblicher Versuche nicht gelang, EuropäerInnen zur Arbeit auf den Plantagen zu zwingen, kauften SklavInnenhändler zwischen 1503 und 1806 ungefähr 12,5 Millionen Menschen afrikanischer Abstammung, um sie auf den Plantagen gefangen zu halten und zur Verausgabung ihrer Arbeitskraft zu zwingen.Die meisten Verschleppten kamen aus den Regionen der west-afrikanischen Küste, die heute zwischen der Elfenbeinküste und Angola liegen. Eine umfangreiche Dokumentation des transatlantischen Sklavenhandels findet sich auf www.slavevoyages.org Allein zwei Millionen Menschen überlebten die transatlantische Überfahrt nicht. Das Verbot des SklavInnenhandels durch das British Empire erfolgte 1807—was aber nicht das Ende des transatlantischen SklavInnenhandels bedeutete.

In der Karibik eingetroffen, wurden die Verschleppten gebrandmarkt und an die Pflanzer der Kolonien verkauft. Die aus Afrika stammenden versklavten Frauen und Männer wurden in diesem System nicht als menschliche Subjekte betrachtet. Sie galten als Waren, deren Nutzen sich nach ca. drei Jahren aufgebraucht hatte. SklavInnen waren Arbeitskraft und bedeuteten zugleich »Schwarzes Kapital« als verfügbare Ressource und Produktionsfaktor. Der Begriff beschreibt auch den in dieser Epoche des Kolonialismus unmittelbar auftretenden Zusammenhang von Rassismus und Kapitalakkumulation. Rassistische Entmenschlichung und rücksichtslose Verfügbarkeit von Arbeitskraft gehen miteinander einher. Seitdem werden dunkelhäutige Menschen in einem gesamtgesellschaftlichen Bewusstsein mit unskilled labour verbunden.Vgl. ausführlicher dazu: Dennis Schnittler, Der ewige Neger. Grundlagen einer materialistischen und historischen Kritik am Rassismus am Beispiel der bis heute andauernden Feindschaft gegen dunkelhäutige Menschen, in: Vojin Saša Vukadinović (Hrsg.), Freiheit ist keine Metapher, Berlin 2018, 49-79.

In den Kolonien wurde in der Regel die gesamte Reproduktion und Produktion des gesellschaftlichen Reichtums von Versklavten verrichtet. Ihre Arbeit bildete die materielle Grundlage für den Reichtum europäischer Kaufleute, die diesen in den Kolonien, aber auch in der Metropole investierten, um ihre ökonomische Macht auszubauen und die politische zu erlangen. So hatte mindestens ein Drittel der Männer der Französischen Nationalversammlung Geschäftsinteressen in den Kolonien, vor allem in Saint-Domingue. »Der außerhalb Europas direkt durch Plünderung, Versklavung und Raubmord erbeutete Schatz, floss ins Mutterland zurück und verwandelte sich hier in Kapital.«Marx/Engels, Das Kapital, MEW, 781. Erst ihre ökonomische Potenz verlieh der Bourgeoisie die Kraft, auch nach politischer Macht zu streben. »Liverpool wuchs groß auf der Basis des Sklavenhandels.«Ebd., 787

Im Komplex der transatlantischen Sklaverei bildeten sich wesentliche Momente der kapitalistischen Produktionsweise heraus. SklavInnen sind eine Ware, deren Wert in der Arbeitskraft ihres Körpers besteht, über den der Kapitalist frei verfügen kann. Bis zum Verbot des transatlantischen SklavInnenhandels kamen auf eineN nach Nord- oder Südamerika ausgewanderten EuropäerIn fünf Menschen afrikanischer Abstammung, die versklavt waren.

Während in Europa Lehenswesen und Grundherrschaft das politisch-ökonomische System bestimmte, arbeiteten auf den Plantagen in der Karibik das erste Mal in der Geschichte größere Gruppen von Menschen zur selben Zeit am selben Ort in einer extrem gewinnorientierten Produktionsweise. Dieses Moment »bildet historisch und begrifflich den Ausgangspunkt der kapitalistischen Produktion.«Ebd., 341 Auf den Zuckerpflanzungen in der Karibik liegt zum ersten Mal eine kontrollierte und getaktete Arbeitsteilung vor. Der Verarbeitungsprozess des Zuckerrohrs selbst gab zunächst diesen Takt vor, da die geschnittenen Pflanzen schnell verwertet werden mussten. Die Aufseher der Plantagen entwickelten dabei einen immer besser aufeinander abgestimmten Produktionsprozess. So hat auch die »factory« hier ihren etymologischen Ursprung. Sie bedeutete zunächst eine auf den Handel mit dem Ausland oder den Kolonien ausgerichtete Gesellschaft. »Man kann insofern durchaus so weit gehen, die ersten Fabriken in Manchester als eine Ausdehnung des Kolonialsystems zu verstehen, das nun auch auf das Mutterland überzugreifen begann.«Buck-Morss, Hegel und Haiti, 136f.

