Fatale Ethik

Die Debatte um Peter Singer in der Frauen- und Behindertenbewegung

Seit einigen Jahren nimmt in Deutschland die Mobilisierung selbsternannter Lebensschützer gegen »Abtreibung und Euthanasie« zu.Vgl. hierzu das Buch von Eike Sanders u.a., »Deutschland treibt sich ab«, Organisierter »Lebensschutz«, christlicher Fundamentalismus und Antifeminismus, Münster 2014. In den meisten Städten, in denen »Märsche für das Leben« stattfinden, gibt es mittlerweile eine Gegenmobilisierung. In Berlin sind sogar zwei Gegenbündnisse aktiv; zum einen das linksradikale, antifaschistische und (queer)feministische what the fuck-Bündnis, zum anderen das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung, in dem sich seit 2013 verschiedene Frauen(gesundheits)organisationen, humanistische Gruppen und andere NGOs sowie Parteien organisieren.Das what the fuck-Bündnis lief bis 2011 unter dem Namen »1000 Kreuze in die Spree«, das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung (www.sexuelle-selbstbestimmung.de) entstand aus der 2010 gegründeten AG Sexuelle Selbstbestimmung. Mehrere Gründe haben zur Existenz von gleich zwei Bündnissen geführt, zum Beispiel die unterschiedliche Radikalität der gewählten Aktionsformen und vor allem auch die Uneinigkeit bezüglich eines Themas, das auf eine jahrzehntelange Differenz in der Frauenbewegung verweist: das feministische Verständnis von Selbstbestimmung im Spannungsfeld von Abtreibung und Pränataldiagnostik (PND).Antje Barten hat in der Phase 2.47 einen sehr guten Überblick über die generelle Problematik der pränatalen Diagnostik und der selektiven Abtreibungen gegeben. Während das what the fuck-Bündnis seit Jahren in seinen Aufrufen, auf den Kundgebungen und bei Veranstaltungen selektive Pränataldiagnostik kritisiert, enthält sich das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung jeglicher Stellungnahme dazu. Eine feministische Kritik an den damals noch relativ neuen Gen- und Reproduktionstechnologien gibt es seit Mitte der 1980er Jahre.Vgl. u.a. AK Frauenpolitik der Grünen im Bundestag (Hrsg.), Frauen gegen Gentechnik und Reproduktionstechnik. Dokumentation zum Kongress, Köln 1986. . Der »Kampfbegriff« der Selbstbestimmung, der gegen Fremdbestimmung durch Staat, Gerichte und (Ehe-)Männer gerichtet war, wird dabei weniger als kollektive Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen denn als Möglichkeit zur individuellen Selbstverwirklichung gesehen. Durch die neuen Reproduktionstechniken würden Frauen vielmehr unter zunehmenden Normierungsdruck und Entscheidungszwänge gesetzt. Andere Feministinnen betonten hingegen die Erweiterung der Möglichkeiten, die mit den neuen Techniken verbunden seien. Als problematisch erwies sich in der Debatte zudem, dass individuelle Entscheidungen von Frauen als nicht kritisierbar galten. Dies traf vor allem in den Kampagnen für die Abschaffung des Abtreibungsparagraphen 218 zu, und sollte das Vertrauen zum Ausdruck bringen, das Feministinnen in die Fähigkeiten von Frauen setzten, über ihr Leben selbst zu entscheiden. Eine politische Diskussion über Reproduktionstechniken wurde dadurch allerdings erschwert.

