Die Flucht nach Brüssel

Über Instrumente und Interessen der Migrationskontrolle

Wer Widerstand gegen die »Festung Europa« organisieren will, muss sich zuallererst von diesem Begriff verabschieden, um die migrationspolitischen Interessen der EU-Mitgliedstaaten ins Auge zu fassen. Denn mit der Migrationspolitik der einzelnen EU-Staaten verhält es sich wie mit dem Teufel. Dessen größter Trick war es, die Welt glauben zu lassen, es gäbe ihn nicht. Und was für den Teufel gut ist, ist für Migrationspolitik, wie sie in der Europäischen Union verfolgt wird, nur recht und billig. Dass hier nicht von »der europäischen Migrationspolitik« die Rede ist, wie es das Bedürfnis nach sprachlicher Einfachheit nahelegen würde, sondern eine kompliziertere Konstruktion zur Anwendung kommt, hat seinen Grund in einer ähnlichen Verschleierung, wie sie auch der Teufel dem Sprichwort zufolge betreibt. Wer nach politischer und damit letztlich auch gesellschaftlicher Verantwortung für die Toten an den Außengrenzen der Europäischen Union sucht, wird letztlich mit einem Zurechnungsproblem konfrontiert, das kennzeichnend für den Prozess der Europäischen Integration ist: Die Nationalstaaten verschwinden hinter dem Projekt Europa, ohne sich aufzulösen.

Mit der Kommission und dem Europäischen Gerichtshof entstanden neue Institutionen, die vormals ausschließlich dem nationalen Rahmen vorbehaltene Funktionen auf supranationaler Ebene erfüllen. Auf die Entwicklungen an den Außengrenzen der EU bezogen muss deshalb nach den politischen AkteurInnen und gesellschaftlichen Entwicklungen gefragt werden, die diesen Prozess vorantreiben und von ihm profitieren. Das ist Voraussetzung antirassistischer Praxis, weil sich die Ebenen, auf denen politische Interventionen möglich sind bzw. wirksam werden können, nicht unabhängig von den zugrunde liegenden Triebkräften bestimmen lassen. So zeigt sich zwar der Charakter von Migrationspolitik vor allem an der Grenze, aber sie ist das Produkt politischer Auseinandersetzungen, die ihren Ort weitab von der Grenze haben.

Beim Thema Grenz- und Migrationskontrolle die Verantwortung der EU zu hinterfragen, ist jedoch alles andere als selbstverständlich. Gute Gründe sprechen dafür, genau dort die relevanten Strukturen zu verorten. Schon der rechtliche Rahmen für Grenzkontrollen zählt seit dem Vertrag von Amsterdam zum EU-Primärrecht. Das Primärrecht ist das ranghöchste Recht der EU. Es umfasst im Wesentlichen die Verträge zur Gründung der EU. Diese Verträge enthalten sowohl Vorschriften, die den Rahmen für die Umsetzung der verschiedenen Politiken der Gemeinschaften und der Europäischen Union durch die Organe und Institutionen der EU abgeben. Formalrechtliche Vorschriften bestimmen die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten und regeln die Befugnisse der Organe. Materiellrechtlichen Vorschriften definieren die Politikbereiche und bestimmten die Tätigkeit der Organe innerhalb dieser Bereiche. (nach: europa.eu/legislation_summaries/institutional_affairs/decisionmaking_process/l1430_de.htm) [Anm. d. Red.] Darüber hinaus hat sich mit der Entstehung von FRONTEX eine Gemeinschaftsagentur herausgebildet, die auch die Durchführung dieser Kontrollen in zunehmendem Maße bestimmt. Und zu guter Letzt sind es nicht Grenzen zwischen den EU-Mitgliedstaaten, an denen sich der Exklusionscharakter von Migrationspolitik manifestiert, sondern jene zwischen EU-Mitgliedern und Drittstaaten. Damit ist jedoch noch nichts darüber gesagt, wie sich eigentlich das Abschottungsmotiv zum institutionellen und rechtlichen Gerüst der EU verhält. Diese Frage lässt sich prinzipiell auf zweierlei Art beantworten: Entweder ist Abschottungspolitik ein aus dem europäischen Integrationsprozess selbst hervorgehendes Produkt und damit tatsächlich etwas wesentlich Europäisches, das sich erst im Zuge der Europäischen Einigung herstellt, oder aber bereits existierende rassistische Ideologien und Interessen schreiben sich in die europäischen Institutionen ein, wodurch diese zu einem Instrument einer auf Ausschluss und Steuerung zielenden Migrationspolitik werden. Das lässt sich jedoch nur entscheiden, wenn der Deckel von der »Black Box« Brüssel genommen wird und so die an den politischen Entscheidungen beteiligten Institutionen sowie ihre Interessen in den Blick geraten. Immerhin gilt auch für die Einreisekontrolle und, eng damit verflochten, die Migrationssteuerung, dass sie auf der nationalen wie auf der europäischen Ebene vorgenommen werden. Da aber zwischen beiden Ebene weder ein Verhältnis der gegenseitigen Ergänzung noch der Harmonie vorausgesetzt werden kann, muss die Analyse notwendigerweise über die begriffliche Klammer »Europäische Union« hinausweisen.