Für das England des 19. Jahrhunderts stellte Marx fest, dass es die Manufakturen und Fabriken selbst seien, in denen der moderne, kooperierende Mensch hervorgebracht werde, der unter dem Kommando des Kapitals produziere und damit die kapitalistische Produktionsweise erst möglich mache. Diese zwinge eine gemeinsame Situation auf, und eröffne die (freilich nicht immer erkannte oder gar ergriffene) Möglichkeit zu solidarischen Beziehungen untereinander—»aus dieser instinktiven Solidarität unter den Arbeitern wuchs etwas, das später Klassenbewusstsein heißen sollte.«Robert Misik, Miteinander gegeneinander arbeiten, in: Mathias Greffrath (Hrsg.), Re: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert, München 2017, 171-186.

Ein vergleichbarer Prozess lässt sich auch für die Versklavten auf den Plantagen in der Karibik feststellen. Sie stammten aus unterschiedlichen Regionen Afrikas, erlebten katastrophale Kriege und kamen dennoch aus einigermaßen geordneten Rechts- und Herrschaftsverhältnissen,Ein Beispiel: Zu Beginn des 18. Jahrhunderts führten die Königreiche Dahomey (Gebiete des heutigen Ghana & Westnigeria) und Oyo (heutiges Zentralnigeria) einen Krieg gegeneinander, der wesentlich durch die Nachfrage europäischer Kaufleute nach SklavInnen angefacht wurde. wurden aus ihrer Heimat verschleppt und gerieten in den Kolonien in völlig entrechtete und entmenschlichte Verhältnisse. In der Kolonie wurden sie als Ware betrachtet, als solche behandelt und nicht nur physisch unterworfen. Gemeinsamer Hintergrund und die Kooperation der SklavInnenarbeit schufen damit zugleich Bedingungen zur Solidarisierung. In missionarischer Absicht wurde versucht, ihnen auch ihre kulturelle und reli-

giöse Identität zu nehmen, indem man sie zwangsweise zum christlichen Glauben bekehren wollte. Auch oder gerade weil sich die europäischen KolonistInnen den Versklavten kulturell überlegen fühlten, gelang es ihnen aber nicht, eine kulturelle Hegemonie durchzusetzen.

Voodoo

Neuere Forschung weist darauf hin, dass der aus Afrika mitgebrachte Kult des Voodoo einen spirituellen Raum bildete, in dem die vermeintliche kulturelle Dominanz des Herrenhauses neutralisiert wurde und sich zugleich eine gemeinsame Identität und Solidarität ausbilden konnte. Ohne Voodoo hätte sich vermutlich der Aufstand der SklavInnen nicht in so effektiver Weise organisieren können.

Voodoo war aber nicht nur ein Ort des Wider-standes, sondern ein kulturelles Amalgam, in dem das den SklavInnen gemeinsame Trauma der Niederlage, Versklavung, Verbannung und der Schrecken der Überfahrt verarbeitet werden konnte. Ihrer Menschlichkeit beraubt, fanden die SklavInnen hier religiösen Halt und eine gewisse Aussöhnung mit ihrem Schicksal.

Die spirituelle Praxis bildete für viele SklavInnen einen emotionalen Raum, der ihnen Identität und Zugehörigkeit vermittelte. Herkömmliche Versammlungen der Versklavten waren in den französischen Kolonien verboten, nicht aber religiöse Zusammenkünfte. So boten Voodoo-Zeremonien im Alltag der Plantagenarbeit so etwas wie ein emotionales und kulturelles Asyl, an dem zugleich der Widerstand Form annahm. Ohne von der französischen Kolonialherrschaft als Gefahr betrachtet zu werden, konnten sich hier die Versklavten eine Sphäre schaffen, die sich der weißen Kontrolle fast vollständig entzog. Auf praktischer Ebene boten Voodoo-Zeremonien dann die Gelegenheit, den Aufstand zu planen.