Unter sich als Feminist_innen verstehenden Menschen war es längere Zeit eher still um diesen nie gelösten Konflikt. Mit der zunehmenden Mobilisierung der »Lebensschützer« und den seit einigen Jahren präsenteren juristischen Debatten um PND und Präimplantationsdiagnostik (PID) sind auch die innerfeministischen Konflikte wieder aufgeflammt. Zu den Gruppen im Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung, die an die Möglichkeit autonomer und freier Entscheidungen in unfreien Verhältnissen zu glauben scheinen, gehört auch die Giordano-Bruno-Stiftung (GBS). Deren Beteiligung aktualisiert jedoch einen anderen innerfeministischen Konflikt bzw. einen Konflikt zwischen Frauen- und Behindertenbewegung.Da es veschiedene Selbstbezeichnungen von Menschen mit Behinderung bzw. behinderten Menschen gibt, werde ich– als Nichtbetroffene – diese abwechselnd verwenden. Die Selbstbezeichnung »Krüppel« war in der radikalen Behindertenbewegung der achtziger und neunziger Jahre verbreitet. Die Stiftung hatte dem umstrittenen Bioethiker und Tierrechtler Peter Singer 2011 ihren Ethik-Preis verliehen. Diese Preisverleihung löste heftige Debatten und Proteste aus, da Singer in den 1980er Jahren damit bekannt geworden war, dass er in bestimmten Fällen die Tötung behinderter Säuglinge rechtfertigte. Der Kern von Singers Ethik besteht darin, keine definitorische Grenze zwischen Menschen und Tieren ziehen zu wollen, sondern stattdessen zwischen Wesen und Personen zu unterscheiden. Das Leben von Nicht-Personen, zu denen (auch) behinderte Säuglinge zählen, ist für Singer weniger wert. Wenn es der Vermehrung des Glückes der Angehörigen dient, hält Singer ihre Tötung für legitim. Bestimmte Tiere möchte er hingegen mit Menschenrechten ausstatten. Für dieses Projekt bekam er auch den Ethik-Preis verliehen.

Dieser Zusammenhang wird von der GBS, anderen Singer-Fans und Tierrechtler_innen immer wieder bestritten und stattdessen behauptet, Singer habe die entsprechenden Aussagen längs revidiert. Daher soll im Folgenden ein Blick auf die Geschichte der Debatte geworfen werden, die in den 1990er Jahren ungleich heftiger geführt wurde.

Singers Ethik

Singers Hauptwerk, die Praktische Ethik, erschien zuerst 1979 bei Cambridge University Press und in deutscher Übersetzung 1984 bei Reclam. 2013 ist das Werk in einer überarbeiteten Neuauflage nochmals verlegt worden. Singer erläutert darin die Grundprinzipien seiner ethischen Philosophie, des Präferenzutilitarismus. Utilitarismus ist eine philosophische Haltung, die handlungstheoretisch auf eine gesellschaftliche Nutzenmaximierung zielt. Grundannahme ist hierbei, dass eine objektive Bewertung von individuellem Glück möglich und wünschenswert ist. Die Summe dessen bildet dann den gesellschaftlichen Nutzen. Um diese Bewertung vornehmen zu können, werden angenommene Handlungsfolgen wie Lust- und Glücksgewinn bzw. Leid, Unwohlsein oder Schmerzen gegeneinander abgewogen. Der Utilitarismus orientiert sich dabei nicht an Werten, sondern an empirisch abgeleiteten Normen. Diese Philosophie hinterfragt also nicht die gesellschaftlichen Grundannahmen über Glück und ein gutes Leben, sondern setzt sie als gegeben voraus. Das führt in einer behindertenfeindlichen und behindernden Gesellschaft dazu, in Behinderung eine Glücksreduzierung und Leidvermehrung zu sehen, die es zu vermeiden gilt.