Wer zieht eigentlich die europäische Grenze?

Bei einem Blick auf das institutionelle Gefüge der Europäischen Union lässt sich grundsätzlich zwischen den Strukturen unterscheiden, in denen nationale Interessen vertreten werden (allen voran dem Ministerrat), und den Strukturen, die völlig frei von derartigen gesellschaftlichen Rückbindungen agieren können. Das Paradebeispiel für den zweiten Fall ist die Europäische Kommission. Zwar wird sie regelmäßig als eine Art Regierung der Europäischen Union dargestellt, diese Vorstellung verschleiert aber den Umstand, dass die Kommission vor allem als political entrepreneur, also als selbstständige Unternehmerin in politischen Angelegenheiten, agiert. Politische Inhalte interessieren sie so wie KapitalistInnen der Gebrauchswert, nämlich unter dem Aspekt der Gewinnmaximierung. In diesem Sinne hat die Kommission mehr mit Wirtschaftsunternehmen gemein als mit nationalstaatlichen Regierungen. Zwar betreibt die Kommission nicht die Verwandlung von Arbeit in Mehrwert, aber sie investiert ihre politischen Zuständigkeiten in die Akkumulation von Kompetenzen. Ob es sich dabei um die Dienstleistungsrichtlinie, die Liberalisierung des Telekommunikationsbereichs oder eben den Bereich der Inneren Sicherheit handelt, ist für die Kommission nur von zweitrangiger Bedeutung und hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt interessant, ob die Interessenkonstellation zwischen den anderen beteiligten Akteuren, die aktuelle Problemlage sowie die primärrechtlichen Voraussetzungen eine Investition in diese Politikbereiche zum gegenwärtigen Zeitpunkt als lohnend erscheinen lassen. Insofern ist auch die community method, also die Integration eines Politikbereichs in den Gemeinschaftsbestand, das Mittel der Wahl so ziemlich jedes Kommissionspapiers.

Konsequenterweise ist die Haltung der EU-Kommission gegenüber der Außengrenze nicht durch das Ziel der Abschottung, sondern der Herstellung von Vertrauen bestimmt. Das gilt vor allem für die Staaten, die keinerlei Grenzkontrollen mehr durchführen, also Deutschland, Österreich, die Beneluxländer, Tschechien, Frankreich Aus geografischen Gründen spielt die französische Mittelmeerküste in diesem Zusammenhang nur eine geringe Rolle. sowie Großbritannien – das europäische Zentrum, das von den armen Nachbarn der EU durch einen Ring anderer EU-Staaten getrennt ist. Sie sollen sicher sein können, dass die Außengrenze gemäß ihrer Vorstellungen kontrolliert wird, da sie nur unter dieser Bedingung von einer Wiederaufnahme eigener Grenzkontrollen absehen. Das Schengener Abkommen gibt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, sollte die Sicherheit anders nicht gewährleistet werden können, Grenzkontrollen wieder aufzunehmen. Der Wegfall interner Kontrollen ist jedoch die Voraussetzung dafür, dass die Kommission überhaupt Zuständigkeiten auf dem Gebiet der Grenzkontrollen erhält. Insofern ist sie an einer Effektivierung des Kontrollregimes interessiert, um ihre eigene Position nicht zu gefährden. Entsprechend besteht das Hauptziel der Kommission darin, die Wiedereinführung von Grenzkontrollen zwischen den EU-Mitgliedstaaten zu verhindern. Nur zu diesem Zweck widmet sie sich dem Bereich Grenzsicherheit und der Bekämpfung irregulärer Migration. Es besteht also ein Zusammenhang zwischen internem Grenzabbau und Verschärfung der Kontrollen an der Außengrenze.