Voodoo gab den Betroffenen die Möglichkeit, trotz unterschiedlicher individueller Erfahrungen ein gemeinsames Narrativ zu entwickeln, das über die unmittelbare Emanzipation der Einzelnen hinauswies, aus einem SklavInnenaufstand eine erfolgreiche Revolution machte und sich in einer Leistung wie der Unabhängigkeitserklärung Haitis formulierte.

Ayiti—Land der Freiheit

Der Haitianische SklavInnenaufstand brach 1791 in der Nordprovinz von Saint-Domingue aus. Binnen weniger Tage hatten sich hier zehntausende SklavInnen selbst befreit. Sie zerstörten die Plantagen, plünderten die Vorräte und töteten in einzelnen Fällen ihre Herren, woraufhin sie sich in das hügelige Hinterland der Insel zurückzogen und eigene Siedlungen aufbauten. Von dort führte man zu Beginn auch Verhandlungen mit der französischen Kolonialverwaltung. Vereinzelte Berichte zeugen davon, dass sich die Selbstbefreiten auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte beriefen und diese für sich beanspruchten. Was wir von den Verhandlungen mit Sicherheit wissen, ist, dass die Selbstbefreiten in dieser Phase der Revolution noch keine Abschaffung der Sklaverei, sondern in erster Linie eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen forderten, unter anderem einen freien Tag in der Woche und eine Umsetzung des Verbotes der Folter. Die Franzosen zeigten sich jedoch zu keinerlei Zugeständnissen bereit, was zu einer Ausbreitung und Radikalisierung des Aufstandes führte.

Erst als die Französische Republik unter dem Eindruck der Landung britischer Truppen und einer royalistischen Verschwörung sich dazu gezwungen sah, die Selbstbefreiten als KämpferInnenAn fast allen Kampfhandlungen nahmen auch Frauen teil. Berühmteste Kämpferin der Revolution war Sanité Bélair, die unter L’Ouverture in den Rang eines Leutnants aufstieg und seit dem Jahr 2004 auf dem Zehn-Gourdes-Schein dargestellt ist. zu rekrutieren, veränderte sich die Situation grundlegend. Am 4. Februar 1794 beschloss der Konvent der Jakobiner die Abschaffung der Sklaverei in allen französischen Kolonien. In Folge genossen alle Männer (auch in den Kolonien) ohne Ansehung ihrer Hautfarbe die Rechte französischer Bürger, die nach den radikaldemokratischen Reformen der Jakobiner nicht mehr an das Zensuswahlrecht und somit nicht mehr an Besitz gebunden waren.

Als einer der mächtigsten Heerführer der Selbstbefreiten—Toussaint L‘Ouverture—von diesem Gesetz erfuhr, schloss auch er sich der Republik an. L‘Ouverture gelang es, die britischen Besatzer von der Insel zu vertreiben und im Zuge dessen seinen Einfluss in der Kolonie stetig auszubauen. Im Mai 1801 unterzeichnete er eine Verfassung, in welcher die Sklaverei in Saint-Domingue für alle Zeiten verboten wurde, die aber auch den Wiederaufbau der Plantagenwirtschaft vorsah. Außerdem erklärte er sich zum Gouverneur der Kolonie auf Lebenszeit. Diese Verfassung veranlasste Napoleon Bonaparte dazu, eine Flotte in die Karibik zu entsenden, die den Auftrag hatte, dort die Sklaverei wieder einzuführen. Den französischen Einheiten gelang es, durch eine List L‘Ouverture festzunehmen und nach Frankreich zu entführen; wo er in einem Verlies im Juragebirge im Frühjahr 1803 an einer Lungenentzündung starb. Es gelang ihnen aber nicht, entscheidend gegen die Selbstbefreiten und ihre gut vernetzten Stützpunkte vorzugehen. Im Herbst 1803 verließen die letzten französischen Einheiten Hispaniola.

Am 1. Januar 1804 unterzeichneten 37 Männer die Unabhängigkeitserklärung von Haiti. Wie ihr Oberbefehlshaber Jean-Jacques Dessalines waren die meisten von ihnen in die Sklaverei geboren worden. Etwas mehr als ein Jahr später wurde die erste Verfassung Haitis verabschiedet.