Singers spezifische Form des Präferenzutilitarismus fragt zudem danach, wessen Interessen bei der Ermittlung des größtmöglichen kollektiven Nutzens überhaupt ins Gewicht fallen sollten. Um dies zu bestimmen, trifft er eine Unterscheidung zwischen bloßen Mitgliedern der Spezies Homo sapiens einerseits und Personen andererseits. Personen sind nach Singers Definition Menschen, die rational handeln können, über ein Bewusstsein ihrer selbst in der Zeit verfügen und kommunizieren bzw. Beziehungen knüpfen können.Peter Singer, Praktische Ethik. 3. erw. Aufl., Stuttgart 2013, 141. Ein weiteres wichtiges Kriterium für den Status als Person ist es, zukunftsbezogene Präferenzen zu haben. Manche Tiere, in Singers Diktion »nichtmenschliche Tiere«, sind nach dieser Definition mehr »Person«Er erwähnt u.a. Schimpansen, Gorillas, Schweine, ebd. 174 ff. als manche Menschen, die »bloß bewusstes Leben«Darunter fallen für Singer Neugeborene und »manche geistig Behinderte«, ebd. 160. sind. Diese Ansicht nicht zu teilen und auf einer Unterscheidung zwischen Tieren und Menschen zu bestehen, bezeichnet der Tierrechtler als »Speziesismus«, den er mit Rassismus vergleicht.Ebd., 143. Ein fehlender Personenstatus führt in dieser Logik zu einem verminderten Recht zu leben: »Wie wir gesehen haben, lassen sich wirklich einleuchtende Gründe dafür, einem Wesen ein Recht auf Leben zuzuschreiben, aber nur dann anwenden, wenn in irgendeiner Form ein Bewusstsein von sich selbst als einem in der Zeit existierenden Wesen oder als einem kontinuierlichen geistigen Ich vorhanden ist. […] Diese Schlussfolgerung beschränkt sich nicht auf Säuglinge, die wegen irreversibler geistiger Behinderung niemals rationale, ihrer selbst bewusste Wesen sein werden.« Ebd., 289. Ein Recht auf Leben spricht Singer also sowohl dem behinderten als auch dem »normalen Säugling« ab. Der Grund, warum der eine getötet werden kann oder soll und der andere nicht, liegt woanders: »Am deutlichsten fällt häufig der Unterschied in den Einstellungen der Eltern ins Auge. Die Geburt eines Kindes ist in aller Regel ein glückliches Ereignis für die Eltern. […] Es ist etwas anderes, wenn sich herausstellt, dass der Säugling mit einer schweren Behinderung zur Welt kommt. Natürlich gibt es unterschiedliche Schädigungen. Manche sind geringfügig und haben wenig Auswirkung auf das Glück des Kindes oder seiner Eltern, andere hingegen verwandeln das normalerweise freudige Ereignis der Geburt in eine Bedrohung für das Glück der Eltern und anderer Kinder, die sie vielleicht haben.« Ebd., 290. Unter diesen angenommenen Prämissen führt die Tötung behinderter Babys zu mehr familiärem Glück und wird daher empfohlen. Singer wendet seine logischen Schlüsse auch auf nicht besonders schwer behinderte Babys an, etwa auf Säuglinge mit Trisomie 21 oder Hämophilie (Bluter_innen). Seinen Schlüssen nach ist es besser, ein solches Kind zu töten, vorausgesetzt, die Frau wird erneut schwanger und »ersetzt« somit das behinderte mit einem gesunden Kind: Die »Gesamtsumme des Glücks [ist] größer«Ebd., 292–295. , die Tötung damit gerechtfertigt. Diese Überlegungen erscheinen Singer völlig logisch. Ihm und seinen Verteidiger_innen kommt es anscheinend nicht in den Sinn, wie absurd es ist, für das Leben anderer Leute eine objektive Glücksbilanz aufstellen zu wollen.