Ihre Sorge um die EU-Außengrenze teilt die Kommission mit den Mitgliedstaaten am Rand der EU. Allerdings sind dort die Motive ganz anders gelagert. Für die östlichen Regionen Polens, der Slowakei und Ungarns brachte die Einführung von Grenzkontrollen nach Schengen-Standards eine empfindliche Verschlechterung der Lebensbedingungen. Zwischen 1990 und dem Beginn der Vorbereitungen für den EU-Beitritt herrschte beispielsweise zwischen Polen und seinen östlichen Nachbarstaaten visafreier Reiseverkehr. Grenzüberschreitender Handel stellte eine der wichtigsten Einnahmequellen der lokalen Bevölkerung dar und auf politischer Ebene leistete (und leisten) die organisierten VertreterInnen der ukrainischen Minderheit Lobbyarbeit für offene Grenzen, sprich: ein möglichst liberales Visa- und Kontrollregime. Insofern mussten die durch die Verschiebung der EU-Außengrenze nach Osten ausgelösten Einschnitte ausgeglichen werden. Die Kompensation bestand vor allem in der Aussicht auf Zugang zum westeuropäischen Arbeits- und Dienstleistungsmarkt sowie dem Wegfall der Grenzkontrollen. Dass die Verschärfung der Grenzkontrollen vor dem Beitritt zur EU und zum Schengenraum erfolgte, widerspricht nicht dieser Logik. Vielmehr handelt es sich um zu erbringende Vorleistungen, während gleichzeitig das europäische Zentrum versucht, den Preis um den Zugang zu den westlichen Arbeitsmärkten zu drücken. Damit stehen aber auch diese Regierungen unter dem Erwartungsdruck ihrer Bevölkerung, alles zu tun, um die Wiederaufnahme von Grenzkontrollen zu verhindern. Folglich haben sowohl die Kommission als auch die EU-Staaten des äußeren Rings ein instrumentelles Verhältnis zu den Kontrollen an der EU-Außengrenze. Ihr Ziel ist nicht die Abschottung um ihrer selbst willen. Die Staaten am Rand der EU wollen vielmehr nicht selbst ausgeschlossen werden. Auch die Kommission betreibt Abschottung nicht um ihrer selbst willen, sondern zur Sicherung und zum Ausbau ihres Zuständigkeitsbereichs. Da es jedoch, genauso wie für Kapitalwachstum, für die Akkumulation von Kompetenzen keine natürliche Wachstumsgrenze gibt, jagt ein Strategiepapier das nächste und für jeden im Ministerrat präsentierten Vorschlag für ein neues Überwachungssystem liegen bereits zwei neue in irgendwelchen Schubladen.

In inhaltlicher Hinsicht setzten sich die EU-Strategien zur Migrationskontrolle aus drei Komponenten zusammen, dem global approach on migration,  Vgl. Commission of the European Communities, Priority actions for responding to the challenges of migration. First follow-up to Hampton Court, COM(2005) 621 final, Brüssel 30.11.2005; dies., The Global Approch to Migration one year on. Towards a comprehensive European migration policy, COM(2006) 735 final, Brüssel 30.11.2006. Überlegungen zu integrated border management Vgl. dies., Towards Integrated Management of the External Borders of the Member States of the European Union, COM(2002) 233 final, Brüssel 7.5.2002; dies., Preparing the next steps in border management in the European Union, COM(2008) 69 final, Brüssel 13.2.2008. Die Europäische Grenzschutzagentur FRONTEX, bis jetzt im Zentrum der medialen und politischen Aufmerksamkeit, stellt nur eine besonderen Teil der Umsetzung der hier entwickelten Strategien dar. sowie der Europäischen Nachbarschaftspolitik mit ihren jeweiligen regionalen Schwerpunkten. Vgl. dies., European Neighbourhood Policy. Strategy Paper, COM(2004) 373 final, Brüssel 12.5.2004; dies., Eastern Partnership, COM(2008) 823 final, Brüssel 3.12.2008. Während im Rahmen des global approach allgemeine, langfristige Überlegungen zur prinzipiellen Steuerbarkeit von Migration angestellt werden, formulieren die beiden letztgenannten Ansätze Konzepte zur Umsetzung dieser Strategien. Das Entscheidende an diesen Ansätzen ist das Eingeständnis, dass Migration ein Prozess ist, dessen Formen zwar beeinflusst werden soll, der aber weder verhindert werden kann, noch soll. Deshalb schlägt die Kommission vor, legale Zuwanderungsmöglichkeiten auszubauen, und verfolgt gleichzeitig einen umfassenden Ansatz zur Bekämpfung illegaler Migration. Dabei ist die Sichtweise der Kommission auf illegale Migration durch ein ihr eigenes Verständnis gekennzeichnet. Da sie davon ausgeht, dass Migration stattfindet, ob sie nun politisch gewollt ist oder nicht, schlägt sie zur Bekämpfung illegaler Migration eine drastische Ausweitung legaler Migrationsmöglichkeiten vor, die aber selbstverständlich auf EU-Ebene geregelt werden soll. Die Haltung, mit der sie den Mitgliedstaaten im Ministerrat entgegentritt, folgt der Logik: »Wenn Ihr keine illegale Migration haben wollt, gebt uns die Möglichkeit, über Migration auf EU-Ebene zu entscheiden.«