Die beiden Dokumente reflektieren die Erfahrung der Kolonisation und Unterwerfung und des 14-jährigen Freiheitskampfes der BürgerInnen von Haiti. Die Texte artikulieren die Kritik der Haitianischen Generäle und Revolutionsführer am europäischen Kolonialismus und formulieren darüber hinaus die Grundlage für die Freiheit der HaitianerInnen. Sie können demnach als die zentralen Schriften der Revolution angesehen werden, die uns ein Verständnis davon vermitteln können, wie sich Emanzipation in dieser artikulierte.

In der Unabhängigkeitserklärung wurde argumentiert, dass man nach zweihundertjähriger Unterdrückung und einem falschen Freiheitsversprechen der Franzosen keine andere Alternative sehe, als einen eigenen Staat auszurufen, der die Freiheit der BürgerInnen von Haiti gewährleisten sollte. Nach dem Putsch Napoleon Bonapartes, der auf die Wiedereinführung der Sklaverei drängte, stand für die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung fest: »Letztendlich müssen wir unabhängig leben oder sterben.« Nach den grausamen Erfahrungen der Sklaverei sollte keine BürgerIn von Haiti jemals wieder unter dieses Joch geraten und künftig selbst von den Früchten der eigenen Arbeit leben können. Die Emanzipation sollte ein für alle Mal festgeschrieben werden, für immer »solle Freiheit in diesem Land herrschen«. Diese drückt sich zuvorderst in dem Namen aus, den das zweite unabhängige Land in den Amerikas erhielt. Ayiti ist die Bezeichnung, welche die indigene

Bevölkerung der Insel Hispaniola gegeben haben soll. Mit dieser Namensänderung wollte man sich von der kolonialen Vergangenheit—auch auf semantischer Ebene—emanzipieren.

Außerdem war die Erklärung von der Angst vor konterrevolutionären Kräften geprägt. In dem Text hieß es, dass »wir [BürgerInnen Haitis] all jene, die in Frankreich geboren wurden, umbringen werden, die ihre frevelhaften Füße auf das Land der Freiheit setzen.« Diese Aussage hatte zur Folge, dass im Jahr 1804 mehrere Tausend auf der Insel verbliebenen FranzösInnen ermordet wurden. Dessalines fürchtete, dass die verbliebenen EuropäerInnen eine Verschwörung gegen Haiti organisieren würden. Aus diesem Grund strebte er an, sie von der Insel zu vertreiben. Dennoch hatten die HaitianerInnen nicht vor, ihre Revolution zu exportieren. Explizit hieß es, dass sichergestellt werden müsse, »dass ein missionarischer Eifer nicht unsere Arbeit zerstören solle; lasst unseren Nachbarn erlauben, in Frieden zu atmen.« Anders als die französischen Revolutionäre versah man seine eigenen Ideale nicht mit einem unmittelbaren universellen Sendungsbewusstsein. Doch mittelbar sollten diese umso stärker wirken.

Dessalines ließ als Verkünder der Unabhängigkeitserklärung schreiben: »Indem ich für eure Freiheit gekämpft habe, habe ich für mein eigenes Glück gearbeitet.« Die Formulierung bringt eine neue Dimension in die Geschichte der Emanzipation. Hier wird—wie später in der ersten Verfassung Haitis—der eingeschränkten zeitgenössischen Auffassung von Menschenrechten eine Dimension der Allgemeinheit verliehen, welche die Amerikanische und Französische Erklärungen nicht intendierten.Slavoj Žižek, Auf verlorenem Posten, Frankfurt a. M. 2009, 233. »Die Haitianische Revolution war eine Wiederholung der Französischen im strikten Hegelschen Sinne, wonach ein Ereignis nur durch seine Wiederholung die Dimension der Allgemeinheit erlangt.« In diesen Texten wurde zwar die Freiheit aller auf den Lippen geführt, sie blieb jedoch durch das Eigentum und das Geschlecht beschränkt. Die Haitianische Unabhängigkeitserklärung nimmt sich zwar nicht der Emanzipation der Frauen an, doch man kann in ihr einen Versuch erkennen, das Prinzip des Eigentums zum Wohle aller aufzuheben. In diesem Text gibt es keine Trennung zwischen der Emanzipation des Einzelnen und der Angelegenheiten aller. Die Emanzipation der Menschheit dient dem Glück der Einzelnen. Die/Der Einzelne wird glücklich durch die Befreiung der Anderen. Dessalines appellierte an seine Mitstreiter: »Erinnert euch, dass ich auf eure Treue und euren Mut zählte, als ich mich selbst meinem Werdegang der Freiheit hingegeben habe, um den Despotismus und die Tyrannei zu bekämpfen, die Ihr die letzten 14 Jahre bekämpft habt.« Was an dieser Stelle noch sehr abstrakt und pathetisch klingt, wird in der Verfassung vom 20. Mai 1805 konkreter ausformuliert.