Singers Einschätzungen zur Lebensqualität von Menschen mit Behinderung werden von keiner Kenntnis getrübt. Stattdessen zieht er es vor, sich »eindringlich vor[zu]stellen, wir selbst könnten in derselben Situation sein«, um der »richtigen Antwort« näher zu kommen. Ebd., 96. Diese lautet wenig überraschend: Man selbst würde nicht so leben wollen. Was er sich vorstellt, ist Elend und Leiden, dagegen kennt er Abhilfe: »Sterbehilfe«. Diese sei dazu noch viel humaner als das tatsächlich praktizierte »Liegenlassen«Beim »Liegenlassen« handelt es sich um eine Praxis, bei der Neugeborenen mit vermeintlichen Entwicklungsfehlern eine medizinisch notwendige Behandlung verwehrt wird und sie »sterben lässt«. Wie häufig dies praktiziert wird, lässt sich nicht genau sagen. In einer Spiegel-Reportage von 1984 wurde eine Zahl von jährlich 1200 neugeborenen Kindern genannt. Zu den Praktiken des »Liegenlassens« und den Einstellungen der Ärzt_innen vgl. Michael Bentfeld, Zu den Grundsätzen der ärztlichen Sterbebegleitung. In: Christian Mürner u.a. (Hrsg.), Schöne, heile Welt? Biomedizin und Normierung des Menschen, Hamburg/Berlin 2000, 139–151. behinderter Neugeborener: Der Tod gehe schneller vonstatten, sei schmerzfreier und somit angenehmer. Diese wiederkehrende Begründung für seine Tötungsvorschläge, den langsamen, qualvollen Tod durch »Liegenlassen« zu vermeiden, ist an Zynismus nicht zu übertreffen: Sterben müssen sie nun mal, die »Schwerstbehinderten«, daran führt für Singer kein Weg vorbei. Die Idee, sich massiv gegen die Praxis des »Liegenlassens«, für ein Leben in Würde einzusetzen, kommt den selbsternannten Wohltäter_innen dagegen nicht in den Sinn. Dass Singer pränatale Diagnostik und selektive Abtreibungen nach positiven Diagnosen befürwortet, sollte somit nicht überraschen. In der Praxis der Tötung sieht er aber »große Vorteile«Singer, Praktische Ethik, 298. gegenüber diesen unvollkommenen Techniken: »Gegenwärtig haben die Eltern nur dann die Wahl, ob sie behinderte Nachkommen behalten wollen, wenn die Behinderung während der Schwangerschaft entdeckt wird. Es gibt keine logische Grundlage dafür, dass die Wahlmöglichkeit der Eltern auf diese besonderen Behinderungen beschränkt bleibt. Würden behinderte Neugeborenen bis zu einem gewissen Zeitpunkt nach der Geburt nicht als Wesen betrachtet, die ein Recht auf Leben haben, dann wären die Eltern in der Lage, in gemeinsamer Beratung mit dem Arzt und auf viel breiterer Wissensgrundlage in Bezug auf den Gesundheitszustand des Kindes, als dies vor der Geburt möglich ist, ihre Entscheidung zu treffen.« Ebd., 298f.

Die »Wahl der Eltern«, in anderen Worten deren Selbstbestimmung, soll also das ausschlaggebende Kriterium für das Leben eines Kindes sein. Die Einstellung, das Leben mit einer Behinderung, oder mit einem Kind mit Behinderung sei objektiv schlechter als ein Leben ohne, ist zutiefst behindertenfeindlich und ableistisch. Rebecca Maskos, Was heißt Ableism? In: arranca 43 (2010). Zwar ist diese Meinung weit verbreitet, das macht sie jedoch weder richtiger noch besser. Auch die automatische Annahme, das Leben von Menschen mit Behinderung und deren Angehörigen wäre von »Leiden« und »Schmerzen« geprägt, sagt mehr über die Leute aus, die solche Annahmen pflegen, als über das Leben mit einer Behinderung.