In Kombination mit effektivierten Grenzkontrollen und außerterritorialen Maßnahmen soll so illegale Migration weitestgehend reduziert werden. So verspricht sich die Kommission von der Unterstützung von schwachen Staaten (failing states) bei der Durchführung eigener Grenzkontrollen, dass aus EU-Sicht illegale MigrantInnen bereits gestoppt werden, bevor sie überhaupt in die Nähe eines EU-Mitgliedslands kommen. Zu diesem Zweck wird der »Kampf gegen illegale Migration« zum üblichen Bestandteil von Entwicklungshilfe ausgebaut. Je näher mögliche MigrantInnen der EU kommen, desto engmaschiger soll das angestrebte Kontrollnetz werden. Die höchste Kontrolldichte soll dann im Bereich der unmittelbaren EU-Nachbarstaaten erreicht werden, weshalb im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik die Kooperation in Grenzschutzangelegenheiten zum wichtigsten Bestandteil sicherheitspolitischer Zusammenarbeit erklärt wird.

Für die eigentlichen Grenzkontrollen der EU verfolgt die Kommission vor allem eine Strategie der Effektivierung, die einerseits zur Vermeidung nationaler »Schwachstellen« eine stärkere Integration des Kontrollsystems zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten vorsieht – hier hat, jenseits aller öffentlichkeitswirksamen Aktionen, die Grenzschutzagentur FRONTEX einen ihrer Schwerpunkte –, andererseits mittels des verstärkten Einsatzes elektronischer Datenbanken einen beschleunigten Grenzübertritt für »vertrauenswürdige« Reisende vorsieht und gleichzeitig den »Missbrauch« von Visa – das sogenannte visa-overstaying – zuverlässiger verhindert.

Alle diese Maßnahmen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Unterscheidung zwischen legaler und illegaler Migration nicht auf EU-Ebene getroffen wird. Die Vorschläge der Kommission, Zuwanderungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene einzuführen, werden im Ministerrat konsequent abgelehnt. EU-weit werden lediglich die Voraussetzungen für kurzfristige Visa, sogenannte Schengen-Visa, festgelegt. Außerdem wird Sorge dafür getragen, dass diese nicht zum Zweck eines längeren Aufenthalts verwendet werden. Alles, was darüber hinaus geht, also langfristige und unbefristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisse, legen die Mitgliedstaaten jeweils für sich und in Eigenregie fest. Aus migrantischer Perspektive stellen Schengen-Visa jedoch nur die schlechteste aller Möglichkeiten dar, die EU-Außengrenze legal zu überqueren.

Wer bleiben darf, wird (neben den geringer werdenden Möglichkeiten, als Flüchtling anerkannt zu werden) durch die Migrationspolitik der Mitgliedstaaten festgelegt. Insofern wird die Unterscheidung zwischen legaler und illegaler Migration durch die Vergabe von Aufenthaltstiteln nach nationalen Kriterien getroffen. Die EU-Ebene dient somit lediglich der Durchsetzung von Maßnahmen, die aus dieser Unterscheidung folgen. Damit ist aber auch bereits das Interesse der kerneuropäischen Staaten benannt. Ihnen geht es primär um die Fähigkeit, Migration zu steuern. Das bedeutet vor allem, sicher zu stellen, dass nur erwünschte Migration stattfindet. Genau aus diesem Grund blockieren die Mitgliedstaaten die Bemühungen der Kommission um eine Europäisierung der Migrationspolitik. Entsprechend gilt für die deutsche Position im Ministerrat der Grundsatz, dass die Entscheidungshoheit über Zuwanderungs- und Arbeitskontingente in Berlin und nicht in Brüssel liegt.