Wie kaum ein anderes Dokument der Zeit stellen Artikel 12 bis 14 der Verfassung Haitis Rassismus und die Geschichte des Kolonialismus in Frage.

»Artikel 12: Kein weißer Mann, ohne Ansehung seiner Nation, darf seinen Fuß auf dieses Gebiet als Herr oder Landbesitzer setzen, noch darf er irgendeinen Besitz erwerben.

Artikel 13: Der vorangehende Artikel bezieht sich nicht auf weiße Frauen, welche die Regierung als haitianische Bürgerinnen eingebürgert hat, und ihre Kinder, auch in der Zukunft. Dies betrifft auch die Deutschen und Polen, welche von der Regierung eingebürgert wurden.

Artikel 14: Weil alle Unterscheidungen der Hautfarbe zwischen den Kindern einer Familie aufhören müssen, werden Haitianer künftig nur noch allgemein (generisch) als Schwarze bekannt sein.«

Nie wieder sollten die BürgerInnen Haitis kolonisiert und versklavt werden. Es ist die erste Verfassung, die nicht nur die Sklaverei verbietet, sondern auch Rassismus zumindest formal aufhebt, indem alle BürgerInnen als Schwarze bezeichnet werden. Einige weiße Frauen—wohl Witwen von ehemaligen Pflanzern—durften ihr Eigentum behalten, wenn sie einen Bürger Haitis heirateten. Deutsche und polnische FreischärlerInnen, die sich im Krieg der Revolution angeschlossen hatten, wurden auch Schwarze Bürger- Innen Haitis. Die Begriffe »weiß« und »schwarz« meinen hier also nicht eine bestimmte Hautfarbe, sondern sind politische Kategorien. Der weiße Mann ist Sinnbild für die Unterdrückung und Grausamkeiten europäischer Expansion in der Form des Kolonialherren und Landbesitzers. Schwarz als imaginierte Kategorie einer Farbe der Haut ist kein Attribut, sondern vermittelt einen Standpunkt, welcher die haitianische Zugehörigkeit und Identität nach der Erfahrung des Kampfes gegen Sklaverei, rassistische Diskriminierung und Kolonisierung bezeichnet. Die Verfassung bezieht »schwarz« und »weiß« nicht mehr auf diverse Pigmentierungen der Haut—obwohl diese den Ausgangspunkt darstellen—,sondern bezeichnet die BürgerInnen Haitis ungeachtet dieser als emanzipierte Schwarze.Anzumerken ist hier jedoch, dass ein Rassismusbegriff, der »schwarz« als festgeschriebene Identitäten setzt, die über die Hautfarbe hinausgehen, in zeitgenössischen Rassismusdiskursen durchaus problematisch ist und die Progressivität eines solchen Konzepts immer vor dem jeweiligen historischen Hintergrund ermittelt werden muss.

Indem zusätzlich in Artikel 14 auf die Kinder verwiesen wird, wird die Verteidigung der Freiheit und Unabhängigkeit als Auftrag für zukünftige Generationen festgeschrieben. Der Absatz, nach dem die »Unterscheidung der Hautfarbe zwischen den Kindern einer Familie« aufhören müsse, kann darüber hinaus als Versuch gelesen werden, den Konflikt zwischen den revolutionären Kreolen, Menschen afrikanischer und europäischer Abstammung, und denjenigen rein afrikanischer Abstammung zu schlichten. Dieser Konflikt zwischen einer relativ privilegierten Schicht von Kreolen gegenüber größtenteils verarmten Abkömmlingen der einstigen SklavInnen durchzieht die haitianische Politik und Geschichte bis heute.