Singers versuchte Besuche in Deutschland und die »Euthanasie«-Debatte

1989 lud die »Lebenshilfe für geistig behinderte Menschen«, eine Vereinigung von Eltern kognitiv beeinträchtigter Kinder, Peter Singer nach Marburg ein. Er sollte auf einem Symposium mit dem Titel »Bio-Technik – Ethik– Geistige Behinderung« sprechen, das unter der Schirmherrschaft des Gesundheitsministeriums stand. Die Universität Dortmund hatte Singer ebenfalls eingeladen, um einen Vortrag zum Thema »Haben schwerstbehinderte neugeborene Kinder ein Recht auf Leben?« zu halten. Gegen alle Veranstaltungen, auf denen Singer Ende der achtziger bis Mitte der neunziger Jahre seine Thesen in der Bundesrepublik vorstellen wollte, regte sich erfolgreicher Protest unter dem Motto »Unser Lebensrecht ist nicht diskutierbar«. Gegner_innen von Humangenetik, Zwangssterilisation, »Sterbehilfe«, Bevölkerungspolitik und Gen- und Reproduktionstechnologien fanden sich in lokalen Bündnissen zusammen. Antifa-Gruppen, FrauenLesbengruppen und Behinderteninitiativen riefen gemeinsam zu Protesten auf, psychiatriekritische Initiativen, Studierendenvertretungen und »Krüppelgruppen« protestierten zusammen gegen die Einladungen. Mehrere Erklärungen deutscher Wissenschaftler_innen und Hochschullehrer_innen verurteilten die Proteste. Den Aktivist_innen warfen sie Nazi-Methoden, Emotionalität und Irrationalität, sowie »geistige Intoleranz« und »Fundamentalismus« vor. Im Namen von Meinungsfreiheit, Toleranz und Demokratie forderten sie eine offene Diskussion über Singers Thesen.

Ebendiese Diskussion wollten die Gegner_innen aber verhindern, da diese sich nur darum hätte drehen können, ob und unter welchen Bedingungen behinderte Menschen ein Lebensrecht haben. Die Aberkennung des Lebensrechtes behinderter Menschen sei in einer von Singers Thesen geprägten Debatte prinzipiell eine legitime Position und daher abzulehnen. Kathrin Braun, Kann man über alles reden? Bioethik und demokratischer Diskurs, 175–187 in: Mürner 2000, 178. Die Einladungen Singers nach Marburg und Dortmund stellten für die Aktivist_innen den vorläufigen Höhepunkt der »Euthanasie-Debatte« dar. Diese hatte die Annahme verbreitet und verfestigt, dass Alte, Kranke und Behinderte besser von ihrem »Leiden« »erlöst« werden sollten. Vor allem durch die Berichte vom systematischen »Liegenlassen« beeinträchtigter Babys, die »Einbecker Empfehlungen« von 1986 und durch die Auseinandersetzungen um den Mediziner und »Sterbehelfer« Julius Hackethal wurden solche Positionen verfestigt. In den »Einbecker Empfehlungen« zu den »Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht bei schwerstgeschädigten Neugeborenen« waren 1986 von renommierten Verfassungsrechtler_innen, Mediziner_innen und Theolog_innen erstmals offiziell Empfehlungen zum Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung von Neugeborenen mit Beeinträchtigungen formuliert worden. Die öffentlichen Diskussionen um »Euthanasie« und »Sterbehilfe« erzeugten zusammen mit dem gesellschaftlichen Klima in den neunziger Jahren, das geprägt war von rassistischen Anschlägen und Übergriffen auf Obdachlose und Behinderte, ein beträchtliches und reales Bedrohungsszenario für Menschen mit Behinderung. Der Aktivist und Autor Udo Sierck stellte 1993 eine unübersehbare Tendenz zur »Brutalisierung im Umgang mit Behinderten« fest, sowie ein »lauter werdende[s] Verlangen nach dem Aus-der-Welt-Schaffen von behinderten Menschen«. Die Absurdität der Vorwürfe gegen die Aktivist_innen fasste er folgendermaßen zusammen: »Wenn also diejenigen, die vor fünfzig Jahren umgebracht worden wären, sich heute gegen neue ›Euthanasie‹-Forderungen wehren, sind sie plötzlich die Täter. So einfach ist das in Deutschland 1992.« Udo Sierck, Rowohlt voll im Trend, in: Ders. u.a. (Hrsg.), Tödliche Ethik. Beiträge gegen Eugenik und »Euthanasie«. 2. erw. Aufl., Hamburg 1993, 104–106, hier 105. Die Debatte entzündete sich im folgenden Jahr erneut an der von Rowohlt geplanten Übersetzung des gemeinsam von Peter Singer und Helga Kuhse verfassten Buches »Should the Baby Live? The Problem of Handicapped Infants« von 1985. Nach massiven Protesten zog sich der Rowohlt-Verlag von der Veröffentlichung zurück, das Buch konnte aber unter dem Titel »Muß dieses Kind am Leben bleiben? Das Problem schwerstgeschädigter Neugeborener« im Harald Fischer-Verlag erscheinen. Die »Krüppel«-Aktivistinnen Theresia Degener und Carola Ewinckel fassten das Problem der Beweisführung von Singer und Kuhse so zusammen: »Es ist nicht das Leid des behinderten Menschen, sondern das Leid der Gesellschaft mit Behinderten, der Unwille, Behinderte als gleichwertig zu akzeptieren und gesellschaftliche Bedingungen für ein unbeschwertes behindertes Leben zu schaffen. Diese Probleme sollen durch Ausmerze bewältigt werden.« Theresia Degener/Carola Ewinkel, Sterbehilfe bei behinderten Säuglingen. Zur Kritik an »Helga Kuhse/Peter Singer: Should the Baby Live?«, in: Ebd., 94–104, hier 99 ff.

Die feministische Zeitschrift Emma veröffentlichte 1994 eine ganze Reihe von Tierrechts- und Singerverteidigungsartikeln. In einem Schwerpunkt zu Tierrechten wurde »die Sache der Tiere« zur »Sache der Frauen« erklärt und Tierversuchslaboratorien als »Tier-KZs« gedeutet. Sonja Bork, Tierrechte. Vom Tierschutz zum Tierrecht, in: EMMA Februar 1994. In der nächsten Ausgabe folgte ein mehrseitiger Artikel zu »Freund Singer«, den man »für seinen Vorstoß gegen deutsche Denktabus« »hierzulande mundtot machen« wolle. Die Autorin Cornelia Filter referierte getreulich Singers »gnadenlos logische« Gedankengänge zum Lebensrecht von Tieren, Neugeborenen und Behinderten. Dass er die Tötung behinderter Neugeborener unter bestimmten Bedingungen für legitim hält, fand sie nicht etwa skandalös, sondern »diskutabel«. Die feministische Kritik an pränataler Diagnostik als tendenziell behindertenfeindlich konnte sie hingegen nicht nachvollziehen, da eine solche Kritik das Selbstbestimmungsrecht von Frauen in Frage stelle. Cornelia Filter, Das Affentheater, in: Emma März/April 1994, 68–73. Der große Riss, der an dieser Frage durch die Frauenbewegung ging, wurde an dem »Besuch« einer Gruppe von FrauenLesben in den Redaktionsräumen deutlich, die neben Unrat und zerstörten Arbeitsgeräten Parolen wie »EMMA selektiert« und »Euthanasie ist Gewalt« hinterließen. Eine Dokumentation des in der Redaktion hinterlassenen Flugblattes und anderer Texte gegen die Blattlinie der Emma finden sich in der rundschau. Zeitschrift für Behindertenpolitik 2 (1997), 29–34. Eine Comic-Replik auf diesen Angriff in der nächsten Ausgabe der Emma war mit »StürmerInnen« überschrieben. Franziska Becker, StürmerInnen, in: Emma Juli/August 1994, 59.

Die Verleihung des Ethik-Preises

2011 verlieh die im Bündnis sexuelle Selbstbestimmung mitarbeitende Giordano-Bruno-Stiftung Peter Singer und der italienischen Philosophin Paola Cavalieri ihren mit 10.000 Euro dotierten Ethik-Preis. Geehrt wurden sie für die Initiierung des Great Ape Project, das Menschenrechte für Menschenaffen durchsetzen will. In der Debatte um die Preisverleihung wurden alle Argumente der neunziger Jahre aufs Neue vorgebracht. Der Vorstandssprecher der GBS, Michael Schmidt-Salomon ließ in seiner Verteidigung der Preisvergabe keine Argumente der Kritiker_innen gelten. Die »Anti-Singer-Hysterie« basiere auf einer fehlenden oder missverstandenen Lektüre, die »willkürlich bestimmte Textstellen« herausgreife. Singer sei einer »der bedeutendsten Philosophen weltweit« und gehöre zu den »klarsten und zugleich mitfühlendsten Denker[n] unserer Zeit«. Da Singer es außerdem mit seiner Philosophie ausdrücklich vereinbaren könne, für Behinderte (also nicht Neugeborene) mehr öffentliche Mittel zur Verfügung zu stellen als für andere Menschen, sei er in Wirklichkeit ein »Behindertenfreund«.Michael Schmidt-Salomon, Zur Debatte um Peter Singer. Stellungnahme, 26.05.2011, http://0cn.de/4ym1. Diese Verteidigung Singers zeigt, dass die GBS den Protest und die Argumente von Menschen mit Behinderung nicht ernst nimmt. Stattdessen beharrte die Stiftung darauf, einem Philosophen, der das Lebensrecht (mancher) Tiere höher bewertet als das Lebensrecht (mancher) Menschen, ihren Ethik-Preis zu verleihen.

Die Proteste gegen die »Lebensschützer«

Abtreibungsgegner_innen fokussieren seit einiger Zeit ihre Gegnerschaft nicht mehr ausschließlich auf Abtreibung, sondern äußern sich auch ablehnend zu aktuellen Themen wie Präimplantationsdiagnostik, Abtreibungen nach Pränataldiagnostik und »Sterbehilfe«. Damit erweitern sie ihr Themenfeld, versuchen eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz zu erreichen und sich als Vertreter_innen der Interessen von Menschen mit Behinderung darzustellen.

In dieser Situation stellen sich für die Organisator_innen der Proteste gegen die »Lebensschützer_innen« verschiedene Fragen bezüglich der strategischen Ausrichtung und inhaltlichen Schärfung der Mobilisierungen. Wenn eine größtmögliche inhaltliche Gegensätzlichkeit zu den »Lebensschützer_innen« angestrebt wird, ist die Kernbotschaft der »sexuellen Selbstbestimmung« folgerichtig. Dann wäre auch die Teilnahme der GBS, die Behinderung ständig mit »Leiden« in Verbindung bringt und PID und »Sterbehilfe« im Namen der individualisierten selbstbestimmten Entscheidung offensiv befürwortet, durchaus nachvollziehbar.

Wenn aber ein Ziel der Proteste ist, die Instrumentalisierung behindertenpolitischer und biopolitischer Themen durch die Abtreibungsgegner_innen zu bekämpfen und stattdessen zusammen mit Menschen mit Behinderung gegen die Propaganda der »Lebensschützer_innen« vorzugehen, ist die Teilnahme der GBS völlig unangemessen. Selbstbestimmung über das eigene Leben entpuppt sich in neoliberalen Verhältnissen allzu oft als Selbstoptimierung und individualisierte Anpassung an die herrschenden Zwänge. Nötig ist eine Debatte um emanzipatorische feministische Positionen zu Behinderung, pränataler Diagnostik, selektiven Schwangerschaftsabbrüchen und der Bedeutung und der Möglichkeit von selbstbestimmten Entscheidungen.

Diese Auseinandersetzung sollte nicht aus Angst vor Konflikten vermieden werden. Gerade durch die wachsende Mobilisierung wertkonservativer Kräfte, sei es bei den »besorgten Eltern«, den »Demos für Alle« oder den »Märschen für das Leben«, ist die Versuchung groß, alle Gegner_innen unter dem Label der Selbstbestimmung sammeln zu wollen. Die konservativen Kräfte tatsächlich zurückzudrängen, kann aber viel eher mit einer differenzierten und nicht-ausschließenden Position gelingen, die die Zusammenarbeit von feministischer und Behindertenbewegung ermöglicht.

Kirsten Achtelik

Die Autorin ist Journalistin und engagiert sich gegen Abtreibungsgegner_innen und die Ausweitung pränataler Diagnostik. Der Artikel ist ein gekürzter Auszug aus ihrem Buch Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung, das demnächst im Verbrecher Verlag erscheint.