Die Grenzen der Migrationskontrolle

Die politische Steuerung von Migration findet in einem fein austarierten Spannungsfeld zwischen ökonomischen und demografischen Interessen statt, die wiederum mit einem weitverbreiteten Rassismus vermittelt werden müssen. So orientiert sich die Vergabe von Arbeitserlaubnissen an den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts, um beispielsweise Fachkräftemangel in bestimmten Bereichen auszugleichen. Hinzu kommen langfristige demografische Erwägungen, die das oft beschworene Kippen der Bevölkerungspyramide betreffen. Alternde Gesellschaften werden als Bedrohung des Sozialstaats betrachtet, da auf eine Rentnerin bzw. einen Rentner zu wenige BeitragszahlerInnen kommen. Deshalb gilt eine gezielte Migrationspolitik als Mittel, einerseits einer Überalterung der Bevölkerung entgegenzusteuern und gleichzeitig den Bedarf an FacharbeiterInnen und ungelernten, billigen Arbeitskräften zu befriedigen. Dazu müssen die entsprechenden Quoten jedoch mit dem Bedarf abgestimmt werden.

Gleichzeitig müssen diese biopolitischen Erwägungen mit einer Mischung aus gewerkschaftlichen Interessen an einer Verknappung des Arbeitsangebots und einem leicht mobilisierbaren Rassismus seitens der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung vermittelt werden – erwähnt seien für Deutschland nur die »Kinder statt Inder«-Kampagne von Jürgen Rüttgers oder die breite Zustimmung zu Thilo Sarrazins Äußerungen über »unproduktive Ausländer«. Der politisch erwünschten Migration liegt damit ein labiles Gleichgewicht gegensätzlicher Interessen zugrunde: Migration ist einerseits eine sozial- und arbeitsmarktpolitische Notwendigkeit, die aber andererseits auf weitgehende gesellschaftliche Ablehnung stößt. Erst aus diesem labilen Gleichgewicht erklärt sich das Interesse Deutschlands (und anderer EU-Mitgliedstaaten) an der Steuerung von Migration.

Tatsächlich kommen aber mehr Menschen in die EU als angestrebt. Und vor allem kommen nicht nur solche, die den Vorstellungen der Bundesagentur für Arbeit und des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge entsprechen (von den Maßstäben der Bevölkerung ganz zu schweigen).

Genau diese Diskrepanz zwischen erwünschter und tatsächlicher Migration mobilisiert die politischen Energien, Migrationskontrolle zu effektivieren. Ob diese Kontrollen im nationalen Rahmen überhaupt durchführbar sind, ist in der Migrationsforschung stark umstritten. Vgl. Wayne A. Cornelius, Philip L. Martin und Jame F. Hollifield (Hrsg.), Controlling Immigration. A Global Perspective, Stanford 1994; Gary P. Freeman, Can Liberal States control Unwanted Migration? In: The Annals of the American Academy of Political and Social Science, 534 (1994), 655–678; Virgine Guiraudon, De-nationalizing control. Analyzing state responses to constraints on migration control, in: Dies. und Christian Joppke (Hrsg.), Controlling a New Migration World, London 1994, 31–56. So sorgen humanitäre Verpflichtungen in Verbindung mit einer sich ausweitenden Rechtsprechung dafür, dass MigrantInnen, so sie einmal das Territorium eines bestimmten Staates erreicht haben, oftmals ihr Aufenthaltsrecht einklagen können. Diverse Antira- und (meist kirchliche) Flüchtlingsinitiativen tun ihr Übriges, Selbstverständlich bleiben diese Maßnahmen hinter den Erwartungen der Antira zurück. Aus staatlicher Sicht sind aber bereits vereinzelte Aktionen wie ein Kirchenasyl oder die Besetzung der Göttinger Ausländerbehörde Mitte Januar zu viel. damit die Zahl tatsächlich durchgeführter Abschiebungen von MigrantInnen ohne rechtlichen oder geduldeten Status weit hinter den Wunschvorstellungen der Ausländerbehörden zurückbleiben. Daneben ist auch eine Einschränkung des Familienzuzugs nur unter hohen politischen Kosten durchzusetzen. So kommen zur politisch erwünschten Migration noch diverse andere Formen der Einwanderung hinzu.

In den letzten Jahren haben sich jedoch neue staatliche Techniken herauskristallisiert, diese Handlungsbeschränkungen zu umgehen, indem Kontrollaufgaben an andere Instanzen delegiert werden. So entscheiden mittlerweile verstärkt regionale und kommunale Instanzen über die Duldung von MigrantInnen ohne legalen Status. In Deutschland sind dies vor allem kommunale Ausländerbehörden. Noch stärker kommt diese Praxis in den USA zum Einsatz, wo das kommunale Organisationsprinzip der Sheriffsbüros eine Delegation dieser Tätigkeiten auf die substaatliche Ebene ermöglicht. Darüber hinaus werden Kontrollaufgaben privatisiert. Transportgesellschaften werden verpflichtet, die Reisedokumente ihrer Passagiere zu überprüfen. Gerade durch diese Praxis wird es möglich, die Einreise über den Luftweg genau zu steuern. Wer nicht erwünscht ist, erhält kein Visum und kein Flugunternehmen kann es sich leisten, jemanden ohne entsprechende Papiere in die EU zu transportieren. Zum anderen ist mittlerweile das sogenannte sponsoring zur verstärkten Praxis geworden, indem »Gastgeber«, wie Forschungseinrichtungen oder Privatpersonen, dazu verpflichtet werden, das gesetzmäßige Verhalten der von ihnen »Eingeladenen« zu überwachen, da sie andernfalls die Kosten der Abschiebung tragen müssen. Und zu guter Letzt werden Kontrollaufgaben an internationale Organisationen oder Drittstaaten abgegeben.

Während die Delegation an untergeordnete administrative Instanzen den politischen Widerstand gegen Abschiebungen und restriktive Kontrollpraxen umgehen oder zumindest zersplittern soll, dienen Individualisierung und Auslagerung von Kontrollen hauptsächlich dem Ziel, unerwünschte MigrantInnen vom Erreichen des Territoriums abzuhalten und so die Möglichkeit, einen Aufenthaltstitel juristisch einzuklagen, gar nicht erst zu eröffnen. Während die erste Methode der EU verwahrt bleibt, da sie eine Übertragung polizeilicher Kompetenzen an die EU voraussetzt, was die Mitgliedstaaten mit allen Mitteln zu verhindern suchen, werden Individualisierung und Auslagerung vor allem im juristischen und institutionellen Gerüst der EU vorangetrieben. Entsprechend laufen zahlreiche Voraussetzungen für ein Schengen-Visum auf die beschriebene Auslagerung der Kontrollverantwortung an nichtstaatliche Akteure hinaus. Wenn die Herstellung von Steuerungsfähigkeit jedoch bedeutet, Kontrolle auf dem Territorium anderer Staaten durchzuführen, dann erreichen die kerneuropäischen Staaten dies vor allem dadurch, dass sie Grenzkontrollen nicht mehr selbst durchführen, sondern diese Aufgaben an andere EU-Mitglieder abgeben.

Die Europäisierung der Migrationskontrolle ist dagegen nur teilweise als politisches Programm formuliert, größtenteils ergibt sie sich für die Staaten des europäischen Kerns als Resultat vorangegangener Erweiterungsrunden. Den Dubliner Übereinkommen zufolge ist der EU-Mitgliedstaat zur Durchführung des Asylverfahrens verpflichtet, in dem ein Flüchtling zuerst europäischen Boden betritt. Das bedeutet in der Konsequenz, dass die Benelux-Länder, Deutschland, Österreich und Tschechien auf dem Landweg nicht mehr für Flüchtlinge erreichbar sind. Die direkte Einreise mit Schiff und Flugzeug ist ihnen nur möglich, falls sie vorher ein Schengen-Visum erhalten haben, bzw. aus Ländern kommen, die von der Visa-Pflicht befreit sind. Eine der Voraussetzungen für die Befreiung von der Visa-Pflicht ist jedoch, dass das Herkunftsland ein Rückführungsabkommen mit der EU unterzeichnet hat. Und ein Visum erhält nur, wer, neben anderen Voraussetzungen, genügend Geld für seinen Aufenthalt in der EU sowie entsprechende BürgInnen vorweisen kann. Damit ist eine legale Einreise in den europäischen Kern als Flüchtling so gut wie unmöglich. Was bleibt, ist die illegale Einreise, die jedoch zunehmend erschwert wird, da die europäischen Randstaaten als Bollwerk gegen unerwünschte Migration in den wohlhabenden Kern ausgebaut werden. Geplant sind beispielsweise auch finanzielle Sanktionen gegen die EU-Staaten, durch die illegale MigrantInnen in andere EU-Staaten gelangen. Diese wiederum geben die Exklusionsaufgabe zunehmend an ihre Nachbarstaaten weiter, mit bekannten Konsequenzen.

Damit verändert sich jedoch das Bild. Die Toten an der Außengrenze der EU gehen nicht mehr auf das Konto Brüssels, sondern sind ein Produkt des vor allem deutschen und kerneuropäischen Interesses, die EU als ein Instrument auszubauen, mit dem die eigene Fähigkeit, Migration zu steuern, effektiviert werden kann. In der historischen Abfolge stehen damit die Lager auf Lesbos, die Toten am Mittelmeer und der Zusammenbruch des griechischen und maltesischen Asylsystems am Endpunkt einer Entwicklung, die mit dem Zuwanderungsstopp in den siebziger Jahren begann und über die Abschaffung des Asylrechts, das zwischenzeitlich die wichtiges Migrationsmöglichkeit darstellte, sowie die Einschränkungen des Familiennachzugs die EU zum zentralen migrationspolitischen Instrument machte.

Eine politische Entscheidung

Mit dem, was die EU macht, haben die kleinen Leute auf der Straße nichts zu tun. Völlig losgelöst ist das, was in Brüssel passiert, von den Problemen der Menschen, weltfremde BürokratInnen in hässlichen Bürotürmen entwickeln Richtlinien, die niemand braucht. So in etwa betrachtet die Mehrheit der Deutschen die EU. Gleichzeitig betreiben die nationalen Regierungen ihr Zwei-Ebenen-Spiel relativ erfolgreich. Für alle unpopulären Maßnahmen verweist man auf Brüssel, während man sich bei Geschenken an die Bevölkerung »in Brüssel durchsetzen konnte«. Für die Mehrheit der Leute bedeutet – trotz regelmäßiger Berichterstattung über die Zustände in griechischen oder italienischen Flüchtlingslagern – die Europäische Union vor allem als eines: Intensivierung der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Dank Brüssel müssen »wir« jetzt auch noch mit polnischen Klempnern konkurrieren und in vier Jahren RumänInnen und BulgarInnen reinlassen. Dagegen ist das, was auf Lesbos und im Mittelmeer passiert, weit weg und hat nichts mit dem eigenen Ressentiment zu tun. Insofern steht antirassistische Politik vor der Aufgabe, die Verbindung zwischen den Zuständen an der EU-Außengrenze und dem gesellschaftlichen Rassismus herzustellen. Andernfalls begibt man sich in Gefahr, mit der EU einer politischen Struktur ein Abschottungsinteresse zu unterstellen, ohne in Rechnung zu stellen, dass diese Struktur auf dem Bereich der Migrations- und Flüchtlingspolitik ebenfalls für ein Zwei-Ebenen-Spiel genutzt wird. Interessen werden dort verfolgt, wo sie der öffentlichen Kritik entzogen werden, oder noch besser, sich diese Kritik an anderen abarbeitet.

Wieso aber Nachfrage nach Technologie zur Migrationskontrolle überhaupt entsteht, kann mit einem Blick auf die Grenze selbst nicht erfasst werden. Insofern gilt es, die Verbindung zur nationalen Migrationspolitik herzustellen. Sonst bleibt nur, die Kritik nach Brüssel zu tragen, wo sie von der Kommission wirkungslos abperlt – nicht etwa, weil es den Kommissionsbeamten egal wäre, was im Mittelmeer passiert, sondern weil alle Vorschläge zur Ausweitung legaler Zuwanderungsmöglichkeiten, Liberalisierung von Grenz- und Visabestimmungen sowie Reform der Dublin-Bestimmungen am Widerstand der Mitgliedstaaten und hier vor allem am Widerstand Deutschlands scheitern.

~Von Andreas Müller. Der Autor war lange Zeit Redakteur der Phase 2 und forscht gegenwärtig an der Universität Bremen zur Exterritorialisierung von Migrationskontrollen.