Vom Scheitern und Hoffen—Das Glück der einzelnen Vielen

Wie den nach ihr kommenden Revolutionen blieb auch der Haitianischen die Chance verwehrt, an der praktischen Verwirklichung ihrer eigenen Ideale zu arbeiten. In diesem Fall waren es insbesondere äußere Feinde der Revolution, die es der Nation unmöglich machten, ein Mindestmaß an gesellschaftlichem Reichtum zu gewährleisten. Während die Vereinigten Staaten schnell von europäischen Mächten anerkannt wurden, erkannte Frankreich Haiti erst 1825 als Staat an; die USA im Jahr 1862 unter Lincoln während des Amerikanischen Bürgerkrieges. Um von Frankreich als Nation anerkannt zu werden und um am Welthandel teilzuhaben, musste Haiti Reparationen von 150.000.000 Goldfranc zahlen, um die ehemaligen PlantagenbesitzerInnen zu entschädigen; mit katastrophalen Folgen bis in die heutige Zeit. Die Zahlungen erzeugten eine immense Schuldenlast, die jede ökonomische Entwicklung im ehemals profitabelsten Landstrich der Erde zunichte machte. Das kleine Land entwickelte sich zu einer der ärmsten Regionen der Welt. Der Konflikt zwischen Frankreich und Haiti ist eines der wenigen Beispiele in der Geschichte, in dem eine militärisch siegreiche Partei Reparationszahlungen leisten musste. Oder, wie es Engels und Marx über diese Epoche formulierten: »Sie [die Bourgeoisie] zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen. […] Die ganze geschichtliche Bewegung ist so in den Händen der Bourgeoisie konzentriert; jeder Sieg der so errungen wird, ist ein Sieg der Bourgeoisie.«Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW, 4, 470.

Diese Aussage ist wahr und falsch zugleich. Wahr, weil der Sieg der Revolutionäre von Haiti einen singulären Erfolg darstellte und das Weltgeschehen im globalen Kontext nicht grundsätzlich tangierte. Sowohl in Nord- als auch in Südamerika intensivierte sich die Sklaverei. Kuba, Brasilien und allen voran die Südstaaten der USA bildeten nun die Zentren der auf der Arbeit von SklavInnen basierenden Plantagenwirtschaft. SklavInnen produzierten die Baumwolle für die Spinnereien in England und schufen die Grundlage für die Hegemonie und ökonomische Vormachtstellung der westlichen Welt.

Nicht zutreffend ist diese Aussage, weil es in Haiti eben doch gelang, dass Versklavte sich emanzipierten und als einstiges Schwarzes Kapital ihren Status als Mensch erkämpften. In dieser ersten, paradigmatischen Dekolonisationsbewegung wurde, wie Frantz Fanon schrieb, »das kolonisierte ›Ding‹ Mensch gerade in dem Prozess, durch den es sich befreit. In der Dekolonisation steckt also die Forderung einer vollständigen Infragestellung der kolonialen Situation.«Frantz Fanon, Die Verdammten der Erde, Frankfurt a. M. 1966, 15.

Die Haitianische Revolution war die erste große antikapitalistische Emanzipationsbewegung der Weltgeschichte. In ihr erhoben sich massenhaft diejenigen Menschen, die als ZwangsarbeiterInnen wesentliche Werte der sogenannten ursprünglichen Akkumulation schufen. Bestrebungen post-revolutionärer MachthaberInnen, die Plantagenwirtschaft wieder an die prärevolutionäre Produktivität heranzuführen, scheiterten nicht zuletzt am Widerstand der BürgerInnen Haitis. Diese zogen sich zu zehntausenden in die Berge zurück, wo sie das Leben von emanzipierten KleinbäuerInnen führten.

Aus heutiger Sicht kann die Haitianische Revolution—jenseits der erfolgreichen Selbstbefreiung und Zerschlagung der Plantagenwirtschaft—in vielerlei Hinsicht als gescheitert angesehen werden. Überdauernde patriarchalische Strukturen und Armut der HaitianierInnen zeugen davon. Dennoch erinnert die Haitianische Revolution uns an den historischen Auftrag linker Politik: die Emanzipation der Menschheit. Es braucht ein gemeinsames Narrativ der Emanzipation, welches in der Lage ist, die diversen Erfahrungen der Einzelnen miteinander zu verknüpfen, ohne dass ihre Individualität abhanden kommt. Ein Narrativ, das im kreolischen »Tout moun se moun« (Alle Menschen sind Menschen) anklingt, und auf eine Gleichheit abzielt ohne Einschränkung von Besitz, Hautfarbe, Nation und Geschlecht.

Philipp Hanke

Der Autor veröffentlichte das Buch Revolution in Haiti. Vom Sklavenaufstand zur Unabhängigkeit (2